Читать книгу: «Tod in Andeer», страница 3

Шрифт:

Im Sommer davor

Marlene betrat vorsichtig Massimilianos Atelier. In seinem Kopf und unter seinen Händen entwickelte sich eine neue Idee. Diese Zeitspanne war heikel, das wusste sie. Dann und wann war er so absorbiert von seinen Gedanken, dass eine Störung unabsehbare Folgen haben konnte. Ein einziges Mal, vor vielen Jahren, hatte sie in einer solchen Phase ahnungslos sein Reich betreten. Sie hätte es grün und blau verlassen, wenn Massimilianos Hemmschwelle, Gewalt anzuwenden, nicht so hoch wäre. Das war ihr eine Lehre gewesen.

Mit dem Raum konnte sie sich nicht anfreunden, auch wenn sie um seine ausserordentliche Geschichte wusste. Der Marchese Rosales hatte den gewaltigen, mehrere Stockwerke hohen Blashochofen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erbauen lassen, um die italienischen Freiheitskämpfer mit Eisen für die Waffenherstellung zu versorgen. Dass es gescheiter war, dieses Vorhaben nicht an die grosse Glocke zu hängen, lag auf der Hand. Deshalb errichtete er zur Tarnung ein stattliches Haus um den Ofen herum. Spätere Umbauten machten aus dieser Tarnung ein bewohnbares Objekt. Der Hochofen befand sich nach wie vor gut versteckt im Inneren. Das hatte ihn davor bewahrt, von den Einheimischen in seine schönen, exakt behauenen Quader zerlegt und als Baumaterial verwendet zu werden.

Vor dessen riesigem Schlund mit dem gemauerten Rundbogen sass Massimiliano. Marlene erkannte Anzeichen von Entspannung, möglicherweise hatte er den fiebrigen Arbeitsdrang überwunden, weil sich seine Energie nun auf ein Ziel richten konnte. Sie wagte es, einige Schritte auf ihn zuzugehen, und sah erleichtert, dass er sie anlächelte und sich erhob. Sie reichte ihm eines der beiden Gläser mit sizilianischem Weisswein.

«Es ist alles eine Frage der Relation.» Er deutete ein Zuprosten an.

Sie musterte ihn fragend.

«Das Weltall sei unendlich, die Entfernungen unvorstellbar. Per l’amor di Dio, das ist doch völliger Blödsinn!»

«Warum?», fragte Marlene.

Er rang die Hände, sodass der Wein überschwappte. «Siehst du diese Fliege?» Massimiliano deutete auf eine Stubenfliege, die durch den Raum surrte. «Ich frage dich: Was bedeutet für sie der Begriff Unendlichkeit? Ihre Welt ist dieses Haus, ihr Universum das Tal. Sie weiss, dass es hinter den Bergen ringsherum vielleicht weitergeht, aber sie hat keine Vorstellung von anderen Tälern, sie weiss nichts vom Meer oder davon, dass die Erde rund ist.»

Marlene lächelte. «Du meinst, sie macht sich dieselben Gedanken über die Unendlichkeit wie wir?»

«Ja!» Massimiliano verweigerte sich dem leicht ironischen Tonfall. «Und wenn sie es tut, geht sie von anderen Grössenverhältnissen aus.» Er blickte in Marlenes Gesicht und erkannte, dass sie seinen Gedankengängen nicht folgen konnte. Er trank einen Schluck und dachte nach, bevor er neu begann. «Stell dir vor, du wärst eine Darmbakterie.»

«Eine Darmbakterie!», rief Marlene verblüfft. «Ich versuche es. Ich bin eine Darmbakterie.»

«Wo fängt deine Welt an, wo hört sie auf?»

«Im Bauch eines Menschen?»

«Nein!» Massimiliano schüttelte den Kopf, dass der Steinstaub aus seinen Locken flog. «Du hast doch keine Ahnung, dass du dich in einem Bauch befindest. Von einem Menschen hast du noch nie etwas gehört. Also, wo fängt deine Welt an, wo hört sie auf?»

«Hm …», überlegte Marlene. «Im Vergleich zur Nahrung, die durch den Darm befördert wird, bin ich winzig. Ich denke, ich bin in einem bestimmten Abschnitt des Darms zu Hause und verarbeite immer wieder neue Nahrung, die an mir vorbeizieht.»

«Ja, ja, ja!», rief Massimiliano begeistert. «Vielleicht hast du gehört, dass es irgendwo ein Tor gibt, durch welches die Nahrung kommt. Das erzählt man sich über die paar Meter Darm oberhalb von dir, es ist eine Legende. Noch nie ist irgendjemand durch das Tor getreten.»

