Читать книгу: «In meinem Herzen nur du», страница 4

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Finn schaute auf seine Uhr. »Mitternacht ist schon rum. Schätze, da ist was schiefgegangen mit deiner Verwandlung.«

Er setzte sich neben sie, so dicht, dass sich ihre Beine berührten. Vom Meer kroch eine feuchte Kühle herauf, und Greta fand es nicht nur aufregend, Finns Wärme zu spüren, sie war auch dankbar dafür.

Schweigend saßen sie so da, sich der Nähe des anderen auf eine aufwühlende, verlegene Weise bewusst. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund und auf der Straße oberhalb des Heims fuhr ein Auto vorbei. Sonst war es still.

Greta war es, die diese Stille endlich durchbrach.

»Ich dachte, du findest mich eingebildet.«

»Und ich dachte, du willst nichts mit mir zu tun haben.«

Sie wagte nicht, ihn anzusehen. »Das war doch nur, weil meine Eltern mir den Umgang mit dir verboten haben.«

»Was?« Er klang bestürzt.

»Ja.« Greta räusperte sich. »Damals schon, nach dem Unfall am Todesberg.« Sie schämte sich auf einmal, weil sie Eltern hatte, die so unsinnige Verbote aussprachen.

»Darum hast du nicht mehr mit mir gesprochen?«, fragte Finn leise.

Sie nickte. »Aber du hast ja auch nicht mit mir gesprochen.« Es war ein kläglicher, unnötiger Versuch, sich zu verteidigen.

»Wie denn auch, wenn du mir immer ausgewichen bist.« Jetzt schwang Zorn in seiner Stimme mit, und einen Moment lang fürchtete Greta, nun sei alles wieder vorbei, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte.

Doch dann sagte Finn: »Das war schön heute Abend.«

»Ja«, flüsterte sie.

Wie von selbst fanden sich ihre Hände erneut, umschlossen einander wie kostbare Schätze.

Und nun wagte Greta auch, den Kopf in Finns Richtung zu heben. Er sah geheimnisvoll aus im Mondlicht und wunderschön – auf eine aufregende Weise männlich, obwohl er doch erst vierzehn war.

Ihre Blicke trafen sich, und vielleicht war es der Mond oder die Nachtstimmung oder einfach nur ihre jugendliche Verliebtheit. Jedenfalls hatten sie beide das Gefühl, dass etwas Magisches geschah, als sie einander anschauten. Das silbrige Mondlicht verzauberte sie und wob ein Band zwischen ihnen, das niemand mehr jemals wieder zu trennen vermochte.

Finn hob eine Hand und strich mit dem Finger über Gretas Wange, ungefähr da, wo sich ihre Narbe befand. Sie hielt den Atem an, während ihr Herz beinah aus ihrer Brust sprang. Und dann beugte Finn sich vor und hauchte einen Kuss auf ihre Wange, nur ein winziges Stückchen unterhalb der Narbe.

Greta zitterte, vor Aufregung, aber auch vor Kälte. Finn legte einen Arm um sie und sie barg ihren Kopf an seiner Schulter und ließ sich von ihm wärmen.

»Wenn wir uns am Montag auf der Straße begegnen, wirst du dann wieder so tun, als würdest du mich nicht kennen?«, fragte er.

Greta schüttelte den Kopf. »Wie könnte ich!«

»Aber was ist mit deinen Eltern?«

»Keine Ahnung. Wir sagen es ihnen einfach nicht.«

»Gute Idee«, sagte Finn. Doch seine Stimme klang alles andere als begeistert.

Es war ein wundervoller Sommer, vielleicht der schönste ihres Lebens. In jeder freien Minute stahl Greta sich mit Finn davon. Sie radelten gemeinsam zum Todesberg, badeten im See oder saßen stundenlang an der Pferdeweide vom Petershof und erzählten einander alles, was sie bewegte.

Bei schlechtem Wetter verkrochen sie sich gelegentlich in Finns Zimmer. Seine Familie wohnte in einem unscheinbaren Haus am Rande des Ortes. Hinten im Hof befand sich die Schmiede von Ole Janssen, den Greta nie zu Gesicht bekam. Finn achtete immer darauf, dass sie wieder ging, bevor sein Vater ins Haus kam. Allerdings sah sie Ole Janssen gelegentlich im Ort auf der Straße. Er blickte meistens recht finster in die Gegend und sprach nur mit wenigen Leuten.

Annemarie Janssen war es egal, mit wem Finn seine Zeit verbrachte. Sie nickte Greta freundlich zu, während sie den Staubsauger durch das Haus schleppte oder in der Küche stand und kochte. Sie war sicher mal eine sehr schöne Frau gewesen. Finn hatte ihr hübsches Gesicht und die dunklen Augen mit den langen Wimpern geerbt. Doch die Ehe mit einem gewalttätigen Trinker und die Geburt von vier Kindern war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Bitterkeit und Erschöpfung spiegelten sich in ihrem Gesicht wider und ihre Hände sahen rissig und rot aus.

Finn teilte das Zimmer mit seinem jüngeren Bruder Martin, der nicht immer Lust hatte, das Feld für die beiden zu räumen. Mürrisch hockte er auf dem Bett und beobachtete genau, was Greta und Finn taten.

Darum besuchte Greta Finn nur selten.

Aber in den wenigen Stunden saßen sie Arm in Arm auf Finns Bett, hörten Musik und träumten davon, wie es sein würde, wenn sie eines Tages erwachsen wären.

»Ich möchte drei Kinder«, sagte Greta. »Einen Jungen und zwei Mädchen.«

»Warum nicht zwei Jungen?«

»Das wären mir zu viele Rabauken.«

»Rabauken, so, so.« Finn beugte sich vor und sein Mund streifte Gretas Wange. »Was hast du gegen Rabauken?«

»Gar nichts, solange sie älter als dreizehn sind.« Greta kicherte und Finn warf ein Kissen nach ihr. In gespielter Entrüstung fiel sie über ihn her und kabbelte sich mit ihm. Immer häufiger endeten diese Spielereien in einer zärtlichen Umarmung.

Ihren ersten richtigen Kuss erhielt Greta am See, an einer einsamen Stelle, an der Bäume und Sträucher dicht am Ufer wuchsen und es nur einen matschigen Pfad zum Wasser gab. Es war ein kühler, grauer Tag, aber das bemerkte sie gar nicht. Sie hatte nur Augen für Finn, der mit ihr durch die Natur streifte.

Er wirkte seit Tagen besonders zufrieden, weil er seinen Vater endlich dazu gebracht hatte, ihm das Reiten zu erlauben. Seitdem sprach er unentwegt von den Ponys auf dem Petershof. Greta, die mittlerweile im Reitverein bereits bei Turnieren mitmachte, bemühte sich, ihre Überlegenheit nicht zu zeigen. Sie fand es ohnehin erstaunlich, dass sich ein Junge wie Finn für Pferde interessierte.

Doch jetzt hatte er nur Augen für Greta. Er nahm ihre Hand und führte sie über Wurzeln und umgestürzte Baumstämme zum Ufer des Sees. Im Schilf hockten ein paar Enten, und eine kam neugierig näher, drehte aber bald wieder ab, als sie merkte, dass Greta und Finn kein Futter dabei hatten.

Sie fanden eine trockene, sandige Stelle zum Sitzen und genossen, wie so oft, wenn sie zusammen waren, das gemeinsame Schweigen, das sie aus den unterschiedlichsten Gründen verband, seit sie einander kannten. Doch jetzt hatte es eine neue Qualität erlangt.

Es war kein verlegenes oder zorniges Schweigen, kein ablehnendes oder unsicheres mehr. Es war ein einvernehmliches, zufriedenes Schweigen, das ihre innere Verbindung nur bestärkte.

Finn legte einen Arm um Gretas Schultern und nahm ihre Hand. Mit dem Daumen rieb er zärtlich über ihren Handballen. Greta genoss die Nähe zu ihm. Es war aufregend, seinen kantigen Körper zu spüren, die Wärme und den Herzschlag, seinen Atem auf ihrer Haut.

Jetzt bedeckte Finn ihren Nacken mit zarten Küssen und Greta seufzte unwillkürlich auf. Sie wandte sich ihm zu und zeichnete mit den Fingerspitzen die Konturen seines Gesichts nach. Stirn an Stirn saßen sie beieinander und sie waren sich so nah, dass ihr Atem sich vermischte.

»Ich liebe dich«, sagte Finn, leise und rau und voller Ernst.

»Ich liebe dich auch.« Gretas Brust wurde weit und öffnete sich für Finn und die Liebe.

Finns Lippen streiften ihren Mund, leicht und zart wie eine Feder. Greta drückte ein winziges Küsschen auf seinen Mundwinkel, und dann spürte sie seine Lippen erneut auf ihrem Mund, weich und warm. Ihre Lippen teilten sich ein wenig, und auf einmal war da Finns Zungenspitze, die sich zaghaft vorwärts tastete.

Greta wurde ganz schwindelig, während Finn sie küsste, so unsicher und aufgeregt wie sie selbst. Ihr Körper geriet in Aufruhr, aber Greta begriff nicht recht, was da geschah. Sie wusste nur, dass es ein unfassbar köstliches Gefühl war, von Finn Janssen geküsst zu werden, und dass sie damit nie wieder aufhören wollte.

Finn war so glücklich wie noch nie in seinem Leben. Gretas Liebe war das Kostbarste, was er jemals erlebt hatte. Er dachte unentwegt an sie und dabei hatte er gelegentlich auch sehr verbotene Fantasien. Er hatte unter dem Bett seines Vaters einen Karton mit Illustrierten gefunden, die verstörend aufregende Fotos von nackten Frauen und Männern enthielten, die »es« miteinander taten. Obwohl er sich nicht vorstellen konnte, all das, was er da sah, jemals mit Greta zu tun, boten ihm diese Bilder doch reichlich Stoff für Träumereien.

Hinzu kam, dass er in jenem Sommer nach seiner Konfirmation endlich reiten lernte. Nach dem Fiasko vor drei Jahren hatte er nicht gewagt, seinen Vater noch einmal auf das Thema anzusprechen. Aber der Wunsch wurde nicht geringer, und als er Ole Janssen eines Tages wieder mal begleitete, als der die Pferde auf dem Petershof beschlug, erhielt er unerwartete Unterstützung von Heinrich Peters.

»Wir bräuchten jemanden, der uns bei den Pferden zur Hand geht«, sagte er zu Ole Janssen. »Hinnerk baut den Reitbetrieb weiter aus und da könnte er Hilfe gebrauchen. Dein Junge kann doch gut mit Tieren. Er könnte sich ein bisschen Taschengeld verdienen.«

Ole Janssen hatte einen guten Tag. Und dass Finn Geld erhalten sollte, gefiel ihm außerordentlich. Er hörte sich an, was Heinrich Peters zu sagen hatte.

»Abgemacht«, sagte er und nickte erst Heinrich, dann Finn zu.

Und so war Finn von nun an beinah täglich auf dem Petershof. Er mistete Boxen aus, fütterte Pferde, reparierte Weidezäune, putzte und sattelte die Ponys für die Ferienkinder und führte sie Runde um Runde auf ausgetretenen Pfaden rund um den Hof. Als Entlohnung erhielt er ein Taschengeld und durfte obendrein reiten, mal nur ein paar Minuten, mal auch eine ganze Stunde – je nachdem, wie viel Zeit Hinnerk Peters erübrigen konnte und wie viele Ferienkinder die Pferde für sich beanspruchten.

»Die Gäste gehen vor«, schärfte Hinnerk ihm ein und Finn murrte nie, wenn er mal nicht zum Zuge kam.

Die körperliche Arbeit an der frischen Luft und mit den Tieren gefiel ihm. Er war kräftig für einen Vierzehnjährigen und schaffte alles, was Hinnerk ihm auftrug, bald mühelos. Und spätestens, als er das erste Mal mit Falco galoppieren durfte, befand er sich im siebten Himmel und wusste, dass er nie wieder in seinem Leben etwas Schöneres erleben würde.

Außer wenn er Greta küsste.

Die Monate zogen ins Land und es wurde Herbst. Greta traf sich nach wie vor heimlich mit Finn, wenngleich sie sich nur noch selten sahen. Greta musste viel für die Schule lernen. Sie war jetzt in der neunten Klasse und die Anforderungen wurden immer höher. Außerdem ging es ihrer Mutter wieder schlechter. Sie verließ wochenlang kaum das Haus und Greta und Julia mussten viele Aufgaben im Haushalt übernehmen.

»Was genau hat deine Mutter eigentlich?«, fragte Mareike einmal, als Greta nach der Schule noch zum Einkaufen in das neu errichtete Einkaufscenter fuhr.

»Migräne«, sagte sie. »Das sind heftige Kopfschmerzen, bei denen man sich richtig schlecht fühlt.« So hatte ihr Vater es ihr erklärt. Aber er hatte das auf eine Weise getan, dass sie das Gefühl nicht loswurde, ihre Mutter habe noch eine andere Erkrankung. Eine, die so schlimm war, dass man sie nicht beim Namen nannte.

Finn begleitete Greta gelegentlich, wenn sie Erledigungen für ihre Eltern machte. Das waren die seltenen Gelegenheiten, bei denen sie sich sahen. Doch Finn behagte es immer weniger, dass sie sich heimlich trafen.

»Du darfst deine Eltern nicht länger anlügen«, sagte er eindringlich.

»Du lügst deinen Vater doch auch an.« Greta schob den Einkaufswagen durch die Gänge des Supermarkts zu den Kühltruhen mit Fleisch. Früher hatten sie ihr Fleisch beim Schlachter gekauft, dessen Geschäft gegenüber der Apotheke lag. Aber im vergangenen Jahr hatte er zugemacht.

»Das ist was anderes«, behauptete Finn. »Mein Vater hat mir nicht ausdrücklich verboten, dich zu sehen. Er ist grundsätzlich gegen alles, was Spaß macht. Wenn ich immer auf ihn hören würde, dann würde ich genauso enden wie er.«

»Meine Eltern verbieten mir auch alles, was Spaß macht.« Greta beugte sich über eine Kühltruhe und zog zwei Pakete mit Hackfleisch heraus.

»Das stimmt doch nicht. Du hast echt keine Ahnung, wie so was ist.«

Greta fuhr herum und sah Finn böse an. »Was soll das denn heißen? Dass ich zu blöd bin, um zu kapieren, wie es ist, mit einem besoffenen Vater zu leben? Dafür weißt du nicht, wie es ist, mit einer bekloppten Mutter zu leben.«

Finn sah schockiert aus, und auch Greta war entsetzt über ihre eigenen Worte. Was hatte sie da nur gesagt? Schweigend schob sie den Einkaufswagen zum Regal mit den Nudeln. Als sie sich verstohlen nach Finn umsah, war er verschwunden.

Am nächsten Tag stand Finn bei den Fahrradständern, als Greta mittags aus der Schule kam. Es war ein windiger, kalter Tag im Oktober und sie wickelte einen Schlauchschal um ihren Kopf. Finn sah verfroren aus. Er musste schon eine ganze Weile da stehen. Greta wusste, dass er mittwochs immer eine Stunde früher Schluss hatte als sie, und sie war unendlich erleichtert, ihn zu sehen.

Er wirkte nicht mehr so verletzt wie tags zuvor, aber der Ausdruck in seinen Augen zeigte Greta, dass sie auch nicht ganz ungeschoren davonkommen würde. Aber es war okay. Finn zu verlieren, war ein schrecklicher Gedanke. Lieber ließ sie sich von ihm ausschimpfen.

Seite an Seite schoben sie ihre Räder die Straße entlang. »Es tut mir leid, was ich gestern gesagt habe«, murmelte Greta verlegen.

»Schon okay.« Finns Gesicht war verschlossen.

Sie wartete darauf, dass er noch etwas Ärgerliches hinzufügen würde, aber er schwieg nur.

Erst nach einer ganzen Weile, als sie bereits bei Gretas Straße angelangt waren, drehte er sich zu ihr um.

»Was meintest du eigentlich damit, dass deine Mutter bekloppt ist?«

Greta zögerte. Obwohl sie längst entschieden hatte, dass sie Finn nicht anlügen wollte, fiel es ihr doch schwer, ihr Familiengeheimnis preiszugeben. Zumal sie schreckliche Schuldgefühle plagten, seit sie so hässlich über ihre Mutter gesprochen hatte.

»Sie ist manchmal so komisch«, sagte sie schließlich. »Sie läuft tagelang im Morgenmantel herum. Und sie vergisst lauter Dinge.«

Finn sah sie aufmerksam an. Sein Blick wurde freundlicher und offener, was Greta ermutigte, weiterzureden. »Vor ein paar Tagen stand sie im strömenden Regen ohne Jacke in unserem Garten und hat die Bäume angestarrt. Als ich zu ihr gegangen bin, habe ich gesehen, dass sie weinte.«

Schaudernd dachte Greta an jenen grässlichen Nachmittag, von dem sie nicht einmal Mareike erzählt hatte. Sie hatte ihre Mutter am Arm genommen und ins Haus geführt. Sie hatte ihr aus den nassen Kleidern geholfen und ihr einen Tee gekocht. Es erschütterte sie nach wie vor zutiefst, dass ihre Mutter, die normalerweise stark und verlässlich war, gelegentlich so verzweifelt und hilflos wirkte und die Unterstützung ihrer Kinder benötigte.

Sie hatte ihren Vater angerufen, der augenblicklich nach Hause gekommen war. Greta hörte ihn am Telefon mit Dr. Springer sprechen und dabei fiel das Wort Depression. Sie hatte keine Ahnung, was das war, aber ihr war klar, dass es etwas völlig anderes als Migräne sein musste.

»Ich weiß, was Depressionen sind«, sagte Finn jetzt zu ihrer Verwunderung. »Dann weint die Seele.«

Er fasste nach Gretas Hand und hielt sie fest. Hand in Hand gingen sie weiter.

»Es tut mir so leid«, hob Greta noch einmal an. »Ich wollte nichts Blödes über deinen Vater sagen.«

»Aber es stimmt ja.« Finn zog die Nase hoch. »Er ist ein übler Suffkopp. Und ich kann dir unmöglich lange böse sein«, fügte er mit einem verlegenen Lächeln hinzu.

»Ich dir auch nicht.« Greta war unendlich erleichtert.

Und dann stellte Finn sein Rad an einen Laternenpfahl und nahm sie in die Arme. Feiner Nieselregen setzte ein, aber das merkten sie kaum.

»Trotzdem solltest du irgendwann mit deinen Eltern reden«, sagte Finn. »Vielleicht, wenn es deiner Mutter wieder besser geht.«

»Ich weiß.« Greta fühlte sich immer unwohler in ihrer Haut, weil sie so viel log. Ein paarmal hatte sie sich zu Hause fast verplappert und erschrak zutiefst. Sie fürchtete die Ablehnung, die ihre Eltern Finn entgegenbrachten, aber sie fürchtete sich auch vor dem Donnerwetter für ihre Lügereien. Mittlerweile wusste sie kaum, was schlimmer war.

Doch auch Finn vermied weiterhin Begegnungen zwischen Greta und seinem Vater. Ole Janssens Trunksucht wurde von Jahr zu Jahr schlimmer. Während er es früher trotzdem geschafft hatte, seine Arbeit zu bewältigen, gelang ihm dies nun immer seltener. Aufträge blieben liegen, die Kunden waren verärgert und suchten sich einen anderen Schmied. Die Janssens gerieten zunehmend in Geldnot, und Finn wirkte oft ebenso bedrückt wie Greta, wenn sie sich trafen.

Und auch Mareike war nicht glücklich. Es wurmte sie, dass Greta sie ständig als Alibi benutzte und zu Hause behauptete, sich mit ihr zu treffen, während sie in Wahrheit mit Finn zusammen war.

»Du hängst ja nur noch mit Finn rum«, beschwerte sie sich.

»Stimmt doch gar nicht«, verteidigte sich Greta. »Bloß, weil du gestern nach dem Volleyball allein nach Hause fahren musstest, machst du hier so einen Aufstand.«

»Gestern bloß?« Mareike verzog das Gesicht. »Letzte Woche auch schon. Und vorletzte.«

Sie standen auf dem Pausenhof dicht beieinander, und doch schien der Abstand zwischen ihnen riesig zu sein. Es war ein sonniger, aber frostiger Tag Anfang Dezember, Greta wickelte ihren Schlauchschal enger um ihren Kopf und trat von einem Fuß auf den anderen. Sie verstand nicht, warum Mareike sich so aufregte. Sie sahen einander doch jeden Tag in der Schule. Und sie spielten zusammen Volleyball im Turnverein. Ja, gewiss, sie trafen sich nachmittags seltener als früher. Aber dazu fehlte einfach die Zeit. Greta ging noch reiten und zum Klavierunterricht und Mareike zum Jazztanz.

Greta verbrachte neben ihren alltäglichen Verrichtungen zudem viel Zeit mit Weihnachtsvorbereitungen. Sie buk Plätzchen und bastelte mit Julia einen Fotokalender als Weihnachtsgeschenk für ihre Eltern. Stundenlang wählten sie unter Dutzenden von Bildern die schönsten aus, zerschnitten sie und erstellten damit Collagen auf dem Kalenderpapier.

Immerhin ging es Gretas Mutter zurzeit wieder gut, sodass sie ihr nicht auch noch ständig zur Hand gehen musste.

Dennoch traf sie auch Finn vergleichsweise selten. Jetzt im Winter, wo es viel regnete und stürmte, gab es dafür wenig Gelegenheiten. Draußen war es zu ungemütlich und Finn hatte sein Zimmer kaum für sich. Martin hockte ständig auf seinem Bett, las Comics und ließ sich nur unter wütendem Protest vertreiben.

»Es ist eben gerade viel los«, sagte Greta zu Mareike.

Die schaute immer noch finster, aber sie machte ein Friedensangebot. »Kommst du wenigstens morgen mit ins Kino?«

»Was willst du denn gucken?«

»Zurück in die Zukunft. Der soll ganz toll sein.«

Greta seufzte. »Ach, schade. Den hab ich schon mit Finn geguckt.«

»Na klar.« Jetzt wurde Mareike richtig wütend. »Mit Finn natürlich. Und du hast mir noch nicht mal davon erzählt.« Tränen traten ihr in die Augen. »Es gab mal eine Zeit, da haben wir uns alles erzählt, Greta, echt alles. Aber das ist lange her. Ich frage mich, ob wir überhaupt noch Freundinnen sind.« Sie drehte sich um und stapfte davon.

Greta sah ihr bestürzt hinterher. Mareike und sie hatten sich doch immer gut verstanden. Was war denn nur los? Sie überlegte, ob sie ihr anbieten sollte, gemeinsam in einen anderen Film zu gehen. Doch Mareike sprach den restlichen Tag über kein Wort mit ihr und schnitt sie mit eisigem Blick. Da verlor Greta den Mut.

Und als sie beim Bäcker Finn über den Weg lief, der erzählte, dass er am Freitagnachmittag sturmfreie Bude habe, war die Sache endgültig entschieden.

Es war still im ganzen Haus, als Finn Greta in sein Zimmer führte. Das Haus war ein wenig zu klein für eine sechsköpfige Familie und recht einfach eingerichtet. Aber alles war blitzsauber und sehr ordentlich, fast aufgeräumter als bei ihnen daheim, wie Greta feststellte. Aber vielleicht lag das auch nur daran, dass es weniger Dinge im Haushalt der Janssens gab. Die Kinderzimmer quollen nicht über vor Spielsachen, und in der Küche standen keine Gerätschaften wie eine elektrische Brotschneidemaschine oder ein Eierkocher zur Arbeitserleichterung. Alles beschränkte sich auf das Nötigste.

Finn trug knallenge schwarze Jeans und ein ebenfalls schwarzes Sweatshirt. Greta mochte das, es wirkte so rebellisch. Sie selbst kam sich daneben in ihrer Karottenjeans und dem gemusterten pastellfarbenen Pullover brav vor.

»Guck mal, die hab ich mir von meinem Geburtstagsgeld gekauft.«

Finn war vor einigen Wochen fünfzehn geworden. Voller Stolz präsentierte er Greta nun eine Schallplatte, Born in the U.S.A. von Bruce Springsteen. Greta hatte von dem Sänger noch nie gehört. Finn legte die Vinylscheibe auf den Plattenspieler. Die Nadel erzeugte ein feines Knistern, bis die ersten Töne erklangen, erdig und kraftvoll. Greta verstand die Texte nicht, aber die rockige Musik gefiel ihr.

Finn zog sie zu sich aufs Bett und bedeckte ihr Gesicht mit zarten Küssen.

»Ich hab dich vermisst«, murmelte er.

»Ich dich auch.« Wohlig seufzend gab sie sich seinen Berührungen hin. Sie sahen sich eindeutig zu selten in letzter Zeit.

Finn zog Greta an sich, seine Küsse wurden drängender. Er strich mit einer Hand ihr Bein hinauf, ertastete die Rundungen ihres Pos und schob eine Hand unter ihr Shirt. Greta war angespannt und in ihrer Mitte spürte sie ein aufregendes Pochen. Sie vergrub die Hände in Finns Haaren und presste sich fest an ihn.

Finns Hand tastete weiter, streichelte ihren Rücken, fuhr sanft über ihren Bauch und glitt schließlich ein wenig höher. Seine Finger berührten den Stoff ihres Bustiers.

Atemlos wartete Greta ab, was geschehen würde. Finn ließ sich Zeit, schien sich seiner Sache nicht ganz sicher.

»Alles okay?«, fragte er leise.

»Ja.« Sie küsste ihn. »Das ist wunderschön.«

Also machte Finn weiter und ertastete behutsam ihre Brust mit den kleinen Spitzen, erst über dem Stoff des Bustiers, dann darunter.

Die Welt drehte sich um Greta, alles in ihr geriet in Aufruhr, während Finn ihre nackten Brüste streichelte und die raue Stimme dieses Sängers auf höchst erregende Weise etwas von fire sang. Seine Musik berührte Greta genau in ihrer Mitte, da, wo ohnehin schon alles entflammt war.

Sie war dankbar für die frische Nachtluft, als sie an diesem Abend nach Hause radelte. Es nieselte leicht, und der Wind und die Kälte halfen ihr, sich soweit zu sammeln, dass sie es wagte, ihrer Familie vor die Augen zu treten.

Immer noch spürte sie Finns Küsse auf ihren geschwollenen Lippen und seine Hände auf ihrer nackten Haut. Ihr eigenes Begehren machte ihr dabei weit mehr Angst als sein Verlangen. Sie wünschte sich so viel mehr von ihm, wollte ebenfalls seinen Körper spüren und ihn an Stellen berühren, die doch eigentlich verboten waren.

Greta hätte zu gern mit Mareike über Finn gesprochen und über diese geheimnisvolle Erregung, die sie befiel, sobald sie mit ihm zusammen war. Aber Mareike war sauer auf sie, wer weiß, wie lange noch. Und obendrein hatte sie keine Ahnung von der Liebe. Sie hatte noch nicht mal einen Jungen geküsst.

Einige andere Mädchen in der Schule hatten zwar schon einen Freund, aber meistens erzählten sie nur kichernd hinter vorgehaltener Hand von kindischen, tollpatschigen Annäherungsversuchen. Keins der Mädchen berichtete von einem Verlangen, das es von innen heraus zu verbrennen schien.

In Gedanken versunken brachte Greta zu Hause ihr Fahrrad in die Garage und klingelte. Ihre Mutter öffnete die Tür.

»Kannst du mir mal sagen, wo du jetzt herkommst?« Ihre Stimme klang eisig, ihre blauen Augen funkelten zornig.

Gretas Mutter war trotz ihrer angeschlagenen Gesundheit eine attraktive Frau, die stets auf ihr Äußeres achtete – sofern sie nicht weinend im Regen stand. Sie schminkte sich sorgfältig und trug ihre blonden Haare, die Greta von ihr geerbt hatte, in einem modischen Kurzhaarschnitt mit Dauerwelle.

Doch jetzt war ihr feingeschnittenes Gesicht wie versteinert.

»Ich war mit Mareike im Kino, hab ich doch gesagt.« Greta setzte einen trotzigen Blick auf und schlüpfte betont gleichgültig aus ihren Stiefeln und der Jacke. Sie war nur zehn Minuten später als vereinbart da, deswegen musste ihre Mutter doch keinen Aufstand machen.

»Lüg mich nicht an.« Die Schärfe in der Stimme ihrer Mutter ließ Greta zusammenzucken. »Mareike war mit Susanne Baum im Kino. Und sie hatte auf dem Heimweg einen schweren Unfall. Ihre Mutter hat mich vor einer Stunde angerufen.«

»Was?« Greta fuhr entsetzt herum. Alles in ihrem Kopf wirbelte durcheinander. »Was ist denn passiert?«

»Ein Auto hat sie auf der Landstraße angefahren. Sie liegt im Krankenhaus.« Erika Bubendey sah so aus, als müsse sie sich mit Mühe beherrschen, ihre Tochter nicht zu schlagen. »Und ich will jetzt wissen, wo du dich in den letzten drei Stunden herumgetrieben hast.«

Ein heftiges Zittern erfasste Gretas ganzen Körper. All die Glücksgefühle, die Zärtlichkeiten, die Liebe, die sie mit Finn noch vor wenigen Minuten geteilt hatte, lösten sich im Nu auf. Es war der Moment der Wahrheit gekommen. Der Wahrheit über Greta und Finn.

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