Читать книгу: «Gommer Sommer», страница 4

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»Ich trage das«, sagte Kauz zu den Alten. »Bis Sie mit der Besprechung fertig sind, warte ich hier auf Sie.« Er schaute Kenzelmann fragend an.

Dieser nickte, deutete auf einen der Sessel im Vorraum. Kauz setzte sich. Kenzelmann führte Wendels Eltern zum Besprechungszimmer, ließ sie eintreten und schloss die Tür.

Kauz wartete eine Weile, dann stand er auf, nahm den versiegelten Kälberstrick, steckte ihn in seine Jackentasche und setzte sich wieder. Als er sicher sein konnte, dass die Besprechung über die Einzelheiten der Bestattung im Gang war, stand er wieder auf und schlich sich noch einmal in die Aufbahrungshalle.

Auf der Rückfahrt mit dem Zug brach plötzlich ein Gewitter los. Es donnerte und blitzte, bald darauf begann es wie aus Kübeln zu schütten. Damit hatte Kauz nicht gerechnet. Im Gegenteil, beim Einsteigen in Münster hatte er sich noch gewundert, dass Frau Imfang einen Regenschirm dabeihatte.

Unauffällig studierte er das zerfurchte Gesicht der alten Frau, die wie versteinert dasaß und den Rest der Fahrt über kein Wort mehr sagte.

Wieder in Münster, verabschiedete er sich von den beiden alten Leuten und ging zur Alpenrose. Morgen würde er sein Zimmer räumen und in Wendels Speicher ziehen.

Kauz hatte seine alte BMW vor dem bescheidenen Hotel abgestellt. Als er dort ankam, traute er seinen Augen nicht: Der Hund mit dem weißen Fleck auf der Brust lag neben seinem Motorrad, den Kopf auf den Vorderpfoten. Er stand sofort auf, als er Kauz erblickte, winselte freudig, drehte sich wie toll um sich selbst, ließ sich von Kauz tätscheln und leckte seine Hände. Diesmal brachte es Kauz nicht übers Herz, den Hund wieder wegzuschicken. Er schmuggelte ihn ins Hotelzimmer, holte sich im Restaurant eine Schüssel und setzte ihm Wasser vor. Dann stellte er ihn unter die Dusche. Das nasse Fell stank fürchterlich, sogar als Kauz mit der Hundewäsche schließlich fertig war. Er bestellte sich unten im Restaurant ein einfaches Nachtessen mit viel Fleisch und packte die Hälfte des Menüs in eine Papierserviette. Der Hund, der im Zimmer gewartet hatte, ließ sich nicht zweimal bitten. Kauz beschloss, den Hund über Nacht zu beherbergen und am nächsten Tag nach seinem Besitzer zu suchen.

Montag, 3. Juli

Kaum hatte sich Korporal Ria Ritz hinter ihr Pult gesetzt und die ersten eingegangenen E-Mails gelesen, klingelte das Telefon. Sie hob ab.

»Herr Walpen«, sagte sie. »Sie rufen wegen des Speichers an, nicht wahr? Er wurde freigegeben, die Nachricht ist soeben eingegangen. Mein Kollege hätte Sie gleich angerufen«, erklärte sie. »Ach so, Sie rufen gar nicht deshalb an. Sondern – wie bitte? Also, hören Sie, Herr Walpen. Ich dürfte Ihnen eigentlich gar nichts sagen. Aber Sie haben die Leiche gefunden und den Verstorbenen persönlich gekannt. Deshalb sage ich Ihnen jetzt im Vertrauen: Es war Selbstmord. – Wie bitte? Sie sehen das anders? Nun, das kann ich Ihnen nicht verbieten«, meinte sie unwillig. Aber dann hörte sie zu. »Gut«, sagte sie schließlich dezidiert. »Dann kommen Sie auf den Posten. Ja, sofort. – Richtig, Polizeiposten Fiesch.«

»Komischer Kauz«, sagte sie zu sich selbst, als sie den Hörer auflegte. Was ist das überhaupt für einer?

Sie griff zum Hörer und rief zu Hause an.

»Tomi«, sagte sie, als ihr Mann antwortete, »kannst du jemanden für mich googeln?«

Das war vielleicht nicht ganz astrein. Möglicherweise fiel ja schon der bloße Name ihrer Auskunftsperson unter das Amtsgeheimnis. Aber sie hatte jetzt alle Hände voll zu tun. Während Thomas alle Zeit der Welt hatte.

