Читать книгу: «In meinem Herzen nur du», страница 3

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»Das geht ja hier nie weiter«, stöhnte sie mit einem Blick nach vorne. Soeben hatte jemand vier Portionen Pommes und Currywurst bestellt. Das konnte dauern. Sie schaute sich erneut um, und da entdeckte sie Finn bei den Jungen, die Fußball spielten. Er trug eine abgeschnittene Jeans und rannte auf nackten Füßen hinter dem Ball her. Heimlich bewunderte Greta, wie geschickt er einem Mitspieler den Ball abnahm.

»Ich nehme ein Capri. Oder doch lieber Cola Pop?«, überlegte Mareike, und Greta zwang sich, den Blick von Finn abzuwenden.

»Ich nehme ein Dolomiti«, erklärte sie. »Wie immer.«

Da entstand hinter ihnen ein Tumult.

»Pass doch auf, du Penner!«, rief Markus Weiß wütend. Alle drehten sich neugierig um. Offenbar war Markus von dem Ball getroffen worden, mit dem Finn und seine Freunde spielten. Jemand sagte etwas, was Greta nicht verstand. Daraufhin trat Markus aus der Reihe.

»Sag das noch mal!« Er baute sich drohend vor Finn auf, der am nächsten zu ihm stand.

»Ich habe nichts gesagt«, erklärte Finn, was stimmte.

»Nicht Fußball spielen können und dann auch noch frech werden«, höhnte Markus und trat noch dichter an Finn heran.

Greta hielt den Atem an, als die beiden Jungen einander grimmig musterten.

»Du stinkst«, sagte Finn angewidert und schubste Markus vor die Brust. »Hau ab!«

»Fass mich nicht an, du Wichser!«

Die Luft flirrte, die Worte flogen hin und her und Gretas Herz raste vor Schreck. Finn wurde von seinen Kumpels umringt und auch Markus erhielt Unterstützung von seinen Freunden. Sie vertraten Gruppen, die von je her verfeindet waren. Die Haupt- und Realschüler behaupteten, die Gymnasiasten seien arrogant und versnobt. Die Gymnasiasten wiederum hielten die Haupt- und Realschüler für aggressiv und dumm.

»Selber Wichser!«, rief einer von Finns Freunden.

»Was für Idioten«, brummte Finn und wandte sich zum Gehen.

»Das musst du grade sagen.« Markus gab noch nicht auf. »Du bist doch genau so ein Depp wie dein versoffener Alter.«

Greta presste die Hände ineinander. Das war unfair von Markus und sehr gemein.

Finn fand das offenbar auch. In einer rasend schnellen Bewegung drehte er sich um und stürzte sich auf Markus. Er schlug so rasch zu, dass Markus überrascht taumelte und zu Boden ging. Aber er war sofort wieder auf den Beinen und im Nu droschen er und Finn aufeinander ein.

Markus landete einen Kinnhaken bei Finn, dessen Unterlippe aufplatzte und blutete. Ohne nachzudenken sprang Greta hinzu.

»Hör auf damit«, schrie sie Markus an. »Du tust ihm doch weh!«

Markus hielt kurz inne und starrte sie irritiert an. Finn nutzte den Moment und boxte ihm kräftig in die Rippen. Markus schlug augenblicklich zurück.

»Aufhören!«, schrie Greta erneut. »Lass ihn los, du … du Pimmel!«

Die Menge grölte. Markus fuhr wütend herum und schubste Greta so heftig, dass sie gegen ein paar Leute taumelte, die hinter ihr standen. »Hau ab, du Fotze«, zischte er.

»Schluss jetzt!«, sagte ein Mann ärgerlich, und Greta zog den Kopf zwischen die Schultern.

Die Jungen reagierten nicht, sie kamen nun erst richtig in Fahrt. Markus war etwas größer als Finn, aber Finn war kräftiger. Und wütender. Er hatte offenbar vor, Markus windelweich zu prügeln.

Mareike zupfte Greta am Arm. »Komm hier bloß weg. Die vermöbeln dich sonst auch noch.«

Aber obwohl Greta Angst hatte, rührte sie sich nicht vom Fleck. In einer Mischung aus Abscheu und Entsetzen beobachtete sie, wie Finn und Markus sich bis aufs Blut prügelten. Einer von Finns Freunden versuchte nun ebenfalls vergeblich, die Raufbolde zu trennen, doch er wurde nur mit in die Schlägerei hineingezogen. Ein weiterer Junge mischte sich ein, und da gab es auf einmal ein großes Gemenge, in das immer mehr Jungen verwickelt wurden.

