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Fassen wir zusammen: Wir haben Formen schwerer Demenz vorgestellt. Formen von Schlaganfall angesprochen, von Verunfallung, von Verwirrung, die das gewohnte familiale Leben unterbrechen, die aus der Sozialität ausgrenzen. Wir haben Unterschiede und Gemeinsamkeiten der klinischen Bilder aufgespürt. Dabei sind wir früh auf den Umstand gestoßen, dass unterschiedliche Gedächtnissysteme betroffen sind, dass fast immer auch, manchmal unter den klinisch-rehabilitativen Bedingungen verborgen, Gefühle im Spiel sind, schwer tragbare, auf das Ende des Lebens, auf den Tod ausgerichtete Gefühle.

Wir haben fünf Formen der künstlerisch wichtig erscheinenden Therapien skizziert: Die Ästhetisch-Basale Stimulation, das Realitätsorientierungstraining, die Validationstechnik, die Erinnerungsarbeit und die vorstellungs- und gefühlsorientierte Suche der Mäeutik. Wo Worte fehlen, das sahen wir, sprechen zuweilen die Bilder, manchmal nur noch gefühlshaft-angedeutete Impressionen, die sich einstellen. Sie sind nicht unlogisch, auch nicht „averbal“, sondern haben konnotative, denotative, syntaktische Bezüge, um es sprachwissenschaftlich auszudrücken. Sie sind eingebettet in eine verschüttete Textur. Wie in einer Metapher, die „bestehende Referenzbeziehungen (zerschneidet), um einen Freiraum zu schaffen“ (Häußling 1999, 151), haben sich die Bildausschnitte, die zugeordneten Wortschnipsel eigenständig gemacht, haben neue Referenzen, Bezugnahmen gestiftet. An dieser Stelle war uns die Neurophysiologie der Gedächtnissysteme hilfreich: Wie in der Arbeit mit und an der Metapher können sie, die Worte und Gefühle, wieder geerdet, wieder an ihren ursprünglichen Ort versetzt werden, so dass eine Verständigung, ein Verstehen der Helfer und Betroffenen entsteht.

1.4 Ergebnisse neurologischer Forschung: Wie Bilder im Kopf entstehen

Zwei Neurophysiologen haben entwickelt, wie wir beim Erkennen der Dinge über die Schwelle einer natürlich uns mitgegebenen Rezeptionsstruktur gehen müssen. Der Münchener Neurologe Ernst Pöppel nennt es „Ordnungsschwelle“, erforscht die zeitliche Reihenfolge von Wahrnehmungsreizen – und kommt zu einem bemerkenswerten Ergebnis, das sein Frankfurter Kollege Wolf Singer bestätigt: Wir benötigen zum Erkennen von Reizen etwa 30 bis 40 Millisekunden (ms), mit einem solchen zeitlichen Abstand von einem Reiz zum nächsten, damit dieser für sich als eigenständig erkannt und möglicherweise mit einem anderen in Zusammenhang gebracht werden kann (Singer 1990, Pöppel 1993). Bei diesem Vorgang werden in eben diesem Zeitraum von 30 bis 40 ms Nervenzell-Areale in Schwingung versetzt, finden Entladungen in den stimulierten Nervenzellen statt – Pöppel nennt sie „oszillatorische Entladungen“ – die sich mit anderen Entladungen in anderen Arealen in demselben Augenblick vergleichen – und möglicherweise zu einem Komplex verbinden, sozusagen eine Synthese eingehen. Die beiden Wissenschaftler nennen das „Gestaltbildung“.


Abb. 6: Computersimulation des Wahrnehmungsprozesses am Beispiel eines Stuhls (Restak 1989, 54)

Bezieht man diese Kenntnisse beispielsweise auf die therapeutische Arbeit mit altersverwirrten und entsprechend wahrnehmungs-, gefühls- und verhaltensbehinderten Menschen, so kann man zu folgendem Ergebnis kommen: Was wir in der kunsttherapeutischen Arbeit gemeinsam tun, heißt, sozusagen im Takt unserer Wahrnehmung, Reize, die wir kennen, die wir identifizieren, auf der Grundlage einer zeitlichen Vorgegebenheit und Ordnung wieder in Zusammenhang zu set-zen. Laut Pöppel (1993, 7f.) muss die „Gestaltbildung“ des Wahrnehmens und Fühlens im Verlauf von drei Sekunden geschehen, in einem Zeitfenster von ein paar Sekunden, in dem das Gehirn jenen „zeitlichen Integrationsmechanismus“ (S. 13) zur Verfügung stellt.

Bei all dem, was wir in unserer stimulierenden Arbeit mit dementierenden Patienten tun, bleiben wir – wenn wir unser Augenmerk auf die Farb- und Formgebungen, Werkprozesse und speziell deren Abfolgen richten – in den Zeitspannen, die unser Gehirn benötigt, die Dinge unserer Wahrnehmung zusammenzubringen, zu synthetisieren. Hierbei sind alle Sinne angesprochen, sagen die Neurologen. Und wir haben eine Erkenntnis praktisch gewonnen: dass mittels eines ästhetischen Produktes, eines duftenden Kuchens, eines Werkmodells, eines Bildes ein Gefühl von Selbstwert und -bewusstsein aufkommt, das neuronal verantwortet wird.

Exkurs: Neuronale Grundlagen des Wahrnehmens

Die Orientierung in der Welt fußt auf Erfahrungen, die wir schon erarbeiteten Strukturen des Gehirns zuordnen können. Jean Piaget, der Entwicklungspsychologe, sagt:

„Der Grundgedanke ist der, dass Erkenntnisse weder allein aus der Erfahrung der Gegenstände, noch aus einer im Subjekt vorgeformten, angeborenen Programmierung hervorgehen, sondern aus aufeinanderfolgenden Konstruktionen mit fortwährender Elaboration neuer Strukturen.“ (1976, 7)

Diese Strukturen sind Resultat der Interaktion zwischen Subjekt und Umwelt, Piaget spricht von „nicht-präformierten Strukturen“ (Piaget 1974, 23). Diese entwickeln sich durch die tätige Auseinandersetzung mit den Gegenständen der Erkenntnis. Je komplexer diese tätige Auseinandersetzung ist, umso komplexer sind die logischen Strukturen des Erkennens und seiner Weiterführung im Denken.

Diese Formen des Handelns sind unterschiedlich komplex: miteinander verbunden (1), aufeinander folgend (2), sich gegenseitig zuordnend (3) oder sich überschneidend (4) (Piaget 1973, 26). In jedem Fall führen solche koordinierten Handlungen zu mentalen Operationen, die zu neuronalen Strukturen unterschiedlich komplexer Art werden. Ihre Komplexität basiert auf logisch-mathematisch nachvollziehbaren Regeln, so Piaget (1973, 50). Piaget begreift an diesem Punkt seines Denkentwurfs, dass seine Forschungsergebnisse Auswirkungen auf die „Koordination innerhalb des Nervensystems und des neuronalen Netzwerkes“ haben (Piaget 1973, 27). Singer und Engel (1997) betonen wie Jean Piaget die Koordinationsleistung des Gehirns:

„In der Debatte um die neuronalen Grundlagen von Bewusstsein rückt in den letzten Jahren zunehmend die Annahme in den Mittelpunkt, dass Bewusstsein als ein integrativer Prozess betrachtet werden muss. Dies wird besonders deutlich, wenn man den Fall des Wahrnehmungsbewusstseins betrachtet. Eine Leistung, die unser Gehirn ständig erbringen muss, besteht in der Integration von Sinnesdaten zu kohärenten Wahrnehmungseindrücken. Eine solche Integrationsfähigkeit ist die Voraussetzung dafür, dass wir Objekte und Ereignisse in unserer Umwelt voneinander unterscheiden und klassifizieren können. Hierzu müssen die von den Sinnesorganen aufgenommenen Signale einem Ordnungs- und Strukturierungsprozess unterworfen werden, in dem elementare Sinnesdaten in gestalthafte Kontexte eingebettet und mit Bedeutung versehen werden. Ohne diese von den Sinnessystemen geleistete Integration bliebe unsere Wahrnehmungswelt eine Anhäufung bedeutungsloser Farbflecken, Geräusche und Gerüche, ein unübersichtlicher Wirrwarr von Sinneseindrücken – dem vergleichbar, was man beim Blick in ein Kaleidoskop sieht. Obwohl die Bedeutung solcher Integrationsprozesse in der Wahrnehmungspsychologie schon sehr lange bekannt ist, wissen wir bis heute nur relativ wenig über deren physiologische Grundlagen. Erst in jüngster Zeit konzentriert sich die Hirnforschung verstärkt auf die Frage, durch welche Mechanismen integrative Prozesse wie Gestaltbildung und Figur-Grund-Trennung auf der biologischen Ebene realisiert werden, die dann die Entstehung bewusster und emotional getönter Wahrnehmungseindrücke ermöglichen.“

Singer und Engel führen aus, wie „… sich das Sehsystem durch eine hochgradig parallele Architektur aus(zeichnet). Aus zahlreichen Untersuchungen“, so weisen sie nach, „geht hervor, dass verschiedene Klassen von Objektmerkmalen in unterschiedlichen Arealen der Hirnrinde analysiert werden, die verschiedene Merkmalsdimensionen – wie etwa Farbe, Form oder Bewegung – repräsentieren … Diese Befunde belegen, dass Objekte“ zwar durch einen kleinen Nervenzellverbund stimuliert (so die neueste Studie des Tübinger Instituts für Klinische Hirnforschung vom 1.8.2008, Anm. K.-H. M.) aber „nicht durch einzelne oder sehr wenige Neurone in der Hirnrinde repräsentiert werden, sondern durch ausgedehnte und über weite Bereiche verteilte Neuronenverbände – sogenannte Assemblies“. Damit wird freilich deutlich, dass es hier tatsächlich ein Integrationsproblem oder – wie man auch sagt – ein Bindungsproblem gibt. „Es stellt sich nämlich die Frage, auf welche Weise große Anzahlen von räumlich verteilten Neuronen zu solchen Assemblies – und damit zu kohärenten Objektrepräsentationen – zusammengefasst werden.“ (Singer / Engel 1997, 69)

Wir sind auf einen wichtigen Umstand aufmerksam gemacht: dass ästhetische Gegebenheiten neuronal angeeignet werden und sich neuronal repräsentieren. Die kalifornischen Wissenschaftler Francis Crick und Christoph Koch haben Anfang der 1990er Jahre auf die neuronale Bündelung sensorischer Stimuli zu sog. Assemblies aufmerksam gemacht, haben im selben Zusammenhang auf die Verbindung zu den Wahrnehmungsgegebenheiten verwiesen. Die Diskussion um die neuronalen Korrelate von Wahrnehmungs- und Bewusstseinsprozessen war eröffnet.

Der fehlende Baustein in der Argumentation hieß, wie die Herstellung solcher Assemblies zeitlich und räumlich erfolgen könnte: „ein zeitlicher Integrationsmechanismus (könnte) die Lösung für das beschriebene Bindungsproblem sein“. Man vermutet weiter:

„dass die von einem gesehenen Objekt aktivierten Neurone durch eine Synchronisation ihrer Impulse zu Assemblies zusammengeschlossen werden könnten … Die zeitliche Korrelation zwischen den neuronalen Impulsen sollte dabei … die Genauigkeit von wenigen Tausendstel Sekunden aufweisen. Somit wäre also das synchrone Feuern der Hirnrindenneurone Ursache für die ganzheitliche Struktur unserer Wahrnehmungen – etwa für die Gestaltnatur der visuellen Eindrücke. Die zeitlichen Korrelationen würden nämlich – wenn das Modell zutrifft – die Zusammengehörigkeit der Merkmale eines Objektes repräsentieren und wären auf diese Weise für die Erzeugung eines kohärenten Perzepts von entscheidender Bedeutung.“ (Singer / Engel 1997, 68)

Singer und Engel schließen: „In zahlreichen Arbeiten wurde inzwischen nachgewiesen, dass die Neurone des Sehsystems tatsächlich ihre Ak tionspotentiale – also die elektrischen Impulse, die sie bei visueller Reizung erzeugen – präzise im Millisekundenbereich synchronisieren können. Zudem weisen viele Forschungsergebnisse darauf hin, dass diese zeitlichen Korrelationen tatsächlich bedeutsam für die perzeptive Integration und somit für die Segmentierungsleistungen des Sehsystems sind.“ (1997, 69)

Gabriele Schmid (1999) fasst zusammen: „Wahrnehmungen … sind im Gehirn doppelt kodiert: räumlich, durch die Kombination synchroner Nervenimpulse, die von örtlich getrennten Bereichen stammen, und zeitlich, durch sich überlagernde Abfolgen von Impulsen.“

Das Gehirn arbeitet im Takt elektrophysiologischer Impulse, die von thalamischen Kernen, den sog. Nuclei Intralaminares ausgehen (Ratey 2003, 163). Im Takt wird eine gemeinsame Sende- und Empfangsfrequenz von 30–80 Hertz in den wichtigen kortikalen Hirnarealen aufrechtgehalten. Diese gemeinsame Empfangs- und Sendesequenz ermöglicht es dem Gehirn, seine verschiedenen Bereiche im selben Augenblick zu verschalten. Seh-, Hör-, Fühl-, Geschmacks- etc. Inputs werden quasi auf einen Nenner gebracht.

Die Ausführung von Singer und Engel (1997) endet mit der an Jean Piaget erinnernden Feststellung, dass es sich um „Prozesse der Selbstorganisation“ handelt, die nur aus der oben beschriebenen Koordinationsleistung des Gehirns verstehbar sind.


Abb. 7: Mustersehen und neuronale Adäquanz (Damasio 2006, 149)

Für unsere Diskussion um eine Grundlegung neuro-ästhetischer Parallelverarbeitung des Gehirns ist ein entscheidender Baustein mit der Synchronisierung in Assemblies gelegt. Um mit den beiden Autoren noch einmal zusammenzufassen:

„Die Synchronisationsphänomene, die den Aufbau solcher Assemblies erlauben, stellen nach unserer Hypothese eine wesentliche Voraussetzung für den Prozess der Gestaltwahrnehmung dar“ und lassen mit Crick und Koch (1993, 144) vermuten, „dass die Synchronisation neuronaler Assemblies auch eine entscheidende Voraussetzung dafür sein könnte, dass aufgenommene sensorische Information zu einem subjektiven Wahrnehmungserlebnis wird“ (Singer, Engel 1997, 72).

Antonio R. Damasio spezifiziert das subjektiv Wahrgenommene und spricht von einer „auffallenden Übereinstimmung zwischen der Form des Reizes und der Form des neuronalen Aktivitätsmusters in einer der Schichten der primären Sehrinde“ – einer Übereinstimmung, die, wenn auch im Tierversuch gewonnen, uns tatsächlich erstaunt (Damasio 2006, 149).

Das Sehen in gestalthaften Mustern, Wahrnehmungskomplexen, so schon Piaget, geht mit den neuronalen Koordinationsleistungen einher. Die gestalttheoretischen Implikate der kunsttherapeutischen Arbeit (vgl. auch Kobbert 1986) unterstützen die Annahme, ebenso wie der neuro-ästhetische Ansatz des amerikanischen Neurologen Ramachandran (2005): Die Bildwahrnehmung basiert auf

1. Akzentverschiebung

2. Gruppierung

3. Kontrast

4. Isolation

5. Perzeptive Problemlösung

6. Symmetrie

7. Vermeidung von Zufällen

8. Wiederholung, Rhythmus und Ordnung

9. Ausgewogenheit

10. Metapher

Deren Grundlagen bilden gestalttheoretisch fassbare, gesetzmäßige Wahrnehmungsmuster.

Die Organisation des künstlerischen Ausdrucks, so das Fazit, kommt der optimalen Organisation des Gehirns nahe – und ist im Falle neurologischer Störungen brauchbar.

Seit den gestalttheoretischen Implikaten der Kunst- und Gestaltungstherapie Rudolf Arnheims ist diese Erkenntnis unwiderlegt: Die neuronale Gestalt-Herstellung unterliegt formal-ästhetischen Gesetzmäßigkeiten, die wir produktiv-therapeutisch einsetzen können. Neuere Hinweise auf die Mustererkennung des Gehirns bestätigen und präzisieren dies (Martin Heisenberg u. a. 2006).

Fragen wir uns, was geschieht, wenn unser neuronales Wahrnehmungssystem erregt wird: Rüdiger Vaas berichtet (2003; 2005), wie sich durch zeitliche Koppelungen einzelne Nervenzellen zusammenschließen zu gemeinsam agierenden neuronalen Ensembles, die sich auch mit voneinander getrennten Gruppen verlinken können (sog. linking, binding). Im visuellen, auditorischen, somatosensorischen, motorischen und interhemisphärischen wie subcorticalen Zusammenhang, so Vaas, findet diese Synchronisation neuronaler Aktivitäten nachweislich statt. Die Oszillationen betragen bei einer Bandbreite von 30 bis 80 Hz um 40 Hz, liegen also im Gamma-Frequenzband. Sie basieren auf wechselseitig verschalteten hemmenden und erregenden Nervenzellen. Die Synchronisationen basieren auf großräumigen Nervennetzen. Neurons that fire together wire together – so seine Zusammenfassung, die weltweite Übereinstimmung findet.

„Wenn wir sehen, hören oder riechen“, so die Wissenschaftler vom Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience (BCCN) und der Universität Freiburg, senden die Nervenzellen Signale und „das Gehirn verarbeitet die aufgenommenen Informationen Schritt für Schritt in aufeinander folgenden Verschaltungsebenen. Neurone in jeder Ebene geben Signale in Form von elektrischen Impulsen an die nächste Ebene weiter. Die neuronalen Verschaltungen, die einem solchen ,Feed Forward System‘ zu Grunde liegen, wurden schon vielfältig untersucht. Meist wurde dabei aber nicht berücksichtigt, dass das Feed Forward System in die komplexe neuronale Architektur des Gehirns eingebettet ist, von dessen Hintergrundaktivität beeinflusst wird und seinerseits auf diese zurückwirkt … Nicht jede Form der Informationsweitergabe bei jeder Art von Hintergrundaktivität (ist) möglich“, so die Wissenschaftler des Instituts. „Eine allzu synchrone neuronale Hintergrundaktivität macht nahezu jede gezielte Signalweiterleitung unmöglich. Ein asynchrones Hintergrundrauschen hingegen erlaubt eine zuverlässige Verarbeitung von Sinnesinformationen und kann sogar konstruktiv zur stabilen Weitergabe des Signals beitragen.“ Die Wissenschaftler betätigen die bisherige Forschung und ergänzen sie: Impulspakete synchroner neuronaler Aktivität lassen sich ggf. weit verlässlicher weiterleiten als erhöhte Impulsraten. Die neuen Forschungen zeigen, dass wir, wie Vaas (2003; 2005) verdeutlicht hat, die Arbeit der neuronalästhetischen Gestalt-Erkennung als Netzwerk-Leistung des Gehirns be trachten müssen. Die Forschungen zeigen, dass wir die Hintergrundaktivitäten des Gehirns bei Erkennensprozessen mit einbeziehen müssen (Katrin Weigmann, Bernstein Koordinationsstelle; idw-Nachrichten 24.7.08).


Abb. 8: Unser Gehirn – wie eine Karthothek (Edelman 1995, 150)

Welche Netzwerke, so die weitere Frage, entstehen nun angesichts dieses Settings, oder anders gefragt: Gibt es spezielle Neurone, die zueinander finden? Die Bestätigung haben Edelman (1995) und die beiden Forscher Crick und Koch gegeben. Edelman (1995, 150) geht davon aus, dass unser Gehirn aus einer Art Karthotek besteht, in der bestimmte Karten oder Kategorien bestimmten Eindrücken zugeeignet sind. Diese Karten empfangen unabhängig und jede für sich Reize, die sich selegierend und korrelierend sehr schnell verschalten und dieseswegs zu einer schnittmengenhaften Erkennung führen (Edelman 1995, 126f). Abweichungen und Veränderungen als Ergebnis von Veränderungen in der Kategorisierung wirken sich hiernach als Störungen des Seh- oder Bewegungsvermögens, spez. in den Gedächtnis- und Symbolisierungsleistungen, verstärkt aus, verantworten u. U. Krankheitserscheinungen wie Schizophrenie (Edelman 1995, 258).


Abb. 9: Merkmale und Gegenstände in der visuellen Verarbeitung (Treismann 1990, 144)

Edelman schlägt in seinen Studien vor, dass Sehen auf der untersten Stufe einige einfache und zweckmäßige Eigenschaften einer Szene in Form zahlreicher Merkmalskarten kodiert, die möglicherweise die räumlichen Beziehungen der visuellen Welt bewahren, aber nachfolgenden Verarbeitungsstufen selbst keine räumliche Information zur Verfügung stellen. Statt dessen wählt dann gerichtete Aufmerksamkeit mittels einer Originalkarte der Positionen die Merkmale aus, die an bestimmten Orten vorhanden sind, und fügt sie zusammen. Auf späteren Stufen dient schließlich die zusammengefügte Information dazu, Akten über Wahrnehmungsgegenstände anzulegen und auf den neuesten Stand zu bringen. Der Reihe nach werden die Akteninhalte mit Beschreibungen verglichen, die in einem Wiedererkennungsnetzwerk gespeichert sind. Das Netzwerk vereinigt Merkmale, Verhalten, Namen und Bedeutung vertrauter Gegenstände.


Abb. 10: Reziproke Koppelung visueller Bereiche (Edelman 1995, 128)

Eine Studie von Martin Heisenberg u. a. (2006) kann anhand neuester Forschung illustrieren, dass die Kartierung des neuronal Gegebenen sich durchaus auf neuronal angelegte Orte, sozusagen auf Stammplätze bezieht. Diesbezüglich hat Gerald Edelman auf die Vernetzung die-ser Karthothek hingewiesen. Er verdeutlicht, „dass nicht nur sensorische Eindrücke und motorische Handlungsmuster, sondern alle Interaktionen zwischen Person und Umwelt in neuronalen Netzwerken des Gehirns kodiert werden“ (Edelman 2000; 2001).

Der Neurologe Zeki (1993) nennt solche Orte „Sortierfächer“, in denen die Signale zusammenlaufen. Engel und Singer haben in dem viel beachteten Artikel „Neuronale Grundlagen der Gestaltwahrnehmung“ (1997) die bis dato vorliegenden Ergebnisse zusammengefasst:

• Erstens erklärten sie: „Insgesamt lässt sich aus den hier beschriebenen Untersuchungen die Vermutung ableiten, daß der vom Assembly-Modell postulierte zeitliche Bindungsmechanismus im Gehirn tatsächlich existiert. Die bisher vorliegenden Ergebnisse sprechen dafür, dass neuronale Objektrepräsentationen in ausgedehnten und über weite Hirnbereiche verteilten Assemblies bestehen, die durch eine Synchronisation der jeweils relevanten Neurone gebildet werden. Die Synchronisationsphänomene, die den Aufbau solcher Assemblies erlauben, stellen nach unserer Hypothese eine wesentliche Voraussetzung für den Prozess der Gestaltwahrnehmung dar.“ (S. 66f.)

• Zweitens konnten sie unter Bezugnahme auf die Forschungen des englischen Neurologen Zeki nachweisen, wo die neuronalen Assemblies sich verorten.

Der Neurologe M. Zeki führte 1993 aus: Getrennte Nervenbahnen übermittelten Farb-Form-Bewegungssignale zu einem Verteiler – „Sortierfächern, in denen die verschiedenen Signale zusammenlaufen“ (S. 30) –, der wiederum kodiere und zuordne. Auch er konnte diese Behauptung aufgrund seiner Forschungen genau spezifizieren. Singers und Engels Zuordnung zu bestimmten Arealen (vgl. Abb. 10: V1–V5) fußt auf den Ergebnissen Zekis. Dieser wählte als Untertitel seiner Veröffentlichung: „Indem das Gehirn die Einzelattribute der einlaufenden visuellen Information analysiert und integriert, erschafft es sich ein Bild der Außenwelt.“ (Zeki 1993, 26)

Zeki recherchiert, dass der Ausfall bestimmter Areale (z. B. V1, hinteres visuelles Zentrum; vgl. Abb. 10) „die Verarbeitung visueller Informationen gänzlich unterbindet“ (Zeki 1993, 32) und dass „eine Läsion in V5 … die Richtung oder Koordination von Bewegungen“ zutiefst beeinträchtigt (S. 33) – dass jedoch „keines der Sehfelder … eine blosse Relaisstation zur Weiterleitung von Signalen an andere Regionen“ ist, sondern immer „bruchstückhaft zur bewussten Wahrnehmung“ beiträgt und auch kompensiert werden kann (S. 34).

Crick und Koch (1993, 106f.) haben die Repräsentanzleistungen der Neuronenverbände des Großhirns untersucht:

„So können sich einige Neuronen darauf spezialisieren, die Kategorie ‚Gesicht‘ zu repräsentieren: das heisst, sie werden in Zukunft immer dann aktiv sein, wenn der Mensch ein Gesicht sieht oder die Assoziation an ein solches sich einstellt.“ (S. 110)

Sie beschreiben, wie einige Neuronen „optimale Koalitionen zu bilden versuchen“ (S. 110) um die Gestaltmuster, die sich ihnen präsentieren, schneller kategorisieren und dedektieren zu können. Zusammenfassend, so die beiden Forscher:

„Ein Netz von Verbindungen zwischen den Arealen sorgt für einen beständigen Abgleich, koppelt jeweils zurück nach Empfang, sendet die Bestätigung wiederum an das umfassendere Areal, das z. B. das Gesichtsfeld topografisch präzise abbildet. „Ein Gegenstand kann auf mehr als eine Weise repräsentiert sein: als Bild, als eine Gruppe von Worten in geschriebener oder gesprochener Form oder gar als Berührungs- oder Geruchsreiz … Jede (dieser Repräsentationen, Anm. K.-H. M.) ist zudem auf viele Neuronen verteilt … in verschiedenen Teilen des Gehirns repräsentiert … Es gibt zunächst die Repräsentation für ein Gesicht als solches: zwei Augen, Nase, Mund und so weiter … Daraus konstruiert das Gehirn eine betrachterzentrierte Repräsentation, die ohne Aufmerksamkeit nicht zustande kommt.“ (Crick u. Koch, 1993, 108)

Die Theorie der Kartierung des Gehirns von Edelman (1995) hat sich als ein brauchbarer Ansatz erwiesen, die Entstehung der Bild-Wahrnehmung zu verstehen.

Wir sehen, wie mehrere visuell orientierte Areale zur Erkennung beispielsweise eines Gesichtes zusammenspielen, wie „dispositionelle Repräsentationen … als potentielle Muster von Neuronenaktivität“ sozusagen sich anbieten, wie sie „in kleinen Neuronenkomplexen (existieren)“ (Damasio 2006, 147) – um „durch eine vorübergehende synchrone Aktivierung weitgehend der gleichen neuronalen Entladungsmuster in den frühen sensorischen Rindenfeldern …, in denen einst auch die den Wahrnehmungsrepräsentationen entsprechenden Entladungsmuster auftraten“ (S. 146), dazu zu verhelfen, „ein Bild zu rekonstruieren“ (S. 147).

Um es noch einmal in Damasios Worten zu verdeutlichen: „Die in unserem Gehirn erzeugten Vorstellungsbilder beruhen auf Prozessen, die regelhaft und strategisch zunächst in dispositionellen Repräsentationen Muster neuronaler Aktivierung erzeugen, um erst im nächsten Schritt zu topographisch kartierten Wahrnehmungsrepräsentationen zu gelangen“ (2006, 153) und hiermit erst die Grundlage für unsere Vorstellungsbilder zu legen. Im Gyrus Fusiformis, einem Areal zwischen Schläfenlappen und visuellen Zentren, käme beispielsweise das Gehirn schließlich zur Gesichtserkennung.

Die Annahme eines für die Wahrnehmung notwendigen Zusammenspiels neuronaler Prozesse schließt allerdings nicht aus, dass schon einzelne neuronale Aktivitäten den Anstoß für den geschilderten Synchronisationsvorgang geben können, wie eine ddp-Meldung Ende 2007 berichtet:

Empfindungen – Einzelne Neurone reichen als Auslöser, Berlin, ddp, 22. Dezember 2007:

„Im menschlichen Gehirn befinden sich viele Milliarden Nervenzellen, die Nervensignale verarbeiten und weiterleiten. Wie genau diese sogenannten Neurone funktionieren, ist noch nicht abschließend erforscht. Wie die Bernstein Zentren für Computational Neuroscience mitteilen, haben Wissenschaftler nun herausgefunden, dass bereits die Aktivität eines einzelnen Neurons bewusst wahrgenommen werden kann. An der Humboldt Universität und dem Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience Berlin konnte in Versuchen mit Ratten nachgewiesen werden, dass schon kleinste Impulse eines Neurons von den Tieren bemerkt werden. Die Wissenschaftler Arthur Houweling und Michael Brecht reizten mit winzigen Strömen im Bereich einiger Nanoampere einzelne Neurone, die am Tastsinn der Ratte beteiligt sind. Da die Nager darauf trainiert waren, mit einer Leckbewegung auf Berührungsempfinden zu antworten, konnten die Forscher feststellen, dass der Impuls von der Ratte wahrgenommen wurde. Das Experiment zeigt, dass die Aktivität einzelner Neurone viel bedeutungsvoller ist, als bisher vermutet. Es ist jedoch nach Ansicht der Forscher nicht anzunehmen, dass die Aktivität eines jeden Neurons ins Bewusstsein gelangt. Das Gehirn wäre damit überfordert. Verschiedene Faktoren wie der Neuronentyp und die Ansprechschwelle nachgeschalteter Neurone beeinflussen, wie gut die Ratte auf die erhöhte Aktivität eines Neurons reagiert und ob sie diese überhaupt wahrnimmt.

Dennoch hat man durch die Versuche gemerkt, dass das Gehirn weit weniger redundant arbeitet als bisher gedacht. Die Wissenschaftler schließen daraus, dass die neuronale Aktivität in der sogenannten somatosensorischen Hirnrinde, die Wahrnehmungen des Tastsinns verarbeitet, wesentlich niedriger ist als bisher angenommen. Die somatosensorische Hirnrinde einer Ratte enthält ungefähr zwei Millionen Neurone. Angesichts dieser großen Zahl war man bisher davon ausgegangen, dass nur große Gruppen von Neuronen durch ihr Zusammenspiel eine bewusste Wahrnehmung erzeugen können.“

Der Anstoß zu den sich formenden Bildern im Kopf, so können wir schließen, kann durchaus von einzelnen Neuronen ausgehen, die jedoch, wenn in der vorhandenen Karthothek verortet, auf viele andere Neuronengruppen angewiesen sind, um schließlich zu einer eigenen Bildgestalt zu kommen. Aber nicht nur das Gehirn, auch die Netzhaut ist an der Gestaltbildung beteiligt:

„Was unsere Aufmerksamkeit erlangt, können einerseits die Augen steuern, aber auch das Gehirn“, schildert der Neurologe Karnath. „Wenn die Kaffeetasse angeschaut werden soll, befiehlt die Denkzentrale dies den Pupillen. Umgekehrt können auch die Augen das Gehirn auf ein Objekt aufmerksam machen, etwa ein Kind auf einem Dreirad, das am Rand des Blickfeldes auftaucht. Für beide Strategien, die kopf- und die augengesteuerte Wahrnehmung, sind im Gehirn unterschiedliche Areale verantwortlich. Einzelne dieser Zentren können bei Schlaganfallpatienten zerstört sein: Sie können beispielsweise die Kaffeetasse nicht ansehen, auch wenn sie dies wollen.“ (Informationsdienst Wissenschaft, idw, 11. / 13.9.2007)

„Spezielle Zellen in der Netzhaut helfen bei der Formerkennung: Die Netzhaut im Auge kann nicht nur passiv Sehinformationen wahrnehmen, sondern hier findet bereits eine erste Verarbeitung statt. Das haben amerikanische Wissenschaftler nachgewiesen. Nach den Ergebnissen der Wissenschaftler um Ernest Greene von der Universität von Kalifornien in Los Angeles werden bereits in der Netzhaut Informationen über die erzeugten Halbbilder für die beiden Gehirnhälften durch spezielle Zellen miteinander verbunden. Dies geschieht sogar in weniger als einer Millisekunde. Schon lange ist bekannt, dass jede der beiden Gehirnhälften von den Augen nur eine Hälfte des erfassten Bildes zur Weiterverarbeitung übermittelt bekommt. Beide Teile müssen zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden. Diese Verbindung scheint bereits im Auge geschlossen zu werden, schließen Greene und seine Kollegen aus ihren Experimenten …

Greene hat auch schon eine bestimmte Zellart in der Netzhaut im Verdacht, diese Verbindung herzustellen. Die sogenannten Polyaxonalen Amakrinzellen weisen Merkmale auf, die zeitliche und räumliche Unterschiede in Signalen registrieren und koordinieren könnten.“ (Greene o. J., vgl. Webseite)

Diese Forschungsergebnisse werden im Jahr 2015 weitestgehend von T.R. Vidyasagar und U.T. Eysel (2015) bestätigt. Die bisher geschilderte Informationsaufnahme und -gewinnung über Netzhaut- und Gehirnareale, speziell mittels Synchronisierung ist – so die neueste Forschung – nicht nur auf der Grundlage neuronaler Aktivierung, sondern mehr noch mit der Hemmung von Zellen möglich. Wie eine koordinierte, aber mithilfe von Hemmung produzierte Erregung geschieht, wird seitens einer Berner Forschungsgruppe um M. Larkum wie folgt zusammengefasst:

„Die menschliche Hirnrinde bedeckt das Gehirn und besteht aus einer wenige Millimeter dicken Schicht von Nervenzellen. In dieser hochkomplexen Struktur verarbeitet das Gehirn den ununterbrochenen Zustrom von Nervensignalen aus den Sinnesorganen und konstruiert daraus ein Abbild der Welt, die uns umgibt. Eindrücke von Farbe, Form oder Bewegung werden wie geschildert in verschiedenen, teilweise weit auseinander liegenden Hirnarealen verarbeitet. Damit im Gehirn eine einheitliche Wahrnehmung zustande kommt, müssen die elementaren Sinnesinformationen (wie z. B. Farbe, Form usw.) zu einer übergeordneten, funktionellen Einheit zusammengebunden werden. Dieses Zusammenführen der verschiedenen Informationsströme wird durch einen zellulären Mechanismus realisiert, der die Nervenzellen in einen speziellen Zustand versetzt, sobald sie Informationen aus unterschiedlichen Hirnstrukturen gleichzeitig erhalten. Die Sinnesinformation wird auch anhand von Erfahrungen aus dem Gedächtnis interpretiert. Zudem wird uns nicht jede Sinnesinformation auch bewusst, sondern nur diejenige, worauf das Gehirn seine Aufmerksamkeit lenkt.

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530 стр. 68 иллюстраций
ISBN:
9783846346105
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