Marlene liess sich von seiner Leidenschaft anstecken. «Genauso wissen die Darmbakterien unterhalb, dass es irgendwo ein Tor gibt, durch das die verarbeitete Nahrung das Universum verlässt. Man erzählt es sich seit Generationen, aber niemand hat es je gesehen.»

«Niemand, der es je gesehen hat, ist zurückgekehrt», korrigierte er, «deshalb kann niemand erzählen, wie es hinter dem Tor aussieht.»

«Du meinst, das Universum der Darmbakterie ist der Darm?», fragte Marlene. «Der Urknall ist der Anfang beim Magenausgang?»

«Genau!» Massimiliano lachte. «Und der Schliessmuskel ist das Jüngste Gericht.»

Marlene stimmte ein. «Was bedeutet es für die Darmbakterien, wenn jemand Durchfall hat?»

«Dann ist das eine Naturkatastrophe», folgerte er. «Eine Überschwemmung, ein Murgang, ein Ereignis, das viele Opfer fordert.»

«Eine Antibiotikakur?»

«Oh, daran gehen noch viel mehr Darmbakterien zugrunde. Fast alle! Antibiotika sind wie die Pest.»

«Einige überleben immer», merkte Marlene an, «das war bei der Pest auch so.»

«Richtig», stimmte Massimiliano zu. «Sie wissen nicht, was passiert ist und weshalb sie verschont wurden, während ihnen ihre Liebsten genommen wurden. Was machen sie also?»

Marlene hob fragend die Augenbrauen.

«Was machen die Menschen, wenn sie sich etwas nicht erklären können?», drängte er. «Wenn sie dankbar sind, dass sie von etwas nicht heimgesucht wurden, das ausserhalb ihrer Macht steht?»

«Sie vermuten, dass Gott dahintersteckt», begriff Marlene.

Massimiliano nickte eifrig. «Ja, ja, ja! Sie beten!»

Sie nippte am Glas und grinste. «Und wie, du göttliches Wesen, willst du die Darmbakterien in Stein meisseln?»

Er blieb ernst, sein Blick ging in die Weite. «Jedes noch so kleine Teilchen ist ein Universum. Jedes dieser Universen ist Bestandteil eines grösseren Universums. Jede Unendlichkeit ist für das grössere System endlich. Es gibt immer ein grösseres System.»

«Vielleicht.»

«Sicher! Alles, was irgendwo fertig ist, geht jenseits dieses Punkts auf eine andere Art weiter. Es gibt kein Ende.»

«So, wie man zu jeder Zahl noch eins dazuzählen kann?», fragte sie.

Er nickte. «Ich habe eine Idee. Nein», korrigierte er sich, «ich habe eine Ahnung einer Idee. Ich habe einen Funken in meinen Gedanken, der noch nicht greifbar ist. Er muss sich erst festigen, er muss sich Platz verschaffen.» Er nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es zu seinem auf den Boden vor dem Ofenloch. «Komm!», sagte er und fasste sie bei der Hand. «Ich brauche Luft, Raum, Weite.»

Marlene lächelte ihn an und liess sich bereitwillig mitziehen.

4
September 2019

Walter Buess und Meta Schäfer sassen im Polizeiauto und freuten sich darüber, dass zum ersten Mal seit Tagen die Intervallschaltung der Scheibenwischer ausreichte. Sie waren zusammen auf Patrouillenfahrt und rechneten mit einem ruhigen Sonntag. Buess war wie immer sorgfältig rasiert, und zwar nur, weil er sich ärgerte, dass seine Barthaare seit einigen Jahren in Grau sprossen. Seiner Ansicht nach passte das nicht zu seinem nach wie vor roten Haarschopf. Meta Schäfer, die wie er noch rund fünfzehn Jahre bis zur Pensionierung vor sich hatte, zog ihn immer wieder gerne mit seiner Eitelkeit auf.

Als sie in Thusis ihren Dienst angetreten hatten, waren sie sich rasch einig gewesen, ins Schams zu fahren. Die Viamalaschlucht, die das Tal von Thusis trennte, bot nach Regenfällen in der Regel einen beeindruckenden Anblick, den sie sich nicht entgehen lassen wollten. Ausserdem brauchte Meta Schäfer ein Geschenk für die Bekannten, bei denen sie und ihr Mann zum Abendessen eingeladen waren, und das wollte sie in der Konditorei in Andeer besorgen. Die Cagliatschatürmli, die hier seit bald siebzig Jahren hergestellt wurden, schienen ihr geeignet. Im Übrigen gefiel ihr der Name, er war eine Herausforderung für alle Auswärtigen.

Dazu kam es allerdings nicht. Als sich die beiden in der Viamala befanden, erreichte sie die Meldung von der Auffindung einer Toten in der Nähe von Andeer. Meta antwortete sofort, sie seien fast schon vor Ort und würden sich um den Fall kümmern. Eilig stiegen sie die Treppen aus der Schlucht hoch zum Parkplatz und in ihr Auto. Meta diktierte Buess, der auf dem Beifahrersitz sass, die Nachricht an ihren Mann, er müsse sich selbst um ein Geschenk bemühen, und steuerte Andeer an. Dass ihr Gatte ungehalten auf die Anweisung reagieren würde, konnte sie sich unschwer ausmalen, aber sie verdrängte den Gedanken lieber. Deshalb ahnte sie nicht, dass er wütend dachte, ein wenig Provokation könne nicht schaden, und trotzig in den kurdischen Laden ging, wo er als Gastgeschenk eine Schachtel der klebrigen Süssigkeiten kaufte, die sie verabscheute.

Zwei rote Flecken zierten die faltigen Wangen der älteren Dame, die die Entdeckung gemacht hatte. Aufgeregt unterhielt sie sich mit der Ärztin, die von der Einsatzzentrale der Polizei nach dem Eingang der Meldung aufgeboten worden und die noch vor Buess und Schäfer vor Ort angekommen war.

Die Ärztin hatte die Hände in die Jackentaschen gesteckt und fror erbärmlich. Sie hatte weder einen Schirm noch eine Kapuze, ihre Haare kräuselten sich bereits im leichten Regen. Bis wir hier fertig sind, wird sie aussehen wie ein Pudel, dachte Meta Schäfer.

«Ich konnte nicht ganz bis zu ihr gelangen», berichtete die Ärztin. «Sie ist wahrscheinlich seit mehr als einem Tag tot, so, wie sie aussieht. Offenbar verfing sich einer der Füsse in den Steinen am Ufer, und der Baumstamm, den das Unwetter heranführte, klemmte ihr Bein so ein, dass sie nicht abgetrieben wurde, sondern hier stecken blieb.»

«Ob sie wohl hier ins Wasser gefallen ist?», fragte sich Buess.

«Keine Ahnung.» Die Ärztin zuckte die Achseln. «Die sichtbaren Verletzungen können vom Sturz in den Fluss stammen oder aber vom Geröll oder den Stämmen, die das Wasser in diesen Tagen mit sich führt. Sie kann von dieser Brücke gefallen oder irgendwo weiter oben in den Rhein gelangt sein, das kann ich nicht beurteilen.»

Mit Blaulicht und Sirene näherten sich weitere Einsatzfahrzeuge. Während die Bergungsarbeiten ihren Lauf nahmen, setzte sich Meta Schäfer mit den beiden Frauen in ihr Polizeiauto. Der Pudel brauchte sich nicht auch noch eine Erkältung zu holen, fand sie, und die ältere Dame machte zwar einen robusten Eindruck, sollte aber besser nicht unnötig strapaziert werden.

Die Nachricht, bei der Brücke zum Granitwerk sei etwas passiert und die Polizei sei zahlreich vor Ort, verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Dorf. Ursin und Frederik erschienen als Nummer fünf und sechs am Fundort, zusammen mit ein paar anderen Kindern. Sie versuchten verzweifelt, etwas zu sehen, wurden aber von den Polizisten angeschnauzt. Wie eine Hundemeute schlugen sie einen Bogen, um sich von der anderen Seite zu nähern. Sie kletterten auf die Granitblöcke vor dem Steinverarbeitungsbetrieb, um bessere Sicht zu haben, aber es nützte alles nichts. Sie erkannten die Ärztin und Annetta Baselgia, die ältere Frau aus dem Dorf. Auch den einen oder anderen Polizisten hatten sie schon gesehen. Hören konnten sie indessen nichts, und da ihnen niemand berichtete, was vor sich ging, liessen sie ihrer Fantasie freien Lauf. Ob wohl ein Auto in den Rhein gefallen war? Ein Tier? Ein Mensch?

«Vielleicht ein Selbstmörder», mutmasste einer.

«Bestimmt nicht, du sturnicel», erwiderte ein anderer. «Von dieser Brücke springt keiner, um sich das Leben zu nehmen, sie ist ja kaum ein paar Meter hoch.»

«Selber sturnicel!», wies ihn der erste zurecht. «Er könnte irgendwo weiter oben gesprungen und hier angespült worden sein.»

Zum wiederholten Male wandten sie sich an den Polizisten, der sie nicht näher herankommen liess, und fragten ihn, ob sie mit ihrer Vermutung richtig lagen. Wie nicht anders zu erwarten, verweigerte er jegliche Auskunft, was sie aber nicht abschreckte.

«Ist ein Auto in der Rhein gefahren?»

«Sassen Leute drin?»

«Hat man etwas gefunden? Geld oder so?»

«Oder geht es um eine Kuh oder ein Pferd?»

Der Polizist hatte grosse Lust, die Bengel mit einem Schuss in die Luft gehörig zu erschrecken, beherrschte sich aber. Ein Freund und Helfer schiesst nicht in die Luft, ermahnte er sich. Zumal diese Aktion wohl nur noch mehr Halbwüchsige angezogen hätte. Er schimpfte eine Tonlage höher. Die Wirkung blieb aus. Genervt stellte er fest, dass aus dem Dorf zwei weitere Kinder angerannt kamen, gefolgt von ein paar neugierigen Erwachsenen. Das konnte ja heiter werden.

«Ein Leichenwagen!», schrie ein Mädchen, das er bisher in der Gruppe nicht bemerkt hatte.

«Ein Toter.» – «Keine Kuh.» – «Ein Toter.» – «Ein Unfallopfer.» – «Ein Selbstmörder.» – «Ein Toter.» – «Eine Tote!»

Die ersten Schaulustigen kehrten ins Dorf zurück, um die Kunde zu verbreiten. Andere zückten das Mobiltelefon, um Fotos zu schiessen, die sie an die Nachrichtenportale schicken konnten. Die Erwachsenen gaben sich gelassener, waren aber nicht weniger erregt als die Kinder. Innert kurzer Zeit wussten alle in Andeer von dem Fund, und nur wenige Stunden später hatte sich die Neuigkeit überregional verbreitet.

Niemand nannte ihn Logistiker Distribution, obwohl das die korrekte Bezeichnung für seinen Beruf gewesen wäre. Er war für alle der Briefträger. Benedetg nannte ihn ebenfalls kaum jemand, auch wenn er so hiess. Für die allermeisten war er Beni, einzig für seine Grossmutter war er hie und da Benedetg. Nämlich dann, wenn sie ihm die Leviten las. Das hätte er ihr heimzahlen können, indem er sie Tatta gerufen hätte, wie alle anderen Grossmütter im Schams genannt wurden. Dazu fehlte es Beni freilich an Streitlust, er nannte sie stets Nana Annetta, wie sie das wünschte, weil sie ihrer eigenen Nana sehr zugetan gewesen war.

Seit bald zehn Jahren bildeten Beni und Annetta die WG Baselgia. Kurz nach seinem vierzehnten Geburtstag war es zwischen seinen Eltern zum Krach gekommen, worauf seine Mutter aus dem Tal weggezogen war. In der Folge hatte Annetta ihren Sohn einen tgapatalpas genannt, und zwar so laut und deutlich, dass auch die nicht Romanischsprachigen in der Nachbarschaft begreifen mussten, dass sie ihn als Dummkopf beschimpfte. Seither sprachen sie zwar nach wie vor miteinander, jedoch selten ein freundliches Wort. Benis Vater hatte den Fehler gemacht, auch zu Hause den Mund nicht zu halten und in Benis Gegenwart über dessen Mutter und Grossmutter herzuziehen. Beni, ein harmoniebedürftiges Wesen, kam damit nicht lange zurecht. Bald ging er nur noch zum Schlafen nach Hause und später nicht einmal mehr das. Er packte seine Sachen und zog bei Annetta ein. Ob sein Vater seinen definitiven Exodus bemerkte, entzog sich seiner Kenntnis. Es dürfte ihm spätestens dann klar geworden sein, als die Nana ihn aufsuchte und ihm mitteilte, dass Beni sein Kostgeld fortan bei ihr abliefern werde, nicht mehr bei ihm.