Sie schrien und brüllten, schlugen und boxten.

Es war ein gewaltiges Spektakel.

Die Raufbolde waren erst auseinanderzubringen, als der Kioskbetreiber einen Schlauch auf sie hielt und ein harter Strahl kalten Wassers die ersten nackten Oberkörper traf. Da stoben sie schreiend auseinander.

Der Kioskbetreiber packte Finn und Markus am Arm. »Seht zu, dass ihr fortkommt«, schimpfte er. »Und lasst euch hier so bald nicht wieder blicken.«

Die Jungen trollten sich endlich, nass und zerschrammt, mit blutenden Lippen und Nasen. Greta fühlte sich so zittrig und erschöpft, als habe sie selber gekämpft. Und in gewisser Weise hatte sie das ja auch.

»Dein Finn ist echt brutal«, stellte Mareike fest.

»Ach.« Greta funkelte sie an. »Wer hat denn angefangen? Schlag dir Markus Weiß bloß aus dem Kopf. Der ist ja wohl der fieseste Junge, den ich kenne.« Sie stapfte zu ihrem Lagerplatz zurück.

Erst zu spät fiel ihr ein, dass sie gar kein Eis gekauft hatte. Doch da kam auch schon Mareike angerannt, mit zwei Eistüten in der Hand. Eine gab sie Greta. »Wäre doch blöd, wenn wir die ganze Zeit umsonst angestanden hätten.«

Greta nickte dankbar, immer noch aufgewühlt von den Geschehnissen. Sie riss das Papier auf und leckte freudlos über die weiße Spitze ihres Dolomitis.

»Pimmel, hm?«, kicherte Mareike. »Ich wusste gar nicht, was für Wörter du kennst.«

»Ich auch nicht«, brummte Greta. Dann musste sie auch grinsen. Sie wusste selbst nicht mehr, was da vorhin in sie gefahren war. Aber als sie Finn bluten sah, vergaß sie alle Angst und Vorsicht und wurde nur noch von dem einen Gedanken beherrscht: ihm beizustehen. Allerdings hatte er ihren Einsatz nicht sonderlich geschätzt, vielmehr schaute er sie kein einziges Mal an, nachdem die Klopperei vorbei war.

»Aber sag mal, was ist eigentlich eine Fotze?«, fragte Mareike und schleckte genüsslich an ihrem Cola-Eis.

»Keine Ahnung. Was ziemlich Hässliches würde ich sagen, wenn Markus mich so bezeichnet.«

Der Herbst war in diesem Jahr stürmisch und kalt. Die Leute zogen sich in ihre Häuser zurück. Gretas Eltern hatten einen Kamin in ihrem Wohnzimmer, vor dem sich die Familie abends versammelte. Sie spielten eine Runde Rommé, dann griff sich Erika Bubendey einen Korb mit Wäsche, die geflickt werden musste. Greta holte sich ein Buch, sie las gerade Fünf Freunde auf Schmugglerjagd von Enid Blyton, das sie wahnsinnig spannend fand. Julia saß am Wohnzimmertisch und bastelte undefinierbare Papiergebilde.

Ihr Vater gesellte sich zu Julia und stellte ihr auf spielerische Weise Rechenaufgaben, die sie alle perfekt löste.

»Das machst du sehr gut, Julia.« Hartmut Bubendey nickte zufrieden. »Und nun wollen wir mal sehen, was Greta kann.«

Greta, die sich gerade an einer besonders spannenden Stelle in ihrem Buch befand, hob flüchtig den Kopf.

»Also, Greta, pass auf: Die Polizei stellt bei der Überprüfung von vierhundert Fahrrädern fest, dass fünfundzwanzig Prozent davon defekt sind. Wie viele Räder sind das?«

Greta sah in die Runde. Alle starrten sie erwartungsvoll an. Sie hasste es, wenn ihr Vater sie zwang, sich mit Dingen zu befassen, die sie nicht interessierten. Aber sie wollte keinen Streit anfangen. Also bemühte sie sich, von Abenteuerroman auf Kopfrechnen umzuschalten, was gar nicht so leicht war.

Im Kamin prasselte das Feuer, während die gesamte Familie Bubendey darauf wartete, dass Greta diese an sich simple Rechenaufgabe löste. In der Schule musste sie viel kompliziertere Aufgaben bewältigen.

»Ich habe das viel schneller geschafft«, krähte Julia, und Greta verspürte auf einmal den hässlichen Drang, ihrer kleinen Schwester eine schallende Ohrfeige zu verpassen.

»Nun, Greta?« Ihr Vater hatte die Beine übereinandergeschlagen und wippte ungeduldig mit dem Fuß. Er trug wie immer Anzughose, ein weißes Hemd, Krawatte und einen Strickpullover mit V-Ausschnitt. Seine dunklen, schütteren Haare hatte er akkurat gescheitelt. Mit strenger Miene wartete er auf Gretas Antwort.

»Fünfundsiebzig«, sagte sie, und als ihr Vater missbilligend die Stirn runzelte, löste sich der Knoten in ihrem Kopf und sie korrigierte hastig: »Nein, nein, hundert.«

»Bist du dir sicher?«

Greta nickte, aber sie war sich keineswegs sicher. Ihr Vater verunsicherte sie mehr als ihre Mathelehrerin. Die war eigentlich eine freundliche Frau und schaute nicht halb so streng wie Hartmut Bubendey.

Ihr Vater hob gerade zu einer neuen Aufgabe an, als Erika Bubendey sagte: »Kann es sein, dass der Rauchabzug vom Kamin nicht richtig funktioniert?«

»Warum?« Ihr Mann hob erstaunt den Kopf.

»Ich habe das Gefühl, dass es hier sehr stickig ist. Mir ist direkt ein wenig flau.«

Hartmut Bubendey stand auf und begutachtete den Kamin. »Es ist alles in Ordnung. Sonst würde es qualmen.«

»Ja, sicher.« Gretas Mutter legte ihr Stopfzeug zur Seite. »Ich gehe mal kurz auf die Terrasse, brauche ein bisschen Sauerstoff.«

»Bei dem Wetter?« Greta schaute zu den Wohnzimmerfenstern, gegen die der Regen prasselte.

Ihre Mutter antwortete nicht. Stattdessen öffnete sie die Terrassentür. Kalte, feuchte Luft fegte herein und das Kaminfeuer flackerte heftig. Erika Bubendey tat ein paar tiefe Atemzüge. Als sie sich wieder umdrehte, waren ihre Haare vom Wind zerzaust und ihr Gesicht vom Regen benetzt.

»Vielleicht werde ich krank«, murmelte sie. »Ich mache mir mal einen Tee und gehe zu Bett.«

Greta sah ihrer Mutter beunruhigt hinterher. Sie war doch nie krank. Und sie ging auch nie vor ihren Kindern schlafen.

Ihr Vater klatschte in die Hände. »Für euch ist auch Schlafenszeit. Ab ins Badezimmer zum Zähneputzen.«

»Jetzt schon?« Greta sah auf die Uhr. Normalerweise durfte sie immer noch etwas länger als Julia aufbleiben.

»Allerdings. Für dich gibt es keine Extrawurst, mein Fräulein.«

Murrend folgte Greta ihrer Schwester ins Badezimmer. Zum Gutenachtsagen kam an diesem Abend nur ihr Vater an ihr Bett. Auch das war ungewöhnlich. Nachdem sie alleine war, wälzte Greta sich eine Weile im Bett hin und her. Dann holte sie eine Taschenlampe aus ihrer Nachttischschublade. Unter der Bettdecke las sie ihr Buch fertig. Sie musste einfach wissen, wie es ausging, auch wenn sie dadurch viel zu spät einschlief.

Am nächsten Morgen erschien ihre Mutter im Morgenmantel zum Frühstück. Das kam sonst nie vor. Normalerweise war sie immer schon angezogen, wenn die Mädchen aufstanden.

»Bist du wieder gesund, Mama?«, fragte Greta.

»Ein bisschen Kopfweh habe ich noch, das ist alles.« Erika Bubendey schmierte lächelnd Butterbrote für die Schule, wie sie es jeden Morgen tat.

Als Greta mittags heimkam, verkündete ihre Mutter, es gäbe heute Tiefkühlpizza. Hartmut Bubendey, der ebenfalls jeden Mittag zum Essen nach Hause kam, zog überrascht die Augenbrauen hoch, aber seine Töchter waren hellauf begeistert. Normalerweise gab es bei ihnen nie so tolle Sachen, immer nur Gemüse, Kartoffeln und Fleisch.

»Habt ihr viele Hausaufgaben auf?«, fragte ihre Mutter.

»Bei mir geht es ganz schnell.« Julia stopfte ein Stück Salamipizza in ihren Mund.