»Ruf mich zurück, wenn du etwas weißt. So rasch wie möglich, er wird bald hier sein.«

Dann machte sie sich an die Arbeit. Es lagen einige unerledigte Rapporte auf dem Tisch. Den über den Verkehrsunfall mit Fahrerflucht vom Freitag hatte sie noch in der gleichen Nacht abgeschlossen. Und den über den AgT in Münster auch. Der Staatsanwältin zuliebe, denn der stand am Freitag ein Wochenend-Pikettdienst bevor. Ria hatte die Fälle deshalb vom Tisch haben wollen. Lara Stockalper war eine der Staatsanwälte, mit denen Ria gern zusammenarbeitete. Da lagen auch mal ein paar Überstunden drin. Der Staatsanwältin hatte es eingeleuchtet, dass der Verkehrsunfall und der AgT von Münster zusammenhingen. Aus Rias Sicht waren die beiden Fälle gelöst: Verkehrsunfall mit schwerem Personenschaden, Fahrerflucht, Suizid des Unfallfahrers. Aber Lara Stockalper wollte die Sache einwandfrei ermittelt haben und beabsichtigte, den Kriminaltechniker ein zweites Mal nach Münster zu schicken, um auch die Spuren am militärgrünen Pick-up-Jeep auf Wendelin Imfangs Hof zu sichern. Erst wenn diese zweifelsfrei mit den am Unfallort vorgefundenen Spuren übereinstimmten, würde sie die Ermittlungen in Sachen Fahrerflucht einstellen. Ob die zweite Spurensicherung in Münster schon erfolgt war, wusste Ria nicht.

Jetzt ging es um Nullachtfünfzehn-Fälle, die aber auch erledigt werden mussten. Einbruch in ein leerstehendes Ferienhaus in Bellwald zum Beispiel. Solche Delikte waren im Goms früher eine Seltenheit gewesen, jetzt kamen sie immer häufiger vor. Dann ein paar harmlose Verkehrsdelikte. Schließlich war da noch der administrative Kram, der mit der Führung ihres kleinen Teams zusammenhing.

Es klingelte erneut. Thomas rief zurück.

»Ja?«, sagte Ria erwartungsvoll. »Was? Das gibts doch nicht! Bist du sicher? Danke, Tomi. Bis heute Abend. Salü

*

Am Nachmittag würde er den Speicher beziehen können. Obschon er das Hotelzimmer erst um elf Uhr räumen musste, packte Kauz seine Siebensachen schon um halb neun zusammen und fuhr im Schritttempo zum Speicher. Sein neuer Freund, der zugelaufene Hund, trabte neben dem Motorrad her. Beim Speicher angekommen, stellte er sein Gepäck in den leeren Ziegenstall gegenüber. Der Hund war – vielleicht von einer langen Odyssee – so erschöpft, dass er sich im Stall auf einen Rest Stroh legte und sofort einschlief. Kauz weckte ihn auf, ehe er losfuhr.

»Bleib hier«, schärfte er ihm ein und hob den Zeigefinger. »Verstehst du? Bleib hier. Warte! Ich komme zurück.«

Der Hund hob kurz den Kopf, spitzte die Ohren, blinzelte ihn an, legte den Kopf wieder hin und schlief weiter.

Der Posten Fiesch war leicht zu finden. Er lag mitten im Dorf, in einem Betonbau aus den Sechzigerjahren, groß angeschrieben: Police. Seltsam, dachte Kauz, Police. Wieso nicht Polizei? Wir sind hier doch im Goms. Er hatte sich den Posten in einem schönen Gommer Holzhaus vorgestellt. So ähnlich wie der alte Polizeiposten in Münster. Er stellte sein Motorrad ab und trat ein, sah sich um, schnupperte die Polizeipostenluft. Die Atmosphäre war wie auf irgendeinem Posten irgendeiner Kantonspolizei, und doch wieder anders. Weniger geschäftig. Gemütlicher konnte man nicht sagen. Konservativer, vielleicht.

Kauz trat an die Theke. Der aufgeweckte junge Polizist, den er zusammen mit Korporal Ritz in Münster gesehen hatte, erkannte ihn gleich.

»Walpä, gältät?«, sagte er und drehte sich um. »Chef!«, rief er ins andere Büro hinüber.

Korporal Ritz stand schon unter der Tür und bat Kauz ins Büro des Postenchefs.

»Nehmen Sie Platz«, sagte sie und zeigte auf einen der Stühle am Besprechungstisch. Sie machte die Bürotür zu und setzte sich. »Sie brauchen sich nicht mehr zu verstecken, Herr Walpen, ich weiß, dass Sie Polizist sind«, eröffnete sie ihm.

»Aber außer Dienst«, sagte Kauz. Präziser wollte er nicht werden. Er brauchte nicht zu fragen, wie sie es herausgefunden habe; es lag auf der Hand. Die Website der Kantonspolizei war wohl noch nicht ganz à jour gebracht worden.

»Kauz«, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand.

Da sie beide Polizisten waren, war es selbstverständlich, dass man sich duzte, aber Kauz war klar, dass er den ersten Schritt machen musste. Schließlich war er um einiges älter. Und überdies nicht dienstlich hier, sondern als Privatperson.

»Wie bitte?«

»Ich heiße Kauz«, wiederholte er. »Und du?«

»Kauz?«, fragte sie ungläubig zurück.

»Ja. Und du?«

»Ria«, sagte sie und drückte seine Hand. »Jetzt sag mir«, fuhr sie selbstbewusst fort, »weshalb du so sicher bist, dass ein Verbrechen vorliegt und nicht ein Selbstmord. Oder soll ich dir zuerst sagen, wieso es doch Selbstmord war? Du weißt nämlich nicht alles. Es gibt ein Motiv.«

»Wirklich? Ein Motiv für den Suizid? Schieß los.«

»Aber das bleibt unter uns, klar? Ich dürfte ja eigentlich nicht … Du bist ja nicht dienstlich hier.«

»Klar doch«, sagte Kauz.

Ria zählte die Fakten auf, die Benjamin Carlen und sie erhoben hatten. Und sagte Kauz, was sie für Schlüsse gezogen hatten: Wendelin Imfang hatte mit seinem Jeep einen schweren, möglicherweise tödlich ausgehenden Unfall verursacht und Fahrerflucht begangen. Als er das Ausmaß des Unfalls realisierte, erhängte er sich in einer Art Panikreaktion. Die Spuren des Verkehrsunfalls würden noch kriminaltechnisch ausgewertet. Aber der Entscheid der Staatsanwältin sei schon gefallen; sie werde bei diesem AgT, da es sich um mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um einen Suizid handle, keine weiteren Ermittlungen anordnen. Aus diesem Grund sei der Speicher ja auch freigegeben worden.

»Das vom Unfall wusste ich«, sagte Kauz.

»Woher?«

»Man erfährt allerlei, wenn man im Gommereggä die Ohren offen hält«, meinte Kauz.

»Fiiwoll«, lachte Ria.

»Aber dass Wendel Imfang den Unfall gebaut haben soll, wusste ich nicht«, sagte er ernst. Und ich kann es auch nicht glauben, dachte er.

»Das weiß bis jetzt niemand«, sagte sie rasch. »Und es darf auch niemand wissen. Ist ja noch nicht öffentlich. Und nicht hieb- und stichfest bewiesen. Unschuldsvermutung, du weißt schon. Die gilt, glaube ich, auch für einen Toten.«

Kauz rieb sich das Kinn. »Trotzdem, es klingt plausibel. Passt mir aber offen gestanden gar nicht in den Kram.«

»Was hab ich gesagt?«, erwiderte Ria. »Aber jetzt sag mir trotzdem, weshalb du glaubst, dass es Mord war. Oder siehst du es jetzt anders?«

»Nein. Es war Mord, da bin ich mir sicher. Nur weiß ich noch nicht, wie der mit dem Verkehrsunfall zusammenpasst. Pass auf: Erstens war die Speichertür nicht abgeschlossen«, begann Kauz. »Wenn einer sich umbringen will, sorgt er dafür, dass er nicht gestört wird. Er schließt die Tür von innen ab und lässt den Schlüssel stecken, denkst du nicht?«

»Doch, schon«, bestätigte Ria Ritz, leicht verlegen. »Es hat mich ja auch gewundert, dass wir keinen Schlüssel gefunden haben.«

»Der Schlüssel steckte in Imfangs Stallhose. Da wurde bei der Legalinspektion …«

»Geschlampt, meinst du?«, brachte Ria den Satz zu Ende. »Etwas übersehen«, milderte Kauz ab. »Zweitens«, fuhr er fort, »wählt einer, der sich erhängen will, einen Balken oder Haken, der hoch genug über dem Boden ist. Er stellt sich auf einen Stuhl, knüpft das Seil um Hals und Haken und springt. Oder lässt sich vom Stuhl gleiten. Dann wird er sehr rasch ohnmächtig und drei Minuten später ist er tot. Du hast doch gesehen, dass die Füße des Toten nur knapp über dem Fußboden hingen, nicht wahr?«

Ria Ritz nickte.

»So aber hätte der Suizid, wenn es denn einer gewesen wäre, leicht misslingen können.«

Misslingen!, was sage ich da?, überlegte er und musste an den armen Wendel denken. Er rieb sich die Stirn.

»Der Oberbau des Speichers ist unter dem First etwa einen Meter höher als der Unterbau«, fuhr er fort. »Wenn sich Imfang wirklich auf die altmodische Art hätte erhängen wollen, wäre er nach oben gegangen und hätte sich am Firstbalken aufgehängt. Das wäre eine todsichere Sache gewesen.«

Ria Ritz zuckte zusammen.

»Entschuldige«, murmelte Kauz. »Aber ich muss kein Blatt vor den Mund nehmen, oder?«, hakte er nach.

»Nein. Schon gut. Und weiter?«

»Von den Dingen, die die Imfangs für mich Jahr für Jahr bereitstellten, fehlte etwas.«

»Was meinst du damit?«

Kauz erklärte ihr die Sache mit den Willkommensgaben. »Mich würde interessieren«, fuhr Kauz fort, »ob Wendel Imfang vor seinem Ableben davon konsumiert hat. Wenn nicht, haben sich möglicherweise die Täter daran gütlich getan. Und dieser Gedanke gefällt mir gar nicht. Eine Autopsie hätte darüber Aufschluss gegeben. Nur wurde leider keine gemacht.«

»Stimmt. Aber wieso weißt du das?«

»Ich habe den Leichnam gesehen«, sagte er bloß.

»Aha. Und ein bisschen untersucht?«, fragte sie misstrauisch.

»Genau«, bestätigte Kauz trocken. »Wer wäre bei euch im Wallis eigentlich dafür zuständig?«

Das sei so, erklärte sie ihm: Gerichtsmedizinische Autopsien würden in Lausanne oder Bern durchgeführt. Im Auftrag der Rechtsmedizin in Sitten. Aber dorthin sei der Leichnam gar nie gelangt. Die Legalinspektion könne nämlich auch vor Ort durch den Bezirksarzt vorgenommen werden. Der beantrage dann bei Verdacht oder unklarem Befund bei der Staatsanwaltschaft die rechtsmedizinische Untersuchung. Oder, wenn alles klar sei, eben auch nicht. Im Fall AgT Imfang sei turnusgemäß der Bezirksarzt von Naters zuständig gewesen. Und das sei ein schon ziemlich betagter Doktor, der demnächst in Pension gehe.

»Was hat er festgestellt?«

»Tod durch Erhängen«, sagte Ria Ritz.

Na, wunderbar!, dachte Kauz. »Und sonst?«, fragte er.

»Nichts. Deshalb wurde die Leiche ja auch zur Bestattung freigegeben.«

»Hat er denn nicht nach weiteren Verletzungen gesucht?«, fragte Kauz weiter. »Nach Kampfspuren?«

»Doch, hat er. Aber nichts Verdächtiges gefunden.«

»Ich aber schon. Eine Stelle am Hinterkopf. Genau konnte ich nicht nachschauen, dazu hätte ich den Leichnam aus dem Sarg nehmen müssen. Und die Schnürfurche am Hals schien mir auch irgendwie seltsam zu sein. Aber sicher bin ich mir nicht, der Leichnam war an Kopf und Hals geschminkt worden. Aber ich könnte mir vorstellen, dass darunter Würgemale zum Vorschein kämen.«

Ria Ritz stutzte.

»Du meinst, er ist auf den Kopf geschlagen worden? Und gewürgt? Und dann aufgehängt? Dann wären aber mehrere Täter am Werk gewesen.«

»Ich vermute gar nichts«, behauptete Kauz, aber das war gelogen. »Ich trage nur Fakten zusammen. Gehe ich richtig in der Annahme, dass in dem Fall keine Spurensicherung durchgeführt wurde? Weder an der Leiche noch im Speicher?«

»Ja, leider«, gab Ria kleinlaut zu. »Die sei nicht nötig, hat die Staatsanwältin entschieden, als das Ergebnis der Legalinspektion vorlag. Als wir ihr von den Unfallspuren an Imfangs Pick-up erzählten, fühlte sie sich erst recht bestätigt, dass es um Suizid geht. Sie hat deshalb die Kriminalisten auf die Spuren am Pick-up angesetzt, nicht auf den Leichnam und den Stall. Ob sie den Pick-up schon untersucht haben, weiß ich nicht. Auf alle Fälle schien der Staatsanwältin der AgT Imfang nicht weiter ermittlungsbedürftig.«

»Das war ein Fehler«, sagte Kauz. Vielleicht eine Spur zu direkt, denn Korporal Ritz sah etwas betreten drein. »Nun ja, Fehler passieren überall«, schwächte Kauz ab und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. »Mir selbst ja auch. Aber jetzt musst du dafür sorgen, dass eine Autopsie gemacht wird. Oder dass der Leichnam wenigstens auf der Rechtsmedizin ordentlich untersucht wird. Und auch, dass im Speicher nach Spuren gesucht wird. Ich bin extra noch nicht hineingegangen.«

»Das kann ich nicht anordnen.«

»Aber beantragen. Ruf die Staatsanwaltschaft an. Oder deinen Chef, so wie das bei euch eben läuft. Nenn ihnen die Fakten.«

»Ist es fürs Spurensammeln nicht längst zu spät?«

»Für vieles schon, das stimmt leider. Aber nicht für alles. Hier«, sagte Kauz, zog die transparente Plastiktüte mit dem Kälberstrick aus seiner Jackentasche und legte ihn vor ihr auf den Tisch. »Immerhin, das Teil hier wurde versiegelt. Von wem, weiß ich nicht. Vielleicht vom Bestatter. Vater Imfang war sicher, dass dieser Strick nicht aus dem eigenen Stall stammt. Ihre Stricke würden anders aussehen. Ohne diesen eingewobenen roten Zwirn. Wenn an Wendelin Imfangs Händen keine Faserspuren dieses Stricks zu finden sind – und die fänden die Kriminaltechniker, wenn er den Strick selbst in den Händen gehabt hätten –, dann ist das ein Beweisstück für die Mordthese. Dann müsste man nach DNA-Spuren des Mörders auf dem Strick suchen. Abgesehen davon dürfte sich der Kriminaltechniker für die Schlingen und die Knoten in diesem Strick interessieren. Da kann man nämlich eine ganze Menge herauslesen.«

Ria Ritz kam die Situation blamabel und gleichzeitig ein bisschen witzig vor: Da machte ein Üsserschwiizer Kriminalpolizist a.D. mit dem Gommer Namen Walpen sie auf einen möglichen Mordfall aufmerksam, bei dem sie selbst, der Bezirksarzt und die Staatsanwältin nicht den geringsten Verdacht geschöpft hatten. Wie oft haben wir wohl hier oben im Goms schon einen Mord übersehen?, fragte sie sich. Außergewöhnliche Todesfälle sind ja gar nicht mal so selten.

*

Zwei Stunden später rief Polizeikorporal Ria Ritz den Polizeidienstchef a.D. Alois Walpen, alias Kauz, auf seinem Handy an und teilte ihm mit, die Oberwalliser Staatsanwaltschaft habe verfügt, dass im AgT Imfang weiter ermittelt werde. Der Leichnam werde beim Bestatter abgeholt, auf die Rechtsmedizin in Sitten und, wenn erforderlich, für die Autopsie nach Bern überstellt.

Kauz atmete auf. Jetzt kommt es gut, dachte er.

Die Bestattung könne voraussichtlich trotzdem wie vorgesehen stattfinden, vermeldete Ria Ritz. Die Kripo übernehme den Fall. Sie selbst habe jetzt nichts mehr damit zu tun. Es könne sein, dass er als Auskunftsperson noch einmal befragt werde. Er solle sich deshalb zur Verfügung halten. Der Speicher werde noch heute Vormittag unter die Lupe genommen, die Kriminalisten seien schon unterwegs.

»Noch etwas, Walpen«, sagte sie und schlug plötzlich einen sehr formellen Ton an: Der Kommandant verbiete ihm ausdrücklich, auf eigene Faust zu ermitteln. Wenn man die Dienste der Kripo Zürich in Anspruch nehmen wolle, werde man sich direkt an sie wenden.

Zicke!, dachte Kauz. Aber er nahm sich zusammen.

»In Ordnung«, sagte er kühl.

Er klappte sein Handy zusammen und steckte es ein. Eigentlich hatte er nichts anderes erwartet. Bei der Kripo Zürich hätte man genau gleich gehandelt. Nur der Tonfall missfiel ihm. Er erinnerte ihn an eine gewisse Frau Doktor van Hooch. Na egal, mit Ria Ritz würde er wohl ohnehin nichts mehr zu tun haben.

Mit dem Hund im Dorf unterwegs, fragte er in sämtlichen Läden, am Bahnhof, am Postschalter und auch sonst jeden Menschen, dem er auf der Straße begegnete, nach dessen Besitzer. Die Leute schauten sich das Tier an und schüttelten den Kopf. »Keine Ahnung«, kam die immer gleiche Antwort, »nie gesehen.«

Er ging in den Dorfladen, um sich mit Lebensmitteln einzudecken. Außerdem brauchte er einen Futternapf, Hundefutter und eine Leine.

Der Dorfladen war kürzlich zu einem Selbstbedienungsladen aufgemotzt worden, aber die behäbige Frau an der Kasse war dieselbe, die ihn früher persönlich bedient hatte. Sie erkannte ihn wieder – nicht mit Namen, aber am Gesicht – und sprach ihn an, als wäre er erst gestern einkaufen gekommen.

»Tragisch, das mit dem Wendel, gältät?«, sagte sie. »Die armen Eltern. Was passiert jetzt mit dem Speicher?«

»Wieso?«, fragte er zurück. »Was soll damit passieren?«

Es wüssten doch alle, klärte sie ihn auf, dass der Z’Blatten Anton hinter Wendel Imfangs Speicher her sei. Aber Wendel habe partout nicht verkaufen wollen. Die Eltern würden den Speicher bestimmt nicht mehr halten können. Oder halten wollen. Es gebe ja keine Erben.

Und die Enkelin in Kanada?, dachte Kauz. Weiß man hier nichts von ihr?

»Ist der Speicher denn so wertvoll?«, fragte er.

»Der Speicher vielleicht nicht. Der ist viel zu klein, das wisst Ihr ja selber. Aber das Land drum herum.«

Sie durfte ihn nicht so ohne Weiteres duzen. Man kannte gegenseitig ja keine Namen. Das Ihr statt des Sie fasste Kauz als eine Form von Vertraulichkeit auf.

»Das Land? Ist doch gar nicht so viel. Höchstens ein paar Aren. Und alles Landwirtschaftszone, kein Bauland.«

»Äbä!«, lachte die Frau. Aber mehr war nicht aus ihr herauszubekommen. »Ihr kennt den Z’Blatten Anton nicht«, raunte sie ihm zu, ehe er mit seinen Einkäufen hinausging.

Die Sache ließ ihm keine Ruhe.

Dem Verbot des Kommandanten musste er sich fügen, so viel war klar. Aber diesen Z’Blatten musste er unbedingt kennenlernen. Ein paar Auskünfte einholen, das konnte ihm niemand verwehren. Er beschloss, am Nachmittag auf der Gemeindeverwaltung damit anzufangen. Er konnte nicht einfach die Hände in den Schoß legen, das war er Wendel schuldig. Und noch etwas war er ihm schuldig: Er hatte Jahr für Jahr angekündigt, er werde auf der Geissalp vorbeikommen.

Chumm nummä, hatte Wendel gesagt, nur zu!

Aber Kauz hatte die Wanderung, aus Bequemlichkeit oder weil das Wetter gerade nicht mitspielte, immer wieder hinausgeschoben. Die würde er jetzt nachholen.

Ehe er aus dem Laden ging, zeigte Kauz auf den Hund, der draußen wartete, und fragte die Frau, wem er gehöre.

»Keine Ahnung«, war auch dieses Mal die Antwort. »Den habe ich hier noch nie gesehen.«

Die Einkaufstasche in der Hand, den Hund neben sich – eine Leine hatten sie im Laden nicht gehabt –, ging Kauz zu Wendels Speicher. Auf der Langen Gasse klingelte es in seiner Hosentasche. Er stellte die Einkäufe auf die Straße und fischte das Handy wieder heraus.

»Hallo?«

»Herr Walpen? Walpen Alois? Kriminalpolizei Wallis, Gsponer«, meldete sich eine Männerstimme.

Den Alois wollte Kauz lieber nicht gehört haben. »Ja«, meldete er sich bloß. »Man hat mir gesagt, dass Sie kommen. Wann sind Sie in Münster?«

»Wir stehen vor dem Speicher«, lautete die Antwort.

Der Speicher war in Sichtweite. Zwei Personen standen davor. Kauz kam näher, stellte die Einkaufstasche ab und zog den Schlussel, den die alte Frau Imfang ihm beim Bestatter zugesteckt hatte, aus der Jackentasche.

»Alain Gsponer«, stellte sich der Mann vor. »Inspektor. Das ist Marie Matthey, Kriminaltechnikerin.«

Kauz gab beiden die Hand. Die Art, wie Inspektor Gsponer sich vorstellte – Vornamen zuerst, den Inspektor zuletzt –, ließ erkennen, dass er auf das kollegiale Du vorbereitet war, es aber nicht als Erster benutzen wollte. Natürlich wussten die beiden längst über ihn Bescheid.

»Kauz«, sagte er deshalb und gab ihnen die Hand. Dann entschuldigte er sich für einen Augenblick, ging mit dem Hund, dem Futternapf und dem Futter in den Ziegenstall. Er setzte dem Hund das Futter vor und hieß in warten.

»Wie gehen wir vor?«, fragte Gsponer, als Kauz wieder bei ihm stand.

Gsponer war lässig in Jeans und Freizeithemd gekleidet und trug etwas geckenhafte, spitz zulaufende Lederschuhe. Er hatte ein vernarbtes Gesicht, vermutlich eine Folge von starker Akne als Jugendlicher. Eine Zigarette steckte zwischen seinen Lippen. Kauz hielt ihn auf den ersten Blick für einen mit allen Wassern gewaschenen Kerl und dachte, dass er gut in das Team passen würde, das er bis letzte Woche noch geleitet hatte. Das gab ihm einen Stich ins Herz. Er war nicht nur mit Leib und Seele Polizist, er war auch mit ganzem Herzen Team- und Dienstchef gewesen. Er hatte vielleicht nicht viele private Freunde, aber er liebte seine Polizisten und setzte sich für sie ein, wo er nur konnte. Gerade deshalb war er ja entlassen worden.

»Nicht wir. Ihr«, sagte Kauz. »Ich halte mich da raus.«

Gsponer, der in diesem Zweierteam offensichtlich den Lead hatte, widersprach nicht.

Kauz drückte ihm den Schlussel in die Hand. Aber er kam trotzdem mit.

Gsponer öffnete, und sie gingen hinein. Mitten im Raum stehend, zeigte Kauz als Erstes auf den Haken am Deckenbalken, an dem Wendel gehangen hatte. Er öffnete sein Handy und lud die Bilder herunter, die er gemacht hatte. Gsponer warf einen Blick darauf und fragte:

»Kann ich die haben?«

Er gab Kauz seine Nummer, Kauz tippte sie ein, ein paar Sekunden später hatte Gsponer die Fotos vom hängenden Wendelin Imfang auf seinem Smartphone.

Gsponer erklärte, er sei von der Staatsanwältin mit der Ermittlung in Sachen Imfang und dem damit wohl zusammenhängenden Verkehrsunfall mit Fahrerflucht beauftragt worden.

Kauz sagte ihnen alles, was sie wissen mussten, auch das von den Willkommensgaben. Die Einkaufstasche, die Wendel in den Speicher gebracht hatte, stand noch genau dort, wo sie am Freitag gestanden hatte. Kauz teilte ihnen auch seine Beobachtungen beim Bestatter mit. Als er den Strick erwähnte, holte Marie Matthey diesen, noch immer in der Plastiktüte, aus ihrem Koffer. Sie hatte ihn auf der Fahrt nach Münster bei Ria Ritz auf dem Posten Fiesch abgeholt.

Zum Schluss zeigte Kauz ihnen die Blechbüchse auf dem Küchenregal, in welcher der Schlüssel zum Oberbau des Speichers sein sollte. Marie Matthey, jetzt in Gummihandschuhen, öffnete die Büchse und nahm den Schlüssel heraus.

Bevor er ging, wollte Kauz noch wissen, ob sie den Jeep-Pick-up auf dem Hof im Milifäld schon untersucht hätten. Um den würde man sich kümmern, wenn man hier fertig sei, war die Antwort. Also irgendwann am Nachmittag.

»Platz!«, befahl Kauz vor dem Hof auf dem Milifäld – der Hund gehorchte aufs Wort – und hieß ihn vor der Tür warten. Kauz verließ sich bereits darauf, dass er ihn verstand. Er wollte wissen, ob er noch irgendetwas für Wendelins Eltern tun könne. Die Imfangs hatten schon Besuch, als Kauz zum zweiten Mal bei ihnen anklopfte. Valentin Lagger, der Sohn vom Nachbarhof, saß bei ihnen am Tisch.

»Das ist Herr Walpen aus Zürich«, sagte Frau Imfang.

»Ich weiß«, brummte Valentin. »Tag woll«, fügte er hinzu und reichte ihm im Sitzen die Hand.

Kauz setzte sich zu den dreien an den Tisch.

Valentin war ein kräftiger Bursche mit rötlich blondem Haarschopf. Sein breites, offenes Gesicht mit den blauen Augen und geröteten Wangen war staubig und in seinen Haaren steckten ein paar Halme. Er kam vom Heuen. Seine großen Hände lagen schwer auf der Tischplatte. Er war wohl um die dreißig und trug einen Ehering am Finger. Seine Ruhe, seine gesunde Ausstrahlung wirkten sich in dieser traurigen Situation wohltuend aus. Frau Imfang stützte sich auf seiner breiten Schulter ab, als sie ihm eine Schale Milchkaffee vorsetzte. Sie ließ ihre Hand eine Weile dort ruhen, bis sie sich selbst setzte.

»Danke, Hermine.«

»Wir danken«, erwiderte Frau Imfang. »Dass du das alles machst. Im Stall und auf der Alp. Und das Heuen. Das ist flott von dir. Äns flott.«

»Scho güät«, meinte Valentin. »Ist ja gar nicht so viel.«

»Woll äppä«, insistierte sie.

»Äwa.«

»Fiiwoll. Das Heuen auf alle Fälle schon.«

Das ging eine Weile hin und her, bis Valentin sich Kauz gegenüber erklärte: Im Stall gebe es nicht mehr viel zu tun, da müsse er nur ab und zu einen Blick hineinwerfen. Wendels Kühe seien auf der Alp, die Ziegen auch. Dort würden die Sennen die Arbeit machen. Etwas Zusatzarbeit gebe bloß das Heuen. Und Wendels Wiesland werde von den Minstiger Bauern gemeinsam gemäht. Jeder mache, was er eben könne.

»Ja, du aber am meisten«, sagte Frau Imfang dazwischen.

Valentin winkte ab. Wendels Wiesland bestehe aus vielen einzelnen Parzellen, weit über das Gemeindegebiet verstreut und darüber hinaus. So sei das eben im Goms, mit dem Boden seines Vaters sei es auch nicht anders. Das Heu vom Wiesland rund um den Speicher bringe man dann in Wendels Stadel an der Langen Gasse. Das sei für die Ziegen. Der größere Teil des Heus, das für die Kühe, komme hier auf dem Milifäld in die Scheune. Im Übrigen gehe er ab und zu auf die Alp. Das gehe in einem, seine eigenen Kühe seien ja auch dort oben. Ziegen habe er selber keine, aber heute Nachmittag schaue er auf der Geissalp, wie es um Wendels Ziegen stehe.

»Kann ich mitkommen?«, fragte Kauz rasch.

»Schoo«, meinte Valentin trocken.

Kauz fragte sich, wie es wohl mit Wendels Hof und mit seinem Speicher weitergehe. Aber er wagte es nicht, die Eltern darauf anzusprechen. Wendel war ja noch nicht einmal beerdigt. Beerdigt!, dachte er. Obduziert wird er, nicht beerdigt, oder auf alle Fälle rechtsmedizinisch untersucht, vielleicht gerade jetzt, in diesem Augenblick.

Valentin besprach mit Vater Imfang noch ein paar Dinge, die getan werden mussten, dann stand er auf und ging.

»Also: um vier Uhr bei Wendels Speicher«, sagte er im Gehen zu Kauz.

Als er draußen war, wandte sich Frau Imfang an Kauz.

»Eine Frau Stockalper hat angerufen«, sagte sie. »Von der Staatsanwaltschaft, wissen Sie. Der Wendel müsse opuziert werden, oder wie man dem sagt. Man hole ihn beim Bestatter ab und bringe ihn dann später wieder zurück. Wieso, hat sie nicht gesagt. Können Sie uns das sagen? Sie wissen das sicher.«

Kauz wand sich. Das sei eben so, wenn einer sich das Leben nehme. Man wolle genau wissen, woran er gestorben sei.

Das wisse man doch, wunderte sich die Frau. Er habe sich halt erhängt. Sie tupfte sich eine Träne ab. Und noch eines verstehe sie nicht: das mit Wendels Jeep. Sie hätten gar nicht gewusst, dass er hinter der Scheune stehe. Wendel habe am Donnerstagabend gesagt, er habe ihn auf der Geissalp stehen lassen. Für die Anna und ihren Gehilfen. Damit sie den Käse in die Käserei bringen und Kommissionen machen können. So habe er es oft gemacht. Jetzt stehe er aber hinter der Scheune und die Polizei müsse ihn untersuchen. Habe Frau Stockalper von der Staatsanwaltschaft gesagt. Wieso denn?

Kauz spielte den Ahnungslosen. Denn vom Verdacht, Wendel könnte den Verkehrsunfall verursacht und den Gemeindeschreiber umgefahren haben, wussten die Eltern noch nichts.

Eine Weile saßen sie zu dritt am Tisch und schwiegen.

»Der Z’Blatten Anton hat unseren Wendel auf dem Gewissen«, sagte Frau Imfang unvermittelt. Sie schaute Kauz dabei gerade ins Gesicht.

Ihr Mann schreckte zusammen. »Um Gottes willen! Was sagst du da?«

Sie schaute durch ihn hindurch.

»Ist doch so. Er hat ihn in den Tod getrieben.«

»Hermine! Das darfst du nicht sagen. Du versündigst dich!«

»Ich sag nur, wie’s ist«, wiederholte sie.

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