In der Wohngemeinschaft waren die Rechte und Pflichten klar definiert, etwas anderes liess Annettas Sinn für Ordnung und Struktur nicht zu. Unumstösslich war die Regel, dass die privaten Zimmer gegenseitig nicht betreten wurden. Kein plötzliches Auftauchen, um etwas zu fragen, kein Zutritt während der Abwesenheit des Mitbewohners oder der Mitbewohnerin, auch nicht für die Reinigung, die in den übrigen Räumen Annetta erledigte und die auf Benis Konto beim Aufwand aufgeführt wurde. Geld musste er dafür freilich keines in die Hand nehmen, die Schuld glich er mit kleinen Pflichten im Haushalt aus, vor allem aber durch die Zuständigkeit für das Brennholz. Das alte Haus wurde hauptsächlich durch einen Kachelofen im Wohnzimmer und einen Schwedenofen in der Küche geheizt, die mit Unmengen von Holzscheitern befüllt werden mussten.

An diesem Sonntag schlief Beni nach einem deftigen Ausgang am Vorabend bis in den Nachmittag hinein tief und fest. Als er endlich wahrnahm, dass Annetta laut an seine Zimmertür pochte und ungeduldig seinen Namen rief, glaubte er zu träumen. Das war noch nie passiert, es verstiess gegen ihre Prinzipien. Folglich musste das Erdgeschoss unter Wasser stehen, ein Terrorkommando eingedrungen oder ein Meteorit aufs Dach gefallen sein oder all das gleichzeitig. Er schälte sich aus der Decke und eilte zur Tür.

«Bei der südlichen Brücke liegt eine Leiche im Rhein, und ich habe sie gefunden!», berichtete Annetta.

Trotz der vorabendlichen Eskapaden war Beni hellwach. Diese Eigenschaft gehörte zu den Anforderungen an einen Logistiker Distribution. Sofort war ihm klar, dass es keinen Sinn hatte, sich mit dummen Fragen aufzuhalten. Bist du sicher? Was hast du dort gemacht? Warst du bei der Polizei? Alles überflüssig. Stattdessen: «Wer ist es?»

«Ich weiss es nicht. Eine Frau, aber ich habe nicht genug von ihr gesehen, um sie erkennen zu können.»

«Das wird man bald erfahren. Haben die Leute des Alpenclubs geholfen, sie zu bergen? Sie gehen nachher sicher ins ‹Weisse Kreuz›.»

Annetta widersprach. «Der Alpenclub musste nicht helfen, die Polizei hat das selbst geschafft. Die ist mit allem aufmarschiert, was geradeaus gehen kann.»

«Sie werden wohl ihre Vermisstmeldungen durchgehen, dann wissen sie schnell, um wen es sich handelt. Gewiss eine Selbstmörderin», mutmasste Beni.

«Jedenfalls möchte ich es erfahren. Ich gehe ins ‹Weisse Kreuz›.»

«Mach das», stimmte Beni zu und griff nach seinem Smartphone. «Ich frage die Kollegen, ob jemand etwas weiss.»

Einige Wochen vorher

Blanka sass am Schreibtisch und prüfte, ob Rechnungen zu bezahlen waren. Sie war nicht ganz bei der Sache, denn gleichzeitig lauschte sie in den Gang hinaus, um ihre Chefin beim Betreten des Hauses nicht zu verpassen.

Endlich. Sie hörte, wie die Tür geöffnet wurde, und erkannte problemlos, dass die eintretende Person Marlene war. Ihre Schritte waren leichtfüssig, und die Duftwolke, die sie umgab und sich bald bis zu Blanka ausbreitete, verkündete, dass sie direkt aus dem Stall kam. Mit einigem Gerumpel tauschte sie die Stiefel gegen Hausschuhe aus. Blanka wusste, dass Marlene gern barfuss unterwegs gewesen wäre, aber die kalten Steinböden in den einen und die groben Holzriemen in den anderen Räumen liessen das nicht zu. Nun kündigten die Schritte an, dass Marlene aus dem Entrée in den weiten Flur hineintrat. Blanka erhob sich rasch, packte das dicke Couvert und stellte sich wortlos in den Gang.

Abrupt hielt Marlene inne. Blankas düsteres Gesicht und der Umschlag konnten nur eines bedeuten. «Post für Liese?», fragte sie.

Blanka nickte und überreichte ihr die Sendung.

Marlene bedankte sich und musterte die Anschrift: Liese Haller, c/o Marlene Bernard, Haus Rosales, Andeer. «Damit war zu rechnen», seufzte sie. «Roos hat bei ihrem Besuch im Frühling angekündigt, dass ihre Freundin Liese zwei, drei Sendungen erwarte, die sie hierherschicken lasse, damit Roos sie im Herbst mitnehmen könne.»

«Liese Haller?», fragte Blanka verächtlich.

«Ein Name ist so gut wie der andere», meinte Marlene achselzuckend. «Diese Person wird wohl kaum existieren. Die Sendungen sind für Roos selbst.»

Blanka biss die Zähne zusammen und nickte. «Sie geht ein grosses Risiko ein. Sie bringt uns damit in Gefahr.»

«Nein, ich denke nicht», widersprach Marlene.

«Und wenn plötzlich einer der Absender hier auftaucht?», wandte Blanka ein.

«Sie ist nicht dumm», meinte Marlene und strich ihr sanft über den Arm. «Ihr System ist raffiniert. Die Absender können die Verbindung zu uns nicht herausfinden. Roos weiss genau, dass wir sie nicht schützen würden, wenn wir selbst in Gefahr wären.»

Widerwillig musste ihr Blanka recht geben.

5
September 2019

«Nichts.»

«Wie, nichts?», fragte Meta Schäfer ungehalten durchs Telefon. Der Fundort war inzwischen geräumt, die tote Frau abtransportiert worden. Niemand der dort Anwesenden, weder Polizisten noch Rettungsdienst, Ärztin oder Finderin, kannten das Opfer. Sie und Walter Buess, die nach wie vor in Andeer beschäftigt waren, hatten deshalb ihren jungen Kollegen Camenisch auf dem Posten in Thusis beauftragt, die Vermisstmeldungen durchzugehen.

«Nichts, eben. Es wird keine Frau vermisst, auf die eure Beschreibung passt.»

«Wie soll das möglich sein?» Meta verdrehte die Augen. «Irgendjemand wird sie doch vermissen, wenn sie vor ein paar Tagen in den Fluss gefallen ist!»

«Du brauchst mich nicht anzuschnauzen», parierte der Jüngere. «Es ist, wie ich sage. Lass besser deine Fantasie walten, um herauszufinden, wer sie sein könnte.»

Meta verzog das Gesicht, verkniff sich aber eine giftige Bemerkung. «Wir werden im Dorf herumfragen müssen», meinte sie.

«Ja, aber das wird wenig bringen. Dort wissen inzwischen alle, dass eine tote Frau gefunden wurde. Wenn sie jemand vermissen würde, hätten wir das inzwischen erfahren.»

«Ausser, sie hat in einer Ferienwohnung gelebt. Moment, ich rufe dich gleich nochmals an.»

Walter Buess war herangetreten und hatte ihre letzten Sätze mitbekommen. «Sie wird bisher nicht vermisst», mutmasste er.

«Genau», bestätigte Meta Schäfer.

«Immerhin habe ich gute Nachrichten», fuhr Buess fort. «Die Untersuchung des Fundorts hat ergeben, dass sie höchstwahrscheinlich von der Brücke aus in den Rhein gestürzt ist.»

«Woher will der kriminaltechnische Dienst das wissen?», fragte sie.

«Bei der Brücke handelt es sich um eine Hängebrücke», erläuterte der Kollege. «Sie ist aber eher zweckmässig als schön konstruiert. Bei der Befestigung der Tragseile gibt es Metallstifte, die abstehen.»

«Ja, das habe ich gesehen.» Meta nickte.

«Offenbar haben sie dort Fäden oder Spuren von Stoff gefunden, ich weiss es nicht so genau. Grasgrün, wie die Jacke der Frau, und vermutlich aus dem richtigen Material.»

«Vermutlich?»

«Die definitive Bestätigung steht noch aus, aber es spricht alles für einen Sturz von der Brücke.»

«Das ist immerhin etwas», meinte Meta Schäfer. «Höchste Priorität hat jetzt, herauszufinden, um wen es sich bei der Toten handelt. Wir brauchen ihr Bild, um herumzufragen. Hotels, Läden, Mineralbad. Ferienwohnungen. Postautochauffeure.»

«Zunächst Andeer und flussaufwärts, also auch Rofflaschlucht, die Dörfer im Rheinwald und im Avers. Dann abwärts bis und mit Thusis.» Buess schaute auf die Uhr. «Stgier und Demont sind bereits hier, Meuli und Domenig treffen jeden Moment ein. Wir teilen das Gebiet unter uns auf.»

«Camenisch soll die italienischen Kollegen fragen, ob sie etwas wissen. Vorderhand informell. Die Grenze ist nah, sie könnte aus Italien gekommen sein. Ausserdem soll er uns ein passables Foto schicken.»

«Sie sah nicht mehr besonders passabel aus, das wird schwierig», seufzte Buess.

«Wir brauchen das Foto nicht für eine Shampoowerbung, man muss sie nur erkennen können!»

Buess schaute sie strafend an. «Lass mich raten. Du hattest heute Abend etwas vor, und jetzt wird dir klar, dass wir die Sache hier nicht bis zum Feierabend abschliessen können. Habe ich recht?»

«Ja», gab Meta widerwillig zu.

«Trag es mit Fassung. Der gemütliche Abend lässt sich später nachholen.» Er verkniff sich ein Grinsen. «Ausserdem werden wir bis spät abends hier beschäftigt sein, und bis dann ist die Wut deines Gatten verraucht.»

«Auch das stimmt», sagte Meta. «Ich hatte mich allerdings wirklich auf diesen Besuch gefreut.» Nicht zuletzt deshalb, weil der jüngste ihrer drei Söhne ihr mit seinen pubertären Launen gehörig auf die Nerven fiel, doch das erwähnte sie nicht. «Aber egal. Machen wir uns an die Arbeit.»

«Nichts.»

«Wie, nichts?» Annetta schaute ihren Enkel über ihren Kaffee Fertig hinweg an.

Beni vermutete, dass es der zweite war an diesem Sonntagnachmittag, denn die Nana war auf der Jagd nach Neuigkeiten vom «Weissen Kreuz» weitergezogen ins Hotel Fravi. Er war, nachdem er via Mobiltelefon nichts hatte in Erfahrung bringen können, ebenfalls hierhergekommen. Er vermutete, dass sich die Leute der Polizei oder der Gemeindebehörde am ehesten da einfinden würden.

«Man weiss nichts», präzisierte Beni. «Bisher hat sich nicht herumgesprochen, wer die tote Frau ist.»

«Vielleicht weiss man noch gar nicht, um wen es sich handelt», überlegte einer der anderen Gäste am Tisch.

«Eine Auswärtige, meinst du?» Annetta runzelte die Stirn. «Eine Touristin, die bei diesem Wetter am Rhein spazieren ging? Wohl kaum.»

Die Mutmassungen der Handvoll Leute zogen sich eine Weile hin, ohne nennenswerten Erfolg. Bald wandte man sich einmal mehr den Abschüssen auf der Hochjagd zu, von denen man erfahren hatte.

Schliesslich machte sich Annetta auf den Heimweg, während Beni bei einem Kollegen vorbeischauen wollte. Als er am späten Nachmittag nach Hause kam, traf er seine Nana in Gedanken versunken am Küchentisch sitzend an.

«Die Polizei sollte im Dorf herumfragen, wer das sein könnte», teilte sie Beni ihre Schlussfolgerung mit. «Die Einheimischen wissen am ehesten, um wen es sich handeln könnte.»

«Auf diese Idee werden sie bestimmt selbst kommen, wenn sie es auf andere Weise nicht herausfinden.»

«Die Frage ist, ob sie schlau genug sind, die Person zu fragen, die am ehesten Bescheid weiss.» Sie musterte ihn prüfend.

«Und wer wäre das, deiner Meinung nach?» Beni hatte bei aller Neugier allmählich genug von dem Thema. Sein Magen knurrte, und er überlegte, ob in seinem Teil des Kühlschranks wohl noch etwas Vernünftiges zu finden war. Ein grosses Stück Fleisch zum Beispiel. Das Knurren wurde lauter.

«Du.»

«Was, ich?», fragte er abwesend. Offenbar hatte er etwas verpasst. Besser wäre er ein bisschen aufmerksamer, dann konnte er der Nana vielleicht wenigstens eines ihrer Schnitzel abschwatzen, die sie immer vorrätig hatte. Er fürchtete, dass abgesehen von ein paar Eiern gähnende Leere herrschte in seinem Hoheitsgebiet.

«Du bist die Person, die am ehesten Bescheid weiss, wer die Tote sein könnte», erklärte sie ungeduldig.

Beni schaute verdattert auf. «Ich? Wieso denn?»

«Überleg doch mal», wies sie ihn an. «Welcher Briefkasten quillt über, weil er seit ein paar Tagen nicht geleert worden ist? Welche Frau, von der du die täglichen Gewohnheiten kennst, hat diese in letzter Zeit unterlassen? Was ist dir auf deiner Tour Ungewöhnliches aufgefallen?»

«Ich habe keine Ahnung, sonst hätte ich das längst gesagt», antwortete Beni abwehrend.

«Du hast nicht genug darüber nachgedacht», stellte Annetta fest. «Das holen wir jetzt nach.»

«Jetzt?»

«Jawohl.»

«Jetzt habe ich in erster Linie Hunger», widersprach Beni.

«Bei deinen Vorräten herrscht gähnende Leere, ausser Spiegeleiern oder Teigwaren mit Tomatensauce kannst du dir nichts kochen.»

Warum erstaunt es mich nicht, dass sie das besser weiss als ich?, fragte sich Beni.

«Ich trete dir ein Schweinsfiletspiesschen ab und teile mit dir die Spätzli, die ich noch zum Aufwärmen habe.» Die Geräusche aus Benis Körpermitte waren auch für Annetta nicht mehr zu überhören. «Du kochst, ich frage, du antwortest, ich wasche ab.»

Beni kapitulierte. In Windeseile stellte er zwei Bratpfannen auf den Herd und zwei Teller auf den Tisch, würzte, brutzelte und wendete, während ihn Annetta ihrem Verhör unterzog. Systematisch ging sie mit ihm seine Tour durch. Als er die beiden Pfannen auf den Tisch stellte und sich reichlich schöpfte, war sie längst noch nicht fertig. Mit vollem Mund gab er ihr weiter Auskunft.

«Beim Herrschaftshaus mit dem elenden Köter ist also alles wie immer, sagst du», setzte Annetta die Unterhaltung fort. «Beim katholischen Friedhof?»

«Dort gibt es keinen Briefkasten.»

Annetta verdrehte die Augen. «Auch ohne Briefkasten kann etwas ungewöhnlich sein.»

«Dort ist nichts ungewöhnlich», stellte Beni klar. «Alles wie immer.»

«Beim Haus Rosales?»

«Auch dort …» Beni stutzte.

«Was ist los beim Haus Rosales?», drängte die Grossmutter.

«Gestern und heute waren dort verschiedene Autos zugegen», berichtete Beni. «Ein Lieferwagen aus Zürich, von einer Kunstgalerie, glaube ich. Ein schwarzer Tesla mit Bündner Nummer und einem diskreten Logo auf der Tür.»

Annetta musterte ihn aufmerksam. «Haben sie ein wertvolles Kunstwerk gekauft?»

«Nein. Zwei riesige Pakete wurden in den Lieferwagen eingeladen. Ich musste kurz warten, bevor ich wieder abfahren konnte. So bekam ich mit, dass die Galerie zwei Bilder eines französischen Künstlers gekauft hat.»

«Handeln sie neuerdings mit Kunst?», fragte sich Annetta.

Beni zuckte die Achseln. «Muss nicht sein. Vielleicht richten sie sich nur neu ein.»

«Ein schwarzer Tesla mit diskretem Logo», überlegte Annetta. «Vielleicht eine Anwaltskanzlei. Oder eine Vermögensberatung, ein Treuhänder. Waren der Bildhauer und seine Frau dort?»

«Nein.» Beni runzelte die Stirn. «Ich habe nur die Haushälterin gesehen. Den Mann treffe ich sowieso selten an, aber die Hausherrin ist häufig bei ihren Pferden. Seit ein paar Tagen habe ich sie aber nicht gesehen.»

«Sie verkaufen wertvolle Bilder, die abgeholt werden, wenn sie nicht da sind?», zweifelte Annetta.

«Daran ist nichts Besonderes», meinte Beni. «Sie werden sich zum Verkauf entschlossen haben, den sie nun durch eine Fachperson abwickeln lassen, das ist alles.»

«Kann sein», gab ihm die Nana widerstrebend recht. «Vielleicht sind sie zusammen verreist, während das Haus neu eingerichtet wird.»

«Nicht zusammen, glaube ich», widersprach Beni. «Sie habe ich am Mittwoch zum letzten Mal gesehen. Sein Auto war am Donnerstag und am Freitag noch hier.»

«Das ist eigenartig», stellte Annetta fest.

«Das muss gar nichts heissen», entgegnete er. «Sie kann vorausgegangen sein, er folgte ihr ein paar Tage später. Dafür kann es hundert Gründe geben.»

«Sicher», stimmte Annetta zu. «Aber wenn gleichzeitig eine Frau im Rhein ertrinkt und Kunstwerke abtransportiert werden, könnte es eben doch etwas heissen.»

1 915,18 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
284 стр. 8 иллюстраций
ISBN:
9783858302946
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Новинка
Черновик
4,9
177