»Bei mir ist es eine Menge«, erklärte Greta verdrossen. »In Erdkunde müssen wir Landkarten zeichnen, das dauert bestimmt ewig.«

»Nun, dann setz dich bitte gleich ran. Und du auch, Julia. Erst Hausaufgaben, dann Spielen.« Erika Bubendey sah ihre Töchter der Reihe nach mahnend an. »Ich werde mich inzwischen ein Stündchen hinlegen, so ganz wohl ist mir immer noch nicht.«

Bald darauf stand sie auf und verließ die Küche.

Hartmut Bubendey wischte sich mit einer Serviette den Mund ab. »Ihr habt gehört, was eure Mutter gesagt hat.«

Die Mädchen nickten.

»Und seid leise, ja? Eure Mutter braucht ein bisschen Ruhe.«

Wieder nickten die Mädchen, diesmal erstaunt. Von ihrem Vater kannten sie es durchaus, dass er sich zu einem kurzen Mittagsschlaf zurückzog, bevor er wieder in die Apotheke ging. Aber ihre Mutter legte sich nie tagsüber hin.

Doch sie begriffen bald, dass sich etwas verändert hatte. Immer häufiger klagte ihre Mutter in nächster Zeit über Müdigkeit und Kopfschmerzen, und bald wurde es ihr zur Gewohnheit, sich jeden Mittag für ein, zwei Stunden zurückzuziehen. In dieser Zeit hatte absolute Stille zu herrschen, selbst das Telefon schaltete ihr Mann aus, bevor er wieder zur Arbeit ging.

»Was hast du denn, Mama?«, fragte Julia einmal.

»Ach, mir ist nur ein wenig schwindelig. Das kommt von den dummen Kopfschmerzen. Aber wenn ich mich ausruhe, wird es rasch besser.« Ihre Mutter zog Julia auf ihren Schoß. »Hast du Lust, mit mir Plätzchen zu backen? Advent ohne Plätzchen ist doch doof, oder?«

»Ja!«, rief Julia begeistert und klatschte in die Hände.

Doch später kam sie in Gretas Zimmer, hockte sich mit angezogenen Beinen auf ihr Bett und presste ihr Monchhichi an ihre Brust. Das affenähnliche Plüschtier schleppte sie neuerdings ständig mit sich herum. Die langen Haare fielen ihr unordentlich in das rundliche Gesicht. Normalerweise achtete ihre Mutter immer darauf, dass Julia ihre blonde Mähne mit einer Spange bändigte. Das hatte sie heute offenbar vergessen.

»Glaubst du, Mama stirbt?«

»Was?« Greta sah ihre kleine Schwester entgeistert an. »Wie kommst du denn darauf?«

»Elisabeths Oma hatte auch oft Kopfschmerzen, und dann war sie einfach tot.«

Die Angst, die Greta in den letzten Wochen immer wieder verdrängt hatte, griff auf einmal mit langen Fingern nach ihr. Sie riss an ihrem Herzen und drückte ihre Kehle zu.

»Nein«, flüsterte sie. »Ganz bestimmt nicht. Die Mama wird noch ewig leben.«

Doch im Zimmer sank die Temperatur auf einmal um fünfzig Grad ab. Auch Julia schien es zu bemerken, sie drückte ihr Monchhichi mit erschrockenem Gesicht fester an sich. Greta kroch zu ihr aufs Bett und zog ihren Kopf an ihre Brust.

»Es wird alles gut, kleine Schwester«, flüsterte sie, aber die langen Finger der Angst zerrten so heftig an ihr, dass sie es kaum auszuhalten vermochte.

Abends sprach Greta ihren Vater an, als sie ihm dabei half, die Küche aufzuräumen, während ihre Mutter schon wieder im Bett lag.

»Julia hat gefragt, ob Mama stirbt.«

Ihr Vater, der gerade einen Topf in die Geschirrspülmaschine räumte, richtete sich abrupt auf.

»Wie kommt sie denn darauf?«

»Die Oma von einem Mädchen aus ihrer Klasse ist gestorben, weil sie Kopfschmerzen hatte.«

»An Kopfschmerzen stirbt man nicht, Greta. Vermutlich hatte die alte Frau eine ernste Krankheit. Das ist bei deiner Mutter aber nicht der Fall. Sie ist nur etwas erschöpft, das ist alles. Wir müssen ein bisschen Geduld mit ihr haben, ja?«

Zwei Tage später bekam Greta mit, wie ihre Großmutter anrief, die im Ruhrgebiet lebte. Herta und Willi Paulsen waren Erika Bubendeys Eltern.

»Uns geht es allen gut«, hörte Greta ihren Vater sagen. Und dann: »Ach, das hat Erika sicher vergessen. Du weißt doch, wie das so kurz vor Weihnachten ist, da kommt man kaum zur Besinnung.« Nach einer Pause fuhr er fort: »Sie bringt Julia gerade ins Bett, das kann ein bisschen dauern. Julia hat zurzeit Mühe mit dem Schlafen … Wie? Dann seid ihr auch schon im Bett? … Ja, da kann man nichts machen, ich richte es Erika aus.«

Er legte auf, und da erst bemerkte er Greta.

»Julia ist doch noch wach.« Sie konnte ihre Verwirrung nicht verbergen. »Nur Mama liegt im Bett.«

Ihr Vater fuhr sich durch die Haare und presste die Lippen aufeinander.

»Ich weiß.« Er räusperte sich. »Du kennst doch Oma Herta, die macht sich nur unnötige Sorgen. Sie muss nicht wissen, dass es eurer Mutter zurzeit nicht so gut geht.« Er räusperte sich erneut. »Weißt du, genau genommen muss das auch sonst niemand wissen. Die Leute reden immer so viel, das macht dann rasch in Travenstedt die Runde.«

Greta dachte daran, wie über Finn Janssens Vater hergezogen wurde. Aber das war doch etwas anderes. Er war schließlich selbst schuld, dass er so viel trank. Ihre Mutter hingegen konnte ja nichts für ihre Kopfschmerzen. Dennoch versprach Greta ihrem Vater, mit niemandem darüber zu sprechen, dass ihre Mutter krank war. Sie kreuzte dabei hinter dem Rücken zwei Finger, denn Mareike hatte sie selbstverständlich bereits erzählt, wie eigenartig sich ihre Mutter neuerdings benahm.

Um Weihnachten herum ging es Erika Bubendey tatsächlich besser. Sie lachte wieder so wie früher, war morgens ordentlich angezogen, wenn sie ihre Töchter weckte, und ging abends erst ins Bett, wenn die Mädchen schon lange schliefen. Nur die ausgedehnten Mittagsruhen behielt sie bei.

Dann saßen Greta und Julia in ihren Zimmern und langweilten sich. Greta trödelte mit ihren Hausaufgaben herum und verbrachte endlose Stunden damit, auf ihrem Bett zu liegen und die weiße Raufasertapete an der Decke anzustarren, während die Stille drückend auf dem Haus lastete und jede Bewegung und jeden Gedanken schwer werden ließ.

Manchmal dachte Greta an Finn Janssen, wenn sie so vor sich hin träumte. Immer wieder sah sie sein Lächeln vor sich und fühlte seine Lippen auf ihrer Wange, als läge das alles erst wenige Tage und nicht Jahre zurück. Sie dachte auch daran, wie er sich im vergangenen Sommer mit Markus Weiß geprügelt hatte. Wie gern wäre sie zu ihm gegangen, hätte ihn verarztet und ihn tröstend in die Arme genommen.

Ihre Träume, in denen es um Finn ging, waren sehr ausgedehnt und sehr verboten, besonders, wenn sie sich dahingehend entwickelten, dass Greta Finn ebenfalls küsste. Aber dazu würde es wohl nie kommen. Sie hatte Finn seit jenem Sommertag am See nicht mehr gesehen. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie das ändern könnte.


Vollmondzauber

Als sie dreizehn war, begann für Greta mit Beginn des neuen Schuljahrs der Konfirmandenunterricht. Jeden Donnerstagnachmittag unterrichtete Pastor Behrmann eine Gruppe Jugendlicher über den christlichen Glauben und Sinnfragen des Lebens.

Greta mochte Pastor Behrmann. Er war freundlich und lachte viel und probierte in seiner Gemeinde lauter neue Dinge aus. Erst kürzlich hatte er sich einen weißen Talar mit einem bunten, gewebten Schal zugelegt – ein vollkommen ungewohntes Bild in einer evangelischen Kirche, in der traditionellerweise tristes Schwarz vorherrschte. Die Gemeinde war geteilter Meinung über seine neuen Ideen, genauso wie die Familie Bubendey.

»Ich finde die bunten Farben ja recht hübsch«, sagte Gretas Mutter. »Das bringt Leben in die Kirche.«

Ihr Vater hingegen war skeptisch. »Der alte Luther hat sich schon was dabei gedacht, als er den ganzen Firlefanz aus der Kirche verbannte«, pflegte er zu sagen.

Zu Gretas Erstaunen nahm auch Finn am Konfirmandenunterricht teil. Er saß meistens schweigend in der Runde, und es war nicht klar, ob er aufmerksam zuhörte oder mit den Gedanken ganz woanders war. Gelegentlich warf Greta ihm verstohlene Blicke zu. Er sah sehr süß aus mit diesen verstrubbelten Haaren und dem leisen Lächeln, das manchmal über sein Gesicht glitt, wenn er sich flüsternd mit einem Sitznachbarn unterhielt.

Hin und wieder fing er Gretas Blicke auf und hielt sie für einen winzigen Moment gefangen. Dann musste sie sich hastig abwenden, mit rasendem Herzen und geröteten Wangen.

Die Konfirmandenzeit dauerte ein knappes Jahr. Im Frühling 1985 fuhren sie für drei Tage auf eine Konfirmandenfreizeit an die Ostsee. Keiner von ihnen hatte recht Lust auf die Reise, wie das so war bei derartigen Pflichtveranstaltungen. Gretas Trost war, dass Mareike auch mitfuhr und sie sich das Zimmer mit zwei netten Mädchen teilten, was das Ganze halbwegs erträglich machte.

Und außerdem war ja auch Finn dabei. Aber Greta wusste nicht genau, ob sie das gut oder schlecht finden sollte. Was, wenn Finn unentwegt so tat, als sei sie Luft? Das war schrecklich demütigend. Aber schlimmer noch wäre es, wenn er sie ständig so anstarren würde wie in den Konfirmandenstunden. Das verunsicherte sie. Glaubte Finn etwa, sie verpuffe einfach, wenn er sie nur lange genug anglotzte?

Am ersten Abend saßen sie in einem Stuhlkreis in dem recht nüchternen Saal, der ihnen für ihre Zusammenkünfte zur Verfügung stand. Zu Gretas Erstaunen setzte Finn sich auf den freien Platz neben ihr. Er sah sie nicht an, aber sie saßen so dicht beieinander, dass sich fast ihre Schultern berührten.

Greta hörte kaum, was Pastor Behrmann erzählte, so sehr brachte Finns Nähe sie durcheinander. Sie glaubte, jeden seiner Atemzüge zu spüren, und in ihrem Bauch flatterte auf einmal alles.

Pastor Behrmann breitete bunte Karten auf dem Fußboden aus. Er forderte die Jugendlichen auf, sich das Kärtchen zu nehmen, das sie am meisten ansprach. Dann musste jeder den Text vorlesen, der auf seiner Karte stand.

Greta beobachtete, wie Finn mit geschmeidigen Bewegungen durch den Raum schritt und sich zielsicher nach einer Karte bückte. Sie selbst brauchte etwas länger beim Auswählen.

Als er an der Reihe war, sagte Finn mit fester Stimme: »Auf meiner Karte steht Glück.«

Pastor Behrmann nickte beeindruckt.

Dann war Greta dran.

»Freundschaft«, murmelte sie so leise, dass Pastor Behrmann sie aufforderte, es zu wiederholen.

Später hielt der Pastor eine kurze Andacht, die er mit einem Segen abschloss.

»Steht dazu bitte alle auf und fasst Euch an den Händen«, sagte er.

Greta spürte rechts Mareikes schmale Hand, die sich federleicht in ihre schob. Die Freundin grinste breit. Und dann tasteten auch auf der linken Seite Finger nach ihr. Kräftige Finger, die ihre Hand sicher umschlossen, warm und fest.

Greta warf Finn einen scheuen Blick zu und – es war kaum zu glauben! – er sah sie auch an und lächelte.

Hand in Hand standen sie dicht nebeneinander, während Pastor Behrmann die uralten Segensworte sprach. Und als sich danach alle setzten, hielt Finn Janssen Gretas Hand immer noch fest umschlossen, als wolle er sie nie wieder loslassen.

Am nächsten Tag nahmen alle im Stuhlkreis die Plätze ein, die sie auch am Abend zuvor gehabt hatten – wie das immer so war bei derartigen Veranstaltungen. Obwohl sie kaum ein Wort mit Finn wechselte, genoss Greta seine Anwesenheit. Sie bewunderte heimlich Finns schlanke Figur und sein schönes Gesicht mit den dunklen Augen, die unglaublich lange Wimpern hatten. Er überraschte nicht nur Pastor Behrmann, sondern auch Greta, indem er sich bei allen Übungen, die sie machten, intensiv einbrachte.

Auf die Frage, was für sie das Wichtigste im Leben sei, antwortete er: »Dass ich glücklich bin.«

Und als es um die Frage ging, wie er sich seine Zukunft vorstellte, sagte er: »Ich möchte die Frau, die ich liebe, heiraten. Ich möchte mit ihr in einem eigenen Haus wohnen und Kinder haben. Und ich möchte einen Beruf erlernen, der mich erfüllt und mir Freude macht.«

Greta wusste auf beide Fragen keine rechte Antwort zu geben. »Das Wichtigste im Leben sind meine Familie und meine Freunde«, sagte sie schließlich. »Und für die Zukunft wünsche ich mir Glück und Gesundheit.« Aber irgendwie klang das hohl und nicht halb so überzeugend wie Finns Worte.

Doch sie spürte, wie sich zwischen ihnen eine Wärme ausbreitete, die sie zum Glühen brachte, wann immer sich ihre Körper zufällig berührten.

»Ich glaube, ich bin total verliebt in ihn«, gestand sie Mareike in der Mittagspause, in der sie zu zweit einen Spaziergang am Strand machten. Es war ein milder Frühlingstag, sonnig und windstill. Kinder bauten Sandburgen und ihre Eltern saßen in Strandkörben und sonnten sich.

Mareike kicherte. »Ich glaube, er ist auch in dich verliebt. Er schaut dich so oft an.«

»Wirklich?« Greta konnte es nicht fassen, doch Mareike nickte mit breitem Grinsen.

Abends saßen sie wieder auf ihren vertrauten Plätzen im Stuhlkreis, als Pastor Behrmann eine Andacht hielt. Dicke Altarkerzen verbreiteten eine heimelige Atmosphäre. Zum Abschluss forderte der Pastor die Jugendlichen wie am Tag zuvor auf, während des Segens aufzustehen und sich an den Händen zu halten.

Es fühlte sich schon beinah vertraut an, Finns kräftige, warme Finger zu spüren, und als er zweimal hintereinander zudrückte, ging Greta auf dieses kleine Signal ein und erwiderte es.

Nachdem der Pastor den Segen gesprochen hatte, sagte er mit seiner ruhigen, tiefen Stimme: »Wenn ihr mögt, dürft ihr einander nun in die Arme nehmen und euch gegenseitig sagen: ›Schön, dass du da bist.‹«

Ein verlegenes Kichern setzte ein und die Jugendlichen standen einen Moment steif und ratlos in der Runde. Dann warf sich jedoch ein Mädchen gackernd in die Arme seiner besten Freundin und der Bann war gebrochen.

»Schön, dass du da bist.« Auch Mareike und Greta umarmten einander lachend. Weitere Mädchen kamen hinzu und dann sogar der eine oder andere Junge.

Als Greta sich das nächste Mal umdrehte, stand Finn dicht vor ihr. In seinen dunklen Augen funkelten bernsteinfarbene Sprenkel und er lächelte auf eine Weise, die Gretas Innerstes zum Schmelzen brachte.

Finn, der ein Stückchen größer als sie war, beugte sich zu Greta herab und schlang seine langen Arme fest um sie. Keiner der anderen Jungen hatte sie auf diese Weise umarmt, entschlossen und stark und ein wenig besitzergreifend. Greta fühlte an ihrer Wange den Stoff von Finns Wollpullover und darunter seinen Herzschlag.

»Schön, dass du da bist«, flüsterte er in ihr Ohr, und Greta vermochte nicht zu antworten, so sehr geriet alles in ihr in Aufruhr. Finns Nähe ließ sie vibrieren und zittern und brachte nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Seele zum Schwingen.

Wie benommen stand sie mitten im Raum, nachdem Finn sich endlich wieder von ihr gelöst hatte, und schwindelig vor Glück nahm sie nichts und niemanden mehr wahr außer dem Jungen vor sich, der so aufgewühlt aussah, wie sie sich fühlte.

»Die anderen wollen eine Nachtwanderung machen«, riss Mareike sie aus ihrer Versenkung. »Kommst du auch mit?«

»Mal sehen«, murmelte Greta abwesend. Als sie sich wieder umwandte, war Finn verschwunden.

Finn raste peinlich berührt zur Toilette und kam erst wieder heraus, als er sicher war, dass seine Zimmergenossen alle zur Nachtwanderung aufgebrochen waren. Er hätte nie gedacht, dass es ihn so aus der Bahn werfen würde, Greta Bubendey zu umarmen.

Finn hatte die Aufforderung des Pastors als wunderbare Gelegenheit empfunden, sich Greta ungestraft nähern zu können. Sie hatte ihn in den letzten Tagen wiederholt auf sehr bezaubernde Art angelächelt, ein wenig schüchtern, fast verlegen, aber doch so, dass es ihm Mut machte.

Sie sah wunderschön aus, mit strahlenden Augen und rosigen Wangen. Ihre blonden Haare fielen ihr seidig über die Schultern und umspielten ihr zartes Gesicht. Finn konnte sich nicht sattsehen an ihrem Anblick. Und als er beim Segen ihre Hand nahm, mochte er sie nie mehr loslassen.

Das Verrückte dabei war, dass es Greta zu gefallen schien. Ihre Hand lag leicht und zart in seiner, und als er sie sanft drückte, trat sie in stumme Zwiesprache mit ihm und erwiderte seinen Händedruck.

Als er dann allen Mut zusammennahm und sie umarmte, war das, als würde er in ein tiefes Meer eintauchen, umhüllt und geborgen, wobei er immer weiter nach unten gezogen wurde und nichts mehr wahrnahm außer dem Rauschen in seinen Ohren.

Gretas Körper fühlte sich so zart an und ihr Haar duftete wundervoll nach Frühlingsblumen.

Ja, und dann spürte Finn noch etwas. Greta war im Begriff, eine Frau zu werden. Kleine, weiche Brüste, die er unter ihren weiten Pullovern bislang noch gar nicht wahrgenommen hatte, pressten sich gegen seine Brust.

Und auch er war kein Kind mehr, und sein Körper reagierte wie der eines Mannes.

Verlegen löste Finn sich von Greta, zutiefst beschämt einerseits, erfüllt von dem innigen Moment andererseits. Gretas Gesicht glühte und brachte etwas in ihm zum Brennen.

Da wurde sie durch ihre Freundin Mareike abgelenkt, und er nutzte den Augenblick und floh auf die Toilette.

Dort saß er mit pochendem Herzen und pulsierenden Lenden und wusste nicht, wohin mit all seinen Empfindungen. Durch ein offenes Toilettenfenster hörte er die Stimmen der anderen auf dem Hof, die sich lachend und rufend zur Nachtwanderung versammelten, angeführt von Pastor Behrmann, der ein Lied anstimmte. Als das Lachen und Singen sich immer mehr entfernte, traute Finn sich endlich wieder hinaus aus diesem kalten, unwirtlichen Raum und lief in sein Zimmer.

Er stellte sich ans Fenster, starrte den Vollmond an, der sich am wolkenlosen Nachthimmel emporschob, und dachte unentwegt an Greta. Und als hätten sich seine Gedanken materialisiert, erschien auf einmal unten im Hof eine Gestalt mit langen Haaren. Sie ging zögernd ein paar Schritte Richtung Strand, blieb einen Moment stehen und drehte wieder um. Als das Licht einer Laterne auf ihr Gesicht fiel, erkannte Finn, dass es Greta war.

Er zögerte nicht eine Sekunde.

Greta fühlte sich seltsam verloren. Die vielen Gefühle in ihr verwirrten sie. Hatte Finn sie nicht all die Jahre für eine doofe Ziege gehalten, die Luft für ihn war?

Er hatte sie nie angeschaut, wenn sie sich zufällig auf der Straße trafen. Aber hier, in diesem tristen Freizeitheim, hatte er ihre Hand festgehalten und sie umarmt, als wolle er sie nie wieder loslassen.

Sie wusste nicht recht, wohin. Zum Schlafen war sie zu aufgedreht, aber sie wollte auch nicht mit Mareike und den anderen zusammen sein. Also schlenderte sie ziellos über das Gelände des Freizeitheims, bis sie sich auf einer Bank bei den Tischtennisplatten niederließ. Es war ziemlich dunkel hier, nur der Mond, der groß und rund am Himmel hing, spendete Licht.

Als sie Schritte hörte, schrak sie zusammen – bis sie die hochgewachsene Gestalt von Finn erkannte.

Er trat lachend näher. »Heulst du den Mond an?«

»Ja, genau.« Greta lachte auch, nervös und viel zu hoch für ihren Geschmack. »Und gleich werde ich mich in einen Werwolf verwandeln.«

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