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„ICH LIEBE DEUTSCHLAND SO SEHR, DASS ICH LIEBER ZWEI ALS EINES DAVON HABEN MÖCHTE“

Frankreichs sozialistischer Präsident François Mitterrand tritt öffentlich konzilianter auf als die britische Premierministerin; in Interviews betont er wiederholt, die Wiedervereinigung sei „ein berechtigtes Anliegen der Deutschen“.119 In vertraulichen Runden jedoch, hinter den Kulissen, fällt die Männerfreundschaft mit Kohl abfälligen Bemerkungen über den Kanzler zum Opfer. Bei einem Mittagessen mit Margaret Thatcher im Élysée-Palast polemisiert der französische Präsident, die plötzliche Aussicht auf die Vereinigung habe den Deutschen „eine Art mentalen Schock“ versetzt und sie wieder in jene „bösen“ Deutschen verwandelt, die sie einmal gewesen seien. Gegenüber Kohl und Genscher, so vertraut Mitterrand seinem britischen Gast an, habe er gesagt, Deutschland könne gewiss auch Österreich in die Europäische Gemeinschaft holen, und andere im Krieg verlorene Gebiete, „und so mehr Land gewinnen als Hitler“.120 Europa sei noch nicht reif für die deutsche Wiedervereinigung. Am 24. November 1989 schreibt François Mitterrand an SED-Generalsekretär Egon Krenz, er sehe „Entwicklungsperspektiven für die Beziehung der Deutschen Demokratischen Republik mit der Europäischen Gemeinschaft“, und im Dezember des Jahres reist er zum großem Verdruss der Bundesregierung sogar zu einem Staatsbesuch in die DDR. Das Ende der Teilung Europas werfe „einen riesigen Schatten auf ein Deutschland, das zu mächtig ist, um nicht dominant zu werden, und zu lange verletzt, um nicht das Bedürfnis nach Rehabilitation, ja nach Revanche zu haben“, notiert Jacques Blot, Direktor der Europa-Abteilung im französischen Außenministerium am Quai d’Orsay, wenige Tage nach dem Fall der Mauer.121


Frankreichs Präsident François Mitterrand begegnet Kohls Plänen mit Skepsis.

Das Bonmot „Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich lieber zwei als eines davon haben möchte“ des französischen Literaturnobelpreisträgers François Mauriac macht sich nicht nur François Mitterrand zu eigen. „Dem deutschen Staat messe ich nicht viel Bedeutung bei“, sagt Michel Jobert, in den 1980er-Jahren Frankreichs Außenhandelsminister.122 „Staaten, was bedeuten sie schon? Aber die Menschen werden immer wissen, dass auf der anderen Seite auch Deutsche wohnen – trotz der Berliner Mauer und trotz Eisernem Vorhang. Mich hat überrascht, was ich während der Olympischen Spiele in München erlebte. Es gibt Wahrheiten im Sport, die historische Wahrheiten sind. Wenn die Ostdeutschen gewannen, brach bei den Westdeutschen eine ungeheure Begeisterung aus. Wenn man in Marseille gesehen hätte, wie die Leute aus Lille bei den Olympischen Spielen gewinnen, hätten die Marseiller vor Wut gebrüllt. Damals habe ich mir gesagt: Es gibt zwei getrennte deutsche Staaten, ein großes Drama, aber es gibt nur ein deutsches Volk.“

EINE „ÄUSSERST DREISTE EINMISCHUNG“

Mit „Gorbi, Gorbi“-Rufen war Michail Gorbatschow am 12. Juni 1989 in der Bundeshauptstadt willkommen geheißen worden. Kurz zuvor war er zum Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR gewählt worden. „Die Tatsache, dass ich meine erste Auslandsreise in dieser Eigenschaft in die Bundesrepublik Deutschland unternahm, unterstrich erneut, welche Bedeutung wir der Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik beimaßen“, notiert Gorbatschow später.123 Auf seiner viertägigen Westdeutschland-Reise trifft Gorbatschow Menschen unterschiedlichster sozialer und politischer Couleur, und überall stößt er auf großes Interesse und aufrichtige Sympathie. Die „Gorbi, Gorbi“-Rufe sind die gleichen, als der Kremlchef vier Monate später zum 40. Geburtstag der DDR in Ost-Berlin erscheint, seine politischen Gespräche dagegen könnten unterschiedlicher nicht sein. „Beim gemeinsamen Frühstück in der Residenz des Präsidenten am Ufer des Rheins verstand ich, warum Bundespräsident von Weizsäcker ein so hohes Ansehen unter den Bürgern genießt: umfangreiches Wissen, Intelligenz, Natürlichkeit und Wohlwollen prägen diesen Politiker. Seit jener Zeit halten wir Kontakt zueinander, und von Mal zu Mal wurden unsere Unterredungen aufrichtiger und vertraulicher.“ Gorbatschow trifft Willy Brandt, SPD-Chef Hans-Jochen Vogel, Ministerpräsident Johannes Rau und Altkanzler Helmut Schmidt, „mit dem ich im Zug, unterwegs von Bonn nach Dortmund, beinahe alle wichtigen Fragen der damaligen Situation in der Welt freundschaftlich besprochen hatte“.124

Dreimal kommen Gorbatschow und Kohl unter vier Augen zusammen, zweimal im Bundeskanzleramt, einmal bei Kohl zu Hause. „Ich hatte den Eindruck, dass der Besuch das unter den damaligen Umständen bestmögliche Ergebnis gefertigt habe“, blickt Gorbatschow sechs Jahre später zufrieden zurück.125 „Die sowjetisch-bundesdeutschen Beziehungen erreichten eine neue Qualität. Es gelang uns, elf Abkommen zu unterzeichnen, darunter als wichtigstes politisches Dokument eine Gemeinsame Erklärung, in der wir unsere Sicht auf die Perspektiven des gesamteuropäischen Prozesses und der Beziehungen zwischen unseren Ländern festschrieben.“ Jeder Staat habe das Recht, das eigene politische und soziale System zu wählen und seine Außenpolitik auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten, so heißt es dort – die „Gemeinsame Erklärung“ vom 13. Juni 1989 markiert eine Wende in den deutsch-russischen Beziehungen, doch das zwischen Gorbatschow und Kohl in Bonn entstandene Vertrauensverhältnis stellt der Kanzler bereits am 28. November auf eine ernste Belastungsprobe: „Ich war nicht der Meinung, dass Kohls ‚Zehn-Punkte‘-Katalog eine adäquate Antwort auf die Herausforderungen der damaligen politischen Konstellation war“, kritisiert Gorbatschow.126 „Es entstand der Eindruck, dass Interessen von historischer Bedeutung – und nicht nur für das deutsche Volk – den Interessen des Wahlkampfes untergeordnet wurden.“

Am 5. Dezember reist Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher nach Moskau und muss sich von Michail Gorbatschow und Außenminister Eduard Schewardnadse massive Vorwürfe anhören: „Niemals zuvor und danach habe ich Gorbatschow so erregt und so bitter erlebt“, erinnert sich Genscher.127 Kohls Zehn Punkte seien ein „Ultimatum“ und eine „äußerst dreiste Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates“, der Kanzler führe sich auf wie ein Elefant im Porzellanladen, was Erinnerungen an die deutsche Vergangenheit wachrufe.128 „Der Außenminister fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut“, notiert Gorbatschow später.129 „Die Situation war tatsächlich peinlich. Er war gezwungen, eine politische Position in Schutz zu nehmen – und er tat dies nachdrücklich –, über die er selbst nicht rechtzeitig informiert worden war und die er, wie ich meine, innerlich nicht ganz akzeptierte. Das Gespräch war für uns beide unangenehm. Ich schätzte Genscher als Politiker, schätzte seinen persönlichen Beitrag zum Zustandekommen der Beziehungen zwischen unseren Ländern; dennoch sah ich mich gezwungen, ihm diese Dinge ohne Umschweife zu sagen, da wir doch beide auch weiterhin zusammenarbeiten sollten. Wir beschlossen, die Einzelheiten des Gesprächs für uns zu behalten. Aus diesem Grund zeichnete sich die Presseerklärung durch einen, wie man bei uns sagt, ‚abgerundeten‘ Charakter aus. Ich rechnete aber damit, dass man in Bonn das Signal aus Moskau schon richtig verstehen würde.“

„BRINGT GLASNOST NACH OST-BERLIN!“

George Herbert Walker Bush übernimmt die US-amerikanische Präsidentschaft in einer vielversprechenden Zeit. „We live in a peaceful, prosperous time, but we can make it better“, sagt er in seiner Inaugurationsrede am 20. Januar 1989.130 „Das Zeitalter des Totalitarismus geht zu Ende, und dessen alte Ideologien werden fortgeweht wie die Blätter eines alten, verdorrten Baumes.“ Bereits am 15. Mai jenes Jahres äußert sich Bush in einem Interview mit der „Washington Times“ zur Frage einer Wiedervereinigung Deutschlands: „Ich wäre darüber erfreut. Jeder, der zurückschaut, dann die Gegenwart betrachtet und ein durch eine Teilung entzweites Land und durch politische Teilung getrennte Menschen sieht, sollte Wiedervereinigung auf einer angemessenen Grundlage befürworten.“131

Im selben Monat folgt Bush der Einladung von Bundeskanzler Helmut Kohl nach Deutschland und hält am 31. Mai in der Mainzer „Rheingoldhalle“ eine außenpolitische Grundsatzrede. „Soeben haben Herr Kohl und ich beim Nato-Gipfel in Brüssel unsere Beratungen beendet, und damit sind ausgezeichnete Arbeitsbeziehungen zwischen uns aufgenommen worden“, hebt Bush vor 2.000 Zuhörern hervor.132 „Die Amerikaner und die Bundesrepublik waren immer enge Freunde und Verbündete. Heute übernehmen wir darüber hinaus noch eine gemeinsame Aufgabe – als Partner in einer Führungsrolle. Wenn sich alte Gegner wie Großbritannien und Frankreich oder Frankreich und Deutschland versöhnen können – warum können es dann nicht die Länder in Ost und West? Wir streben die Selbstbestimmung für ganz Deutschland und alle Länder Osteuropas an. Es kann kein gemeinsames europäisches Haus geben, wenn sich nicht all seine Bewohner von Raum zu Raum frei bewegen können. Diese Öffnung hat bereits begonnen. Die Grenze aus Stacheldraht und Minenfeldern zwischen Ungarn und Österreich wird Fuß um Fuß, Meile um Meile beseitigt. Berlin muss die nächste Station sein. An keinem anderen Ort wird die Teilung zwischen Ost und West deutlicher sichtbar als in Berlin. Dort trennt eine brutale Mauer Nachbarn und Brüder. Diese Mauer steht als Monument für das Scheitern des Kommunismus. Sie muss fallen. West-Berlin hat immer die Offenheit einer freien Stadt besessen. Unser Vorschlag würde ganz Berlin zu einem Zentrum des Handels zwischen Ost und West machen – einem Ort der Zusammenarbeit, nicht der Konfrontation. Bringt Glasnost nach Ost-Berlin! Die Sowjets sollten wissen, dass unser Ziel nicht darin besteht, ihre legitimen Sicherheitsinteressen zu untergraben. Unser Ziel ist es, sie davon zu überzeugen, dass ihre Definition von Sicherheit überholt ist und ihre Ängste unbegründet sind. Die Grundlage dauerhafter Sicherheit erwächst nicht von Panzern, Truppen oder Stacheldraht. Sie wird auf gemeinsame Werte und Vereinbarungen gegründet, die freie Völker verbinden.“


George H. W. Bush und Michail Gorbatschow werden einig: Auch das neue Deutschland ist Nato-Mitglied.

Mehrfach ist das Redemanuskript von State Department und Nationalem Sicherheitsrat redigiert worden. Den letzten Schliff nehmen Außenminister James Baker, Sicherheitsberater Brent Scowcroft und Deutschland-Experte Robert Zoellick in Brüssel vor. Sie kommen schließlich überein, die Deutsche Einheit nicht aktiv anzusprechen: „Wir hatten noch keine detaillierte Position zum sensiblen Thema der Wiedervereinigung formuliert und dies auch nicht mit den Deutschen besprochen“, schreibt Scowcroft später.133 „Der ursprüngliche Text erwähnte sie. Ich war jedoch besorgt, den deutschen Nationalismus unnötig zu stimulieren, und nahm den Passus heraus.“ Auch möchte er den Bundeskanzler in dieser Frage nicht überholen. Während eines Ausfluges der beiden Delegationen auf dem Main spricht Scowcroft Bundesverteidigungsminister Gerhard Stoltenberg auf die Wiedervereinigung an: Dieses Thema solle man in Ruhe weiterverfolgen, antwortet Stoltenberg, doch auf der Tagesordnung stehe es ja wahrlich nicht. „Die Bundesregierung veranschlagt für die Vereinigung Zeiträume, mit denen sonst Geologen rechnen“, notiert Scowcroft irritiert.134

Bush verfügt über fundierte außenpolitische Erfahrungen, als er ins Oval Office einzieht. Er hat die Vereinigten Staaten bei den Vereinten Nationen vertreten, das US-Verbindungsbüro in Peking geleitet, die CIA geführt und acht Jahre als Vizepräsident unter Ronald Reagan amtiert. Gemeinsam mit James Baker, Brent Scowcroft, Philip D. Zelikow und Robert B. Zoellick entwirft dieser liberale Republikaner eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa: „Ein starkes und geeintes Europa ist gut für Amerika“, fasst Zelikow die Position der Bush-Administration zusammen.135 „Es gibt nur wenige Länder auf der Welt, die unsere Ziele für die Welt von Morgen wirklich teilen. Und wir möchten, dass all diese Partner stark sind, denn wir können nicht alles alleine machen. Wir streben eine neue, konstruktivere Beziehung zu einem stärkeren Europa an, und wir betrachten Deutschland als einen der Motoren dieses stärkeren Europa.“ Neben die traditionelle „Special Relationship“ zum Vereinigten Königreich tritt die amerikanisch-deutsche „Führungspartnerschaft“ – Privileg und Verpflichtung zugleich.

Die Veränderungen in Mittel- und Osteuropa schätzen Bush und seine Berater ungleich dynamischer ein als Kohl und sein Umfeld, räumt Kanzlerberater Horst Teltschik später ein: Im Mai 1989 wäre die Bundesregierung für eine offene Unterstützung der Einheit noch nicht vorbereitet gewesen. Als die Berliner Mauer fällt, unterlässt der US-Präsident jegliche Geste des Triumphes. Für ihn ist Westdeutschland „eine solide Demokratie, es hat seine Sünden bereut, und es gibt einen Punkt, an dem man loslassen können muss“. Er würde sich „freuen, wenn Deutschland wieder vereint wäre“.136

NEUE DDR-VERFASSUNG ODER BEITRITT ZUM GRUNDGESETZ?

Eine Woche nach dem Volkskammerbeschluss, die diktatorische Führungsrolle der SED aus der DDR-Verfassung zu streichen, kommen Repräsentanten und Kritiker der alten Ordnung am 7. Dezember 1989 zur ersten Sitzung des „Zentralen Runden Tisches“ im Bonhoeffer-Haus in Ost-Berlin zusammen. Initiiert von der Bürgerrechtsbewegung „Demokratie Jetzt“ und moderiert von drei Geistlichen, sitzen Vertreter von DDR-Führung, SED-Massenorganisationen und Blockparteien erstmals Mitgliedern von „Demokratie Jetzt“, Demokratischem Aufbruch, Initiative Frieden und Menschenrechte, Vereinigter Linke, Sozialdemokratischer Partei und Grüner Partei gegenüber, um in paritätischer Besetzung über die Teilung der Macht und die Durchführung von Wahlen zu verhandeln. „Nach dem Fall der Mauer drohte die Situation ein bisschen aus dem Ruder zu laufen“, erinnert sich der Physiker Gerd Poppe, Mitbegründer der Initiative Frieden und Menschenrechte.137 „Wir waren erstens an einer Stabilisierung des Landes interessiert und zweitens an der Machtfrage, also zumindest an der Kontrolle der damaligen Regierung.“ Die Stimmung ist angespannt, schließlich haben die Bürgerrechtler noch vor einem Monat als Staatsfeinde gegolten – Poppe ist von der Staatssicherheit seit Ende der 1960er-Jahre intensiv überwacht worden, und man hat versucht, ihn mit Zersetzungsmaßnahmen zu zermürben. „Im Grunde saßen sich – auch wenn der Ton verbindlich war – erbitterte politische Gegner gegenüber“, konstatiert der für „Demokratie Jetzt“ am Runden Tisch sitzende Regisseur Konrad Weiß.138 Dennoch gelingt es diesem Kreis, insbesondere drei zentrale Beschlüsse zu fassen: Für die DDR soll eine neue Verfassung erarbeitet und anschließend durch eine Volksabstimmung bestätigt werden. Das „Amt für Nationale Sicherheit“, wie die Stasi seit 17. November heißt, soll mit seinen 85.000 hauptamtlichen Mitarbeitern, 32.500 Angestellten und 189.000 Inoffiziellen Mitarbeitern aufgelöst, dessen Akten vor Vernichtung geschützt und ausgewertet werden. Am 6. Mai 1990 soll eine neue Volkskammer gewählt werden. „Gegen Mitternacht suchten wir noch den Hausmeister, um eine Schreibmaschine zu finden, um diese Beschlüsse zu tippen“, erinnert sich Monsignore Karl-Heinz Ducke, einer der drei Moderatoren.139 „Der Zentrale Runde Tisch entwickelte sich immer stärker zu einem Machtorgan neben der provisorischen Volkskammer und der Übergangsregierung Modrow, die keine Entscheidung am Runden Tisch vorbei treffen konnten und Beschlüsse dieses Gremiums zu respektieren hatten“, stellt der die Sozialdemokraten am Runden Tisch repräsentierende Jurist Erich Fischer fest.140

Während das Grundgesetz die Bundesregierung und die übrigen Organe der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 verpflichtet, auf die Wiedervereinigung hinzuwirken („Wiedervereinigungsgebot“), rückt die DDR im Laufe ihrer knapp 41-jährigen Geschichte sukzessive vom ursprünglichen Ziel der Einheit ab. Heißt es in Artikel 1 der Verfassung von 1949 noch „(1) Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik; sie baut sich auf den deutschen Ländern auf. (4) Es gibt nur eine deutsche Staatsangehörigkeit“, so erstrebt die DDR in der Verfassung von 1968 „die Überwindung der vom Imperialismus der deutschen Nation aufgezwungenen Spaltung Deutschlands, die schrittweise Annäherung der beiden deutschen Staaten bis zu ihrer Vereinigung auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus“: „(1) Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus verwirklichen.“ Und in der letzten Verfassung von 1974 findet schließlich die von der SED mittlerweile propagierte „Zwei-Staaten-Theorie“ ihren Niederschlag: „(1) Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“

Der vom Runden Tisch eingesetzten und von Gerd Poppe geleiteten Arbeitsgruppe „Neue Verfassung“ gehören die 16 am Runden Tisch sitzenden Parteien und Gruppierungen sowie Verfassungsrechtler aus beiden Teilen Deutschlands an; noch im Oktober hatte die SED-Juristin Rosemarie Will in einem Strategiepapier geschrieben: „Als Mitglieder der SED müssen wir überzeugend zeigen, dass langfristig lebensfähige und progressive Konzepte sozialistischer Erneuerung echte Entwicklungschancen bieten und dass Konzepte marktwirtschaftlicher oder kapitalistischer Entwicklung wie auch des Anschlusses an die BRD eben diese Chancen nicht enthalten, dass sie im Gegenteil sogar mit der Gefahr sozialen Abstiegs, eskalierender wirtschaftlicher Probleme und einer grundlegenden Destabilisierung in Mitteleuropa und der Verschlechterung der Chancen für einen progressiven Wandel bei der Lösung der globalen Menschheitsprobleme verbunden sind.“141 Das Neue Forum benennt den westdeutschen Verfassungsrechtler Ulrich K. Preuß, 1969 einer der Gründer des Sozialistischen Anwaltskollektivs, 1973 Anwalt der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof und bis 1996 Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bremen. „Natürlich gab es gewisse Spannungen zwischen den Vertretern“, erinnert sich Preuß.142 „Die eine Gruppe argumentierte, wie es ist, kann’s nicht bleiben, aber wir wollen doch so viel an Substanz retten, wie aus der alten DDR rettungswürdig ist, während die andere Gruppe meinte, da ist nichts rettungswürdig, wir müssen eine grundlegend neue rechtliche Realität schaffen.“

In der ersten Phase bis Ende Januar 1990 gibt es in der Arbeitsgruppe noch die Hoffnung, mit einer neuen Verfassung zu einer Demokratisierung der DDR auf eigenständiger Grundlage beitragen zu können und die DDR gleichberechtigt in die Deutsche Einheit einzubringen: „Es ging nicht um die Fort- oder Festschreibung der Zweistaatlichkeit auf alter Grundlage, sondern um die mögliche Herstellung gleichberechtigter Beziehungen im Rahmen einer Konföderation, die für den Prozess des allmählichen Zusammenwachsens offen wäre“, hebt der damalige Sprecher der Initiative Frieden und Menschenrechte Wolfgang Templin hervor.143 „Unter dieser Voraussetzung wurde das Grundgesetz der BRD in seiner demokratischen Substanz herangezogen, aber nicht zum alleinigen Maßstab der Diskussion gemacht.“ Dabei steht die Deutsche Einheit für die Autoren am Ende eines europäischen Prozesses: „Ausgehend von den humanistischen Traditionen, zu welchen die besten Frauen und Männer aller Schichten unseres Volkes beigetragen haben, eingedenk der Verantwortung aller Deutschen für ihre Geschichte und deren Folgen, gewillt, als friedliche, gleichberechtigte Partner in der Gemeinschaft der Völker zu leben, am Einigungsprozess Europas beteiligt, in dessen Verlauf auch das deutsche Volk seine staatliche Einheit schaffen wird, überzeugt, dass die Möglichkeit zu selbstbestimmtem verantwortlichem Handeln höchste Freiheit ist, gründend auf der revolutionären Erneuerung, entschlossen, ein demokratisches und solidarisches Gemeinwesen zu entwickeln, das Würde und Freiheit des Einzelnen sichert, gleiches Recht für alle gewährleistet, die Gleichstellung der Geschlechter verbürgt und unsere natürliche Umwelt schützt, geben sich die Bürgerinnen und Bürger der Deutschen Demokratischen Republik diese Verfassung“, heißt es in der von Christa Wolf verfassten Präambel.144

In seiner letzten Sitzung, sechs Tage vor der auf den 18. März 1990 vorgezogenen Volkskammerwahl, bevollmächtigt der Runde Tisch die Arbeitsgruppe „Neue Verfassung“, ihren Entwurf fertigzustellen. Doch die neue und zugleich letzte Volkskammer der DDR, der dieser Entwurf schließlich am 4. April 1990 vorgelegt wird, verfolgt mehrheitlich bereits ein anderes Ziel: Statt die Deutsche Einheit auf dem zeitaufwendigen Wege der Erarbeitung einer neuen Verfassung nach Artikel 146 des Grundgesetzes („Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“) zu vollziehen, präferiert die Mehrheit der Volkskammer den Beitritt Ostdeutschlands zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 Grundgesetz. „(1) Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. (2) In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“

„Wozu brauchen wir noch eine Verfassung?“, fragt die Abgeordnete Brigitta-Charlotte Kögler in der Volkskammer; im Oktober 1989 hat die Anwältin aus Jena mit Friedrich Schorlemmer und Rainer Eppelmann den „Demokratischen Aufbruch“ (DA) gegründet.145 „Wir gehen mit eiligen Schritten, und ich denke, das ist die neue beschrittene Politik, auf die Einheit zu. Da können wir nicht die Zeit verwenden für eine neue Verfassung, von der wir wissen, dass sie nur eine Übergangsregelung wäre. Und die außerdem ein Hindernis wäre für die schnelle deutsche Einheit.“ Nicht nur der Runde Tisch, auch die Volkskammer verfügt über einen Verfassungsausschuss, Brigitta-Charlotte Kögler ist Vizevorsitzende: „Es war eine historisch richtige Entscheidung, dass ich damals die vorbereitete neue DDR-Verfassung für die Abstimmung im Plenum verhindern und den damaligen Koalitionspartner SPD ebenso vom Beitritt nach Artikel 23 Grundgesetz überzeugen konnte“, sagt sie im Mai 2020 im Rückblick.146 Eine lange Verfassungsdiskussion birgt Risiken: „Beeilt Euch mit der Einheit“, mahnt der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière im vertraulichen Gespräch, „wer weiß, wie lange Gorbatschow sich hält.“147 Gerd Poppe, nach der Wiedervereinigung acht Jahre lang Mitglied des Deutschen Bundestages und außenpolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, zieht im Juli 2015 ein nüchternes Fazit: „Viele westdeutsche Politiker waren zu diesem Zeitpunkt der Meinung, in der DDR müsse sich alles ändern und im Westen gar nichts. Sie haben nicht gemerkt, dass sich natürlich auch die alte Bundesrepublik im Zusammenhang mit der deutschen Einheit und danach entscheidend verändern wird.“148

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