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Einen weiteren wichtigen Beitrag zu einer deskriptiven Intertextualitätstheorie leistet die bereits kurz erwähnte, von Ulrich Broich und Manfred Pfister 1985 herausgegebene Aufsatzsammlung Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, die sich zum Teil als Reaktion auf GenettesGenette, Gérard Palimpseste versteht, dessen Gesichtspunkte in verschiedener Hinsicht präzisiert, ergänzt und durch konkrete Analysen von Texten der englischen Literatur, die Genette trotz seiner weitgespannten Untersuchung „nur relativ selten“ berücksichtige, erweitert werden sollen (Broich/Pfister 1985: IX). In den theoretischen Prämissen etablieren die Herausgeber die Unterscheidung zwischen der Einzeltextreferenz, also dem Bezug eines Textes auf einen Prätext, und der Systemreferenz, d.h. der Beschreibung eines Textes im Verhältnis zu Gattungsnormen oder anderen strukturbildenden Textsystemen. Es wird erwähnt, dass diese Unterscheidung sich in anderer Terminologie schon bei Genette finde (Broich 1985b: 49, Fussnote 3), während gewisse Aspekte der Systemreferenz mit Elementen von BachtinsBachtin, Michail M. und KristevasKristeva, Julia Intertextualitätskonzeption übereinstimmten (Pfister 1985b: 54). So gesehen, schaffen die beiden Autoren also auch Verbindungen zwischen dem ontologischen und dem deskriptiven Intertextualitätsbegriff, wobei aber die präzisen Beschreibungen und Definitionen der verschiedenen Formen von Intertextualität für ihre Publikation bestimmend sind.

In meiner Arbeit stütze ich mich, wie erwähnt, vor allem auf die Konzepte der Polyphonie und der Dialogizität, wie sie von BachtinBachtin, Michail M. entwickelt wurden; ich möchte untersuchen, inwieweit die Präsenz anderer Texte in Oehlenschlägers Roman sich als gleichrangige „Stimmen“ im Sinne Bachtins manifestieren. Auch betrachte ich die verschiedenen, jeweils in zwei Sprachen erschienenen Fassungen dieses Romans als Phänomene, welche die Werkgrenzen durchlässig machen und das Prozesshafte, Dynamische des Textes ins Blickfeld rücken. Dennoch werde ich für die Beschreibung bestimmter formaler Aspekte von intertextuellen Beziehungen auf die Arbeiten von GenetteGenette, Gérard und Broich/Pfister zurückgreifen und überdies andere Erkenntnisse und Beiträge zur Intertextualitätsforschung, wie z.B. von Harold BloomBloom, Harold oder Renate Lachmann, einbeziehen.

Auch BachtinsBachtin, Michail M. Theorien zur Karnevals- und Lachkultur, wie er sie in seiner umfassenden Untersuchung zu Rabelais und zur Volkskultur von Mittelalter und Renaissance darstellt (Bachtin 1995), haben sich als hilfreich für die Beschreibung bestimmter Phänomene in Oehlenschlägers Roman erwiesen und sollen darum zur Stützung einzelner Analysen meiner Arbeit ebenfalls berücksichtigt werden.

1.2.2 Übersetzungswissenschaft

Dass die Übersetzung als solche ihrem Wesen nach ein intertextuelles Phänomen ist, bedarf keiner weiteren Erklärung und ist in der Intertextualitätsforschung trotz unterschiedlicher Richtungen und Konzepte unbestritten. Sie kann als „Spielform der Intertextualität“ eingestuft werden, wie dies Werner von Koppenfels bezogen auf die literarische Übersetzung tut (Koppenfels 1985: 138), indem er KristevasKristeva, Julia Konzept der Intertextualität als „absorption et transformation d’un autre texte“ (Kristeva 1969: 85) auf diesen „generischen Sonderfall“ eingrenzt (Koppenfels 1985: 138). GenetteGenette, Gérard kategorisiert die Übersetzung als „Transformation“ und gliedert sie in die Unterkategorie der „ernsten Transformation“ ein, die er auch als „Transposition“ bezeichnet: „Die augenfälligste und sicherlich verbreitetste Transpositionsform besteht darin, einen Text aus einer Sprache in eine andere zu übertragen: Das ist natürlich die Übersetzung […]“ (Genette 1993: 289). Gleich zu Beginn seiner Ausführungen erwähnt er die zweisprachigen Schriftsteller, die ihr Werk in zwei Versionen verfassen, indem sie es gleichzeitig in zwei Sprachen hervorbringen oder im Nachhinein selbst übersetzen. Der Hinweis steht im Zusammenhang mit der Betonung der Bedeutung des Übersetzens für die Literatur, denn einerseits müssten ja die Meisterwerke [der verschiedenen Literaturen] übersetzt werden, andrerseits würden Übersetzungen oft selbst wieder zu Meisterwerken, wofür er Beispiele von Dichtern anführt, die Werke anderer Dichter übersetzten (Genette 1993: 289). Damit knüpft er im Übrigen an eine der drei Kategorien des Übersetzens an, die NovalisNovalis (Friedrich von Hardenberg) aufgestellt hatte, nämlich an die des „verändernden Übersetzens“, wozu der „höchste poetische Geist“ nötig sei; der wahre Übersetzer müsse „der Dichter des Dichters sein und ihn also nach seiner und des Dichters eigner Idee zugleich reden lassen können“ (Novalis 1962: 353).

In der Folge geht GenetteGenette, Gérard jedoch auf diese Thematik nicht weiter ein, sondern widmet seine kurze Darstellung der für die Übersetzungswissenschaft nach wie vor zentralen Frage der Übersetzbarkeit. Die Diskussion der synchronen Transposition von einer Sprache in eine andere ergänzt er dabei um eine diachrone Dimension, womit die Probleme gemeint sind, die sich in der Übersetzung durch die Unterschiede zwischen den historischen Entwicklungsstufen der Sprachen ergeben können. Moderne Übersetzungen antiker oder mittelalterlicher Texte bewirkten, dass der Leser die historische Distanz im sprachlichen Ausdruck nicht nachempfