Читать книгу: «Gommer Sommer», страница 3

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Kauz kannte die knorrige Art der Gommer Männer. Er war ja selbst aus diesem Holz geschnitzt. Er setzte sich an einen separaten Tisch und gab der Serviertochter einen Wink: »Schtangä!«

Die Serviertochter stellte das Bier vor ihn auf den Tisch: »Gsundheit!«

Er fühlte sich hundeelend beim Gedanken daran, dass er jetzt ohne Wendel hier sitzen musste. Trotzdem nahm er einen großen Schluck. Bhüeti!, dachte er und stieß innerlich mit ihm an. Oder was soll man einem Toten wünschen?

Eine Weile war es still im Lokal. Dann wurde das Gespräch, das wohl seinetwegen unterbrochen worden war, wieder aufgenommen. Es drehte sich um einen Verkehrsunfall, der sich am Morgen zugetragen hatte. Der Fahrer war abgehauen. Man überbot sich mit Vorschlägen, wie man mit dem Flüchtigen verfahren müsste. Offenbar hatte der flüchtige Fahrer einen Einwohner namens Hubert angefahren und schwer verletzt. Hubert liege im Spital Visp im Koma, wusste der eine. Ach was, er sei nach Bern ins Inselspital geflogen worden, meinte ein anderer. Nein, er sei tot, behauptete ein Dritter.

Nach einer Weile betrat ein weiterer Gast die Gaststube. Er blieb neben dem Stammtisch stehen.

»Hedär keert?«

»Was?«

Der neue Gast sah sich mit einem misstrauischen Blick nach Kauz um. Dann raunte er denen am Stammtisch etwas zu.

»Was? Schandarmä? Bim Wändel schim Schpiichär?«

»Gwiss!«

»Wägä was?«

Kauz hörte wieder ein Raunen.

»Was?! Toot? Bischt sichär?«

»Fiiwoll!«

»Dr Gottswillä!«

Die traurige Nachricht machte also schon die Runde. Sie würde sich wie ein Lauffeuer durch das Dorf und das ganze Tal verbreiten. Kauz blieb sitzen. Mit halbem Ohr schnappte er Dinge auf, die am Stammtisch gesprochen wurden. Alle zeigten sich schockiert. Es war klar, dass niemand Wendels Tod erwartete hatte, schon gar nicht einen Selbstmord. Keiner sprach ein böses Wort. Offensichtlich war Wendel ein respektierter und geschätzter Minstiger gewesen. Seine Eltern, wollte man den Worten glauben, taten allen schrecklich leid.

Es hielt Kauz nicht länger. Er legte das Geld für das Bier auf den Tisch, stand auf und wandte sich zum Gehen.

»Was ischt das fär eenä«?, hörte er einen in seinem Rücken tuscheln, ehe sich die Tür hinter ihm schloss.

Er nahm den Weg durch die Lange Gasse.

Der Streifenwagen stand immer noch auf der mit einem Fahrverbot belegten Straße, daneben ein beiger Subaru. Der Bezirksarzt ist da, vielleicht auch der Staatsanwalt, schloss Kauz. Ein Leichenwagen fuhr eben vor. Die Umstehenden wichen zurück und verzogen sich zwischen die Ställe und Stadel auf der andern Straßenseite. Jetzt bereute Kauz, dass er beim Warten auf die Polizei nicht aufgelesen hatte, was er auf der Erde hatte liegen sehen. Langsam näherte er sich Wendels Ziegenstall und hob die nur halb gerauchte Zigarette, die immer noch zwischen Stall und Stadel auf dem Boden lag, mit einem Papiertaschentuch auf. Darin eingewickelt steckte er sie ein.

Die Speichertür ging auf, zwei Männer trugen einen hölzernen Sarg heraus und luden ihn in den Leichenwagen. Die Menschen ringsum hörten auf zu tuscheln. Eine alte Frau schlug das Kreuz und murmelte ein Gebet. Eine andere schluchzte auf und hielt sich die Hand vor den Mund, wieder eine wischte sich Tränen aus dem Gesicht. Ein Greis nahm die Mütze ab und senkte den Kopf.

Auch Korporal Ria Ritz trat heraus. Sie sah Kauz sofort und kam auf ihn zu. Aller Augen richteten sich auf ihn.

»Tut mir leid, Herr Walpen, Sie können Ihre Ferienwohnung noch nicht beziehen«, sagte sie.

»Das ist mir klar.«

Wieso sind Sie dann zurückgekommen?, fragte ihr Blick.

»Ist die Leiche freigegeben?«, fragte Kauz. Er wusste genau, dass ihm eine Antwort nicht zustand, aber er konnte es ja versuchen. Er hoffte, dass sie Nein sagen würde.

»Wie Sie sehen, transportiert der Bestatter sie soeben ab. Mehr darf ich nicht sagen, Herr Walpen. Sie sind ja kein Angehöriger.«

»Ich möchte bloß wissen, wann ich den Speicher beziehen kann«, gab er vor. In Wirklichkeit eilte es ihm damit gar nicht.

Vielleicht um ihn loszuwerden, antwortete sie dennoch: »Der Bezirksarzt hat den Toten untersucht. Und die Staatsanwältin in Visp hat entschieden, dass es keine weiteren Ermittlungen braucht. Das heißt, wenn nichts Unerwartetes zum Vorschein kommt, wird der Speicher morgen oder übermorgen freigegeben. Oder sagen wir: spätestens am Montag.«

Kauz verkniff sich einen Einwand. Habe ich mich wirklich getäuscht, fragte er sich. War es doch Selbstmord?

Er ging auf sein Zimmer in der Alpenrose.

Lust auf ein Nachtessen verspürte er keine.

Wenn nichts Unerwartetes zum Vorschein kommt, hatte die Polizistin gesagt. Nun ja, vermutlich wurde Wendels Leiche nach der Legalinspektion vor Ort noch rechtsmedizinisch untersucht. Dann würde man Verdacht schöpfen oder Gewissheit haben und den AgT Imfang als Tötungsdelikt behandeln. Vielleicht mahlten die Mühlen der Justiz hier einfach etwas langsamer.

Er legte sich ins Bett und lag noch lange wach. Nicht nur der Tod seines Freundes ließ ihm keine Ruhe. Auch seine schmähliche Entlassung aus dem Polizeidienst begann ihn plötzlich wieder zu wurmen. Es waren mittlerweile noch mehr Anrufe und Nachrichten von seinen Kollegen eingetroffen. Sie wollten wissen, wo er war und wie es ihm gehe. Er kam sich plötzlich schäbig vor, weil er einfach abgehauen war, ohne sich noch einmal mit ihnen zu treffen. Er rief einige seiner Polizisten an, bei andern meldete er sich per SMS. Er erklärte sich so gut es ging, und alle zeigten Verständnis für seinen Abgang. Sie wünschten ihm erholsame Ferien und nahmen ihm das Versprechen ab, sich wieder zu melden, sobald er zurück sei.

Vom außergewöhnlichen Todesfall im Goms sagte er nichts.

Nachts erschien ihm Frau von Hooch im Traum: Sie saß majestätisch auf ihrem Thron. Eine lange Reihe von Polizisten stand im Festsaal bereit, um von ihr den Ritterschlag zu empfangen, Senn als Erster. Frau von Hooch berührte mit dem Degen die Schulter des Kripochefs. Der frisch Geadelte stand auf, verneigte sich und ging von dannen. Als Kauz an die Reihe kam, war es kein Degen mehr, den Frau von Hooch in der Hand hielt, sondern ein Zweihänder: Das ist kein Ritterschlag!, konnte er gerade noch denken, als sie ausholte. Da schreckte er in seinem Bett hoch und griff sich an den Hals.

Samstag, 1. Juli

In der Früh ertönte von der Pfarrkirche her Glockengeläut: Die größte, tiefste Glocke wurde als erste geschlagen, dann stimmten allmählich die anderen und schließlich die kleinste ein. Es dauerte fast eine halbe Stunde, drei mal sieben Minuten. Mit einem Mal erinnerte sich Kauz, was ihn seine Großmutter gelehrt hatte: Das war das Totengeläut für einen Mann. Jetzt wusste es das ganze Dorf, dass ein Einwohner gestorben war. Die Neugierigen würden den Sigristen anrufen, um zu erfahren, wer es war. Wer es nicht schon gestern erfahren hatte, wusste spätestens an diesem Morgen, dass Wendelin Imfang tot war.

Eigentlich hatte er den Eltern Imfang einen Kondolenzbesuch machen wollen, aber als er sich dem Hof auf dem Milifäld näherte, standen schon andere vor der Haustür. Da wollte er mit seinem Besuch lieber noch zuwarten.

Er entschied sich, mehr schweren als leichten Herzens, für eine erste kleinere Wanderung. Sein Vorhaben war, vorerst im Obergoms zu wandern und erst allmählich in die Ferne zu schweifen. Er ging zur Alpenrose zurück, packte seine Kamera und etwas Proviant ein und stieg auf sein Motorrad. Die Fahrt ging über Geschinen und Ulrichen, an der Abzweigung der Nufenenpassstrasse vorbei, nach Obergesteln und Oberwald. In gut zehn Minuten war er dort. Ganz zuhinterst, im Dorfteil Unterwasser, stellte er die Maschine ab und nahm den Wanderweg Richtung Furkapass unter die Füße.

Schutzhund bewacht die Herde, hieß es weiter oben auf einer Tafel. Gut so, dachte Kauz. Aber auf eine Diskussion über den Wolf würde er sich mit einem Gommer auf keinen Fall einlassen, nicht einmal mit einem Schutzhundehalter.

Er hatte nicht vor, bis ganz auf den Pass hinaufzumarschieren. Ihm genügte es, einen Aussichtspunkt zu finden. Nach einer guten Stunde kam er auf einer Alp an. Er setzte sich vor die Hütte. Keine Menschenseele war zu sehen. Ein Murmeltier stand aufrecht auf einem Felsbrocken, pfiff und verschwand. Weiter oben blökten Schwarznasenschafe.

Das war genau der Punkt, den er gesucht hatte. Die Aussicht war unbeschreiblich schön. Das Goms lag ihm in seiner ganzen Pracht zu Füßen. Die Sonne stand noch in seinem Rücken.

Kauz nahm seinen Fotoapparat hervor, fixierte ihn auf dem Ministativ, stellte Blende und Belichtung ein und prüfte das Bild auf dem Display, bevor er abdrückte. Farbbilder schoss er, wenn ihm danach war, mit seinem Handy. Aber mit seiner Spiegelreflexkamera wollte er sich in der digitalen Schwarzweißfotografie üben.

Sein Vater war Hobbyfotograf gewesen und hatte zu Hause im Keller eine kleine Dunkelkammer eingerichtet. Als Zehnjähriger hatte Kauz dort die geheimnisvolle Verwandlung vom simplen Papierstreifen in schwarz-weiße Bilder miterlebt. Vor Jahren hatte er einen Kurs in Schwarzweißfotografie besucht. Nur hatte er dieses Steckenpferd, wie so manches andere auch, später vernachlässigt. Jetzt hatte er endlich Zeit, seine bescheidenen Vorkenntnisse aufzufrischen.

Er war gespannt darauf, wie sich diese bunte Landschaft als Schwarzweißbild präsentieren würde: Wie ein Flickenteppich in verschiedenen Grüntönen breitete sich der Talboden aus – hellere und dunklere Gevierte, gemähte und noch ungemähte Wiesenparzellen –, der Länge nach durchzogen von einem blauen Band, dem Rotten. Daran reihten sich in regelmäßigen Abständen die sechs, sieben Dörfer des Ober- und des Mittelgoms, die man von hier aus sehen konnte. Die bewaldeten Bergflanken fassten diese Vignette von den Seiten her ein, geradeaus bildete das Weisshorn den grandiosen Abschluss. Darüber wölbte sich ein wunderbar blauer Himmel. Und mitten durch diese unbewegte Landschaft schlängelte sich, von ferne wie eine Spielzeugeisenbahn anzusehen, der aus fünf Waggons bestehende rote Zug der Matterhorn-Gotthard-Bahn.

Kauz fühlte sich wie in einer andern Welt.

Das Glück war von kurzer Dauer. Schon war der Gedanke an Wendel wieder da und ließ ihn nicht mehr los. Was war geschehen? Hatte ihn seine Intuition getäuscht? Hatte Wendel sich doch umgebracht? Er fühlte sich ohnmächtig. Wenn er gedurft hätte, so hätte er sich in den Fall verbissen, hätte alles getan, um Gewissheit zu erlangen. Aber er durfte nicht. Er musste sich ganz heraushalten.

Kauz stand auf und machte sich auf den Rückweg. Er nahm den Pfad über den Kummerberg. An einer Wegbiegung sah er ein Tier mit spitzen Ohren und langem Schwanz, vielleicht ein sehr dunkler Fuchs, über den Trampelpfad huschen. Zu seiner Verwunderung blieb das Tier in einiger Distanz stehen, drehte sich nach ihm um, duckte sich in einen Graben und schaute ihn aus schwarzen Augen an.

Kauz blieb stehen und kauerte sich auf den Boden.

Das konnte kein Fuchs, es musste ein Hund sein. Das Tier, nur wenig größer als ein Fuchs, hatte aber längere Beine, kam aus dem Graben gekrochen und bewegte sich in geduckter Haltung, immer fluchtbereit, aber verhalten mit dem Schwanz wedelnd, auf ihn zu.

»Komm her«, lockte Kauz.

Der Hund kam leise winselnd näher. Er sah ziemlich ausgemergelt und verwahrlost aus. Augenblicklich regte sich der Tierfreund in Kauz. Er kramte in seinem Rucksack, der Hund legte sich in einigen Metern Abstand auf den Boden und beobachtete ihn aufmerksam. Kauz brach etwas von seinem Sandwich ab und warf es dem Hund zu. Der schnappte sich den Bissen und schlang ihn hinunter.

Kauz rührte sich nicht.

Allmählich kam der Hund näher. Kauz richtete sich auf, sofort nahm der Hund Reißaus. Dann blieb er stehen, drehte sich um und kam, den Bauch fast am Boden, erneut näher. Schließlich legte er sich, aufgeregt wedelnd, vor Kauz auf den Bauch. Kauz streckte die Hand aus. Der Hund flüchtete erneut, und das Spiel begann von vorn.

Doch nach kurzer Zeit war es so weit: Der Hund leckte Kauz die ausgestreckte Hand und ließ sich den Kopf tätscheln. Er warf sich vor ihm auf den Boden, wälzte sich auf den Rücken, rappelte sich auf und versuchte, an Kauz hochzuspringen. Übermütig drehte er ein paar Runden, tollte wie wild durch den Wald hinunter und wieder herauf und blieb herausfordernd bellend vor Kauz stehen.

»Du bist mir einer«, lachte Kauz. »Wo gehörst du denn hin? Auf die Alp? Dann jetzt aber marsch, zurück«, sagte er nach einer Weile streng und schickte den Hund mit einer Armbewegung weg. Der Hund trollte sich, aber als Kauz weiterging und sich später umdrehte, sah er, dass der Hund ihm in respektvollem Abstand folgte. Wenn er sich entdeckt fühlte, legte er sich sofort platt auf den Boden. Kaum ging Kauz weiter, schlich ihm der Hund hinterher. Er gehörte wohl doch nicht auf die Alp. Den Eindruck eines Schutzhundes machte er jedenfalls nicht.

Auf einmal stand Kauz vor den Überresten eines Berggasthauses. Unterhalb der Ruine setzte er sich auf einen Stein und schaute ins Tal.

»Wunderbare Aussicht, nicht wahr?«, sagte eine Stimme.

Kauz drehte sich um und sah nach oben: Da stand eine sportliche Frau, vermutlich etwas jünger als er, mit markantem Gesicht und Kurzhaarschnitt, im dunklen Haar ein paar graue Strähnen. Ihr Outfit sah mehr nach Läufer- als nach Wanderkleidung aus. Sie stand auf den Brettern, die einst die Sonnenterrasse des Berggasthauses gebildet hatten, hielt ein Fernglas in der Hand und sah lachend auf ihn herab.

»Habe ich Sie erschreckt?«

»Ein bisschen. Ich war nicht darauf gefasst, hier jemanden anzutreffen«, sagte Kauz. »Ist das Ihr Hund?«

»Welcher Hund?«, fragte die Frau zurück.

Kauz blickte um sich. Aber da war kein Hund mehr. Er erzählte kurz von seiner Begegnung.

»Nein, ich habe keinen Hund. Er wird auf die Alp gehören«, mutmaßte die Frau und blickte durch das Fernglas.

»Was sieht man?«, fragte Kauz.

»Viel«, antwortete die Frau. »Wenn man weiß, wohin man schauen und wonach man suchen muss: Schwarznasenschafe, Murmeltiere, Steinböcke.«

Ob sie oft hierherkomme, wollte Kauz wissen.

Wann immer es gehe, war die Antwort, wenn möglich jede Woche einmal, steige sie zu diesem Aussichtspunkt hoch. Im Sommer wie im Winter. Im Winter mit Schneeschuhen. Das müsste eigentlich jeder Gommer tun. Und die Auswärtigen erst recht.

»Dann wohnen Sie im Goms?«

»Ja, in Münster. Und Sie?«

»Ich mache in Münster Ferien.«

»Das freut mich«, sagte die Frau. »Hotel oder Ferienwohnung? Entschuldigen Sie, wenn ich so neugierig frage. Aber mir liegt es am Herzen, dass sich die Leute bei uns wohl fühlen.«

»Arbeiten Sie für den Verkehrsverein?«

»Sozusagen«, lachte die Frau.

»Ich wohne in der Alpenrose. Aber übermorgen kann ich hoffentlich in den Speicher ziehen, den ich gemietet habe.«

»Ach, Gott«, sagte die Frau. »Etwa in Wendelin Imfangs Speicher?!«

Kauz brauchte nicht zu antworten, die Frau wusste, dass sie richtig kombiniert hatte. Kleine Welt, dachte Kauz.

»Sein Tod macht uns alle traurig«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie haben trotzdem schöne Ferien. Ich steige direkt ab, aber wenn ich Ihnen einen anderen Rückweg empfehlen darf: Gehen Sie über Lärch. Dort hinunter, zur Kapelle, dann bei den baufälligen Ställen links abbiegen«, sagte sie und zeigte mit dem Arm die Richtung.

Kauz bedankte sich und nahm den Weg über Lärch.

Als er sich den halb verfallenen Ställen und Stadeln näherte, war der Hund plötzlich wieder da. Offenbar hatte er einen weiten Bogen um die Gasthausruine gemacht, vielleicht weil er merkte, dass Kauz dort nicht allein war. Kauz blieb wiederholt stehen und schickte den Hund mit strenger Stimme weg. Doch er ließ sich nicht mehr abschütteln. Zwar machte er jedes Mal zum Schein kehrt, doch kaum ging Kauz weiter, kam er wieder und folgte ihm im Abstand von zehn, zwanzig Metern, bis ins Tal.

Bei seinem Motorrad angekommen, wurde es Kauz weh ums Herz: Der Hund schnüffelte mit Inbrunst am Motorrad und an den Satteltaschen, setzte sich, als Kauz sich den Helm überstülpte, vor ihm auf den Boden, wedelte mit dem Schwanz und guckte ihn, mit schräggelegtem Kopf, die Ohren gespitzt, erwartungsvoll an. Auf seiner Brust leuchtete ein kleiner weißer Fleck.

Was soll ich bloß tun?, dachte Kauz.

Er konnte den Hund unmöglich mitnehmen. Bestimmt gehörte er auf einen Hof im Oberen Goms, oder es gab einen Feriengast, der ihn vermisste und schon längst auf ihn wartete.

Er tätschelte den Hundekopf und gab ihm einen Klaps auf den Hintern.

»Geh nach Hause!«, sagte er halbherzig und schickte ihn mit einer Handbewegung weg. Dann kickte er seine alte BMW an, schwang sich in den Sattel und fuhr los. Es brach ihm fast das Herz, als er, über die Schulter zurückblickend, den Hund hinter dem Motorrad herrennen sah. Er rannte sich fast die Seele aus dem Leib. Kauz gab Gas.

Wieder in der Alpenrose, musste er sich den Rest des Tages ausruhen. Die Wanderung dauerte laut Wegweiser zweieinhalb Stunden. Er hatte gut und gern dreieinhalb gebraucht. Den Gedanken an den Hund versuchte er zu verdrängen. Doch es gelang nicht: Was, wenn er vielleicht doch herrenlos war? Ausgesetzt oder einem Tierquäler entlaufen? Nun hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er das Tier gefüttert und dann seinem Schicksal überlassen hatte.

Am frühen Abend machte er immerhin noch einen Spaziergang durch das Dorf. Er kehrte im Chäsgadä ein, vor welchem Das ganze Jahr Raclette angepriesen wurde. Raclette im Sommer?, fragte er sich. Wieso auch nicht? Er setzte sich an einen der drei kleinen Tische, holte sich eine Walliser Zeitung und bestellte eine Doppelportion, dazu einen Dreier Johannisberg. Er blätterte die Zeitung durch. In den Lokalnachrichten wurde über den Verkehrsunfall in Münster am Vortag berichtet. Es war von einem achtundvierzigjährigen Unfallopfer die Rede, das in Lebensgefahr schwebte. Die Polizei suchte Zeugen des Unfallhergangs und erhoffte sich Hinweise auf das Unfallfahrzeug. Eine Nachricht über den Tod von Wendelin Imfang stand erwartungsgemäß nicht in der Zeitung.

Sonntag, 2. Juli

Die alte Frau saß mit verweinten Augen auf der Eckbank hinter dem Esstisch, ein Taschentuch mit umhäkelten Rändern in der Hand. Ihr Mann saß hilflos neben ihr. Die beiden waren bestimmt über achtzig. Kauz war unsicher gewesen, ob er am Sonntag seinen Besuch machen dürfe. Aber Frau Imfang sagte, alle Verwandten und Bekannten seien schon da gewesen. Sie hatte ihn ohne Umstände hereingebeten.

»Sie sind also der Herr Walpen aus Zürich«, stellte sie fest. »Das ist flott, dass Sie kommen. Äns flott. Wendel hat von Ihnen erzählt, wissen Sie. Er war stolz darauf, dass Sie Jahr für Jahr seinen Speicher mieten. Er hat sich darauf gefreut, dass Sie kommen.«

»Ich habe mich auch auf ihn gefreut.«

»Eben. Das wusste er. Und deshalb verstehen wir nicht …«

Sie schluchzte stumm. Ihr Mann wischte sich mit dem rauen Handballen die Augen.

»Hat er Sorgen gehabt?«, fragte Kauz.

»Sicher«, antwortete die Frau. »Wer hat keine? Aber deswegen …« Wieder hielt sie inne.

»Was für Sorgen?«

»Geldsorgen, wie die meisten. Aber deswegen …« Sie verstummte und fuhr sich über die Augen.

»Und sonst?«

»Der Wolf«, sagte Vater Imfang. »Der machte ihm Sorgen. Es wurden Schafe gerissen, oben auf der Alp.«

Seine Frau schüttelte unwillig den Kopf.

Wendel hatte Ziegen, dachte Kauz, keine Schafe. Und die Ziegen würden sich wehren, hat er mir einmal erklärt. Schafe würden vom Wolf gerissen, nicht Ziegen. Doch dies war nicht der Moment, mit den alten Leuten darüber zu debattieren.

»Wer schaut jetzt nach seinem Vieh?«, fragte Kauz.

»Ein tüchtige junge Frau. Eine ganz liebe. Anna heißt sie. Aus dem Berneroberland, da hatte Wendel Glück. Die meisten Sennen kommen sonst aus dem Ausland. Sie und ihr Gehilfe machen alles, oben auf der Geissalp, auch den Käse. Nicht nur für Wendel, auch für andere Bauern. Sie hüten dort oben über hundert Ziegen.«

»Und die Kühe?«

»Die sind auch auf der Alp.«

»Mit den Ziegen?«

»Nein, auf der andern Seite. Auf dem Chämibodä«, sie zeigte auf die Morgenseite des Tals. »Dort arbeiten den Sommer über zwei Sennen. Die meisten Bauern aus unserem Dorf sömmern die Kühe dort oben.«

»Und sonst?«, fragte Kauz weiter. Er konnte es einfach nicht lassen. Hatte er Feinde?, war er nahe daran zu fragen. Aber diese Polizistenfrage durfte er jetzt nicht stellen. »Gab es Leute, die ihm Schwierigkeiten machten? Oder Angst? Die ihn irgendwie bedrängten? So, dass er sich Sorgen machte?«

»Und sich deswegen das Leben genommen hat, meinen Sie?«, fragte Wendels Mutter zurück. »Ich weiß, Sie sind Polizist. Hat Wendel gesagt. Deshalb fragen Sie so, nicht wahr?« Aber ohne eine Antwort auf ihre Frage abzuwarten, fuhr sie fort: »Bedrängt vielleicht. Aber Angst? Ich weiß nicht. Geschimpft hat er darüber, das schon.«

»Worüber?«

»Dass ihm einer den Speicher abluchsen wollte.«

Kauz horchte auf.

»Das war doch nicht böse gemeint«, schaltete sich der alte Imfang ein.

»Wollte Wendel denn verkaufen?«

»Eben nicht«, gab Frau Imfang zur Antwort. »Auf keinen Fall. Er hat immer gesagt, er wolle den Speicher behalten. Damit wolle er nichts zu tun haben, hat er gesagt.«

»Womit?«

»Mit dieser Überbauung.«

»Ist ja nur ein Plan. Ein Projekt, sagen sie dazu«, fuhr der Alte dazwischen. »Mehr nicht. Geht uns eigentlich gar nichts an, Hermine.«

Seine Frau sah ihn stumm an.

»Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte sie nach einer Weile. »Er war am Donnerstagabend nicht anders als sonst. Das haben wir schon der Polizei gesagt. Ich habe ihm noch die Sachen parat gemacht, die er für Sie in den Speicher bringen wollte. Den Heidelbeerlikör und all das, wissen Sie.«

»Ich weiß. Hausgemacht, nicht wahr?«

»Ja. Und eigener Alpkäse. Den hat er extra vom Chämibodä heruntergebracht. Er hat mir am Donnerstag aufgetragen, noch Roggenbrot, Trockenfleisch und Bier für Sie einzukaufen. Das hab ich gemacht und alles für ihn bereitgestellt.«

Kauz stutzte. Roggenbrot und Trockenfleisch war nicht dabei gewesen.

»Am Freitag in der Früh, wir waren noch im Bett, hat er die Sachen mitgenommen. Er hat am Vorabend gesagt, er würde vor dem Mähen im Speicher vorbeischauen, alles für Sie herrichten und den Schlüssel parat legen.«

Wieder trocknete sie sich die Augen.

»Er wartet auf uns«, sagte sie plötzlich.

»Wie?«, entfuhr es Kauz.

»Wendel ist in Brig aufgebahrt. Beim Bestatter. Wir könnten ihn dort sehen. Morgen, haben sie gesagt. Oder auch heute, obschon Sonntag ist, hat man uns gesagt. Aber …«

Sie hob hilflos die Hände.

»Ich komme mit, wenn Sie wollen«, sagte Kauz rasch. »Ich möchte ihn auch noch einmal sehen.«

»Wirklich? Das wäre flott«, sagte Frau Imfang. »Äns flott«, wiederholte sie. »Valentin, der Sohn vom Nachbarhof, wissen Sie, hat angeboten, mit uns hinzufahren. Aber wir haben ihm gesagt, er soll lieber Wendels Wiesen mähen. Muss man doch, bei diesem Wetter. Damit ist uns mehr geholfen. Haben Sie ein Auto?«

»Nein. Am besten, wir fahren mit der Bahn. Sollen wir morgen fahren? Oder heute noch?«

»Lieber heute«, sagte Frau Imfang, mit einem Blick auf ihren Mann.

Der Alte nickte.

»Der Zug fährt immer zwanzig nach«, sagte sie. »Um zwanzig nach zwei, geht das?«

Kauz blickte auf seine Uhr. Sie zeigte halb eins. »Gut. Wir treffen uns um Viertel nach zwei am Bahnhof.«

Er ging ins Dorf zurück, dann in die Lange Gasse hinein. Der Speicher war noch immer mit einem rot-weißen Klebeband abgesperrt: Police stand darauf. Er ging weiter zur Alpenrose, legte sich aufs Bett und dachte nach.

Um zwei Uhr stand er auf und ging zum Bahnhof.

Der Zug fuhr pünktlich ein. Die zwei alten Leute sahen im Stehen noch kleiner aus als im Sitzen. Frau Imfang im schwarzen Kleid und Mantel, eine Handtasche am Arm und einen Regenschirm in der Hand, ihr Mann im Sonntagsanzug mit schwarzer Krawatte, einen speckigen, alten schwarzen Hut auf dem Kopf.

Sie stiegen ein. Im Abteil setzten sie sich Kauz gegenüber. Sie schwiegen lange.

»Alois«, hob die Frau unvermittelt an, als der Zug nach einem kurzen Halt in Niederwald wieder anfuhr.

Kauz zuckte zusammen. Er hasste es, bei seinem Vornamen angesprochen zu werden. Er konnte ihn nicht ausstehen und hütete sich, ihn preiszugeben. Er stellte sich immer mit Kauz vor, wenn er nach seinem Vornamen gefragt wurde.

Die Frau wandte den Kopf. Kauz realisierte, dass sie ihren Mann, nicht ihn, ansprach. »Alois, hast du die Adresse?«

»Nein, aber ich weiß noch, wo es ist«, erwiderte der Alte. »Vom letzten Mal.«

Frau Imfang seufzte.

Vorsichtig erkundigte sich Kauz nach dem letzten Todesfall. Wendels ältere Schwester, die einzige Tochter des Paars, war vor zwölf Jahren ganz plötzlich erkrankt und nach wenigen Tagen im Spital von Brig gestorben.

»Die Spitalärzte haben sich alle Mühe gegeben, aber sie haben einfach nicht herausfinden können, was sie hatte. Nur, dass es eine schwere Krankheit war. Sie waren drauf und dran, sie nach Bern oder Lausanne zu verlegen. Aber da war es schon zu spät.«

Sie klang nicht einmal verbittert.

»Das ist schlimm«, sagte Kauz. »Traurig. Tut mir leid.«

»Gottes Wille«, sagten die beiden Alten, wie aus einem Mund.

Antonia, so hatte Wendels Schwester geheißen, hatte vor ihrem Tod in Naters gelebt. Sie war mit einem Mann aus Brig verheiratet gewesen.

»Hatte sie Kinder?«

»Eine Tochter, Vanessa«, antwortete Frau Imfang knapp. »Aber die ist bald nach Antonias Tod ausgewandert. Nach Kanada. Wir haben sie nie mehr gesehen.«

»Hatte Wendel auch einen Bruder?«

Nein, weitere Geschwister gebe es nicht, lautete die Antwort. Es gebe noch die Schwägerin, aber die sei ein besonderer Fall. Und Vanessas Vater, ihren Schwiegersohn. Der wohne aber nicht mehr im Wallis. Und er zeige sich nie im Goms.

»Dann gibt es kaum Angehörige. Eigentlich sind Sie ganz allein, nicht wahr?«, fragte Kauz.

Beide nickten stumm.

»Nur wir zwei«, bestätigte der alte Imfang. »Ganz allein sind wir aber nicht. Wir haben unseren Glauben.«

Inschä Glöübä, das hatte Kauz im Goms schon oft gehört.

*

Im Bestattungsinstitut Kenzelmann wurde das Trio mit gedämpfter Höflichkeit empfangen. Die Eheleute bedankten sich bei Herrn Kenzelmann, dass er sich am Sonntag extra für sie Zeit nahm. Das sei doch selbstverständlich, meinte dieser und geleitete die drei in die kleine Aufbahrungshalle. Weiße Kerzen brannten. Wendel lag, in ein weißes Hemd gekleidet, im offenen, mit Damast ausgekleideten Sarg, die Augen scheinbar friedlich geschlossen, die Hände über einem Kruzifix auf der Brust gefaltet. Kauz staunte über die Kunst des Bestatters, das blau aufgedunsene Gesicht des Erhängten so herzurichten, dass er wie ein Schlafender aussah.

Kenzelmann ließ die drei allein und Kauz zog sich in eine Ecke des Aufbahrungsraums zurück, um den Eltern am Sarg den Vortritt zu lassen. Wie er es erwartet hatte, näherten sie sich dem Leichnam ohne Scheu. Sich bekreuzigend und halblaut betend, stellten sie sich neben den Sarg. Lange standen sie so, dann streichelte die Mutter stumm die Wangen ihres Sohns und küsste ihn auf die Stirn, der Vater legte seine Hände auf die des Toten.

Im Vorraum wartete Kenzelmann. Auf einem Tischchen lagen, in ein graues Tuch eingeschlagen, das er jetzt auseinanderfaltete, die persönlichen Sachen des Toten: Militärschuhe, Stallhose und -jacke, Mütze. Auf der Hose lagen in einer transparenten Plastiktüte Wendels Armbanduhr, sein Portemonnaie, ein zerknülltes Taschentuch, ein Ledergürtel, ein Schlüsselbund und ein einzelner, größerer Schlüssel.

»Das ist der Speicherschlüssel«, stellte Frau Imfang fest. »Nehmen Sie den«, sagte sie, griff in die Tüte, nahm den Schlüssel heraus und streckte ihn Kauz hin. »Den zweiten haben wir bei uns zu Hause.«

Kauz nahm den Schlussel und steckte ihn ein.

Die Militärschuhe standen auf einem weißen Plastiksack, wie er in Hotels für gebrauchte Wäsche bereitliegt, die man gewaschen haben will.

»Was ist da drin?«, fragte Frau Imfang und nahm den Plastiksack in die Hand.

»Das sind nur …«, sagte Kenzelmann und wollte sie diskret davon abbringen, den Inhalt hier und jetzt zu sichten.

Frau Imfang ließ sich nicht abhalten, sie nahm den Sack und leerte den Inhalt auf die Stalljacke: gebrauchte Unterwäsche, Socken, Hemd. Wendels in ein Plastikbehältnis verpacktes Gebiss. Und, wiederum in einem transparenten, jedoch verschweißten Plastiksack: ein zerschnittener Kälberstrick, das eine wie das andere Ende zu einer Schlaufe verknotet.

Kauz erschrak.

Das gibts doch nicht!, dachte er. Den Strick, an dem er gehangen hatte, zu den persönlichen Sachen zu legen! Was haben sich die Leute bloß dabei gedacht?

»Entschuldigen Sie«, stammelte Kenzelmann und versuchte, den Strick unauffällig beiseitezulegen. »Das hätte nicht passieren dürfen. Das war ein Fehler.«

Doch der alte Imfang hatte die Plastiktüte schon in der Hand und sah sich den Strick an.

»Ja«, bestätigte er. »Allerdings, da ist ein Fehler passiert. Das ist nämlich keiner von unseren Stricken. Solche haben wir gar nicht. Wohl eine Verwechslung.« Er deutete mit seinem krummen Zeigefinger auf das eine Ende des Stricks, in welchem, quasi als Markenzeichen, ein roter Zwirn eingeflochten war. »Das ist keiner von unseren«, wiederholte er und legte die versiegelte Tüte mit dem zerschnittenen Strick auf das Tischchen zurück.

Kauz war sprachlos. Meint er wirklich, der Strick sei verwechselt worden?, dachte er.

Frau Imfang schluchzte.

Noch ehe der verdatterte Kenzelmann reagieren konnte, packte Kauz anstelle der Eltern Wendels Sachen zusammen und versorgte alles in einer großen Tragtasche aus festem schwarzem Papier, die neben dem Tischchen bereitstand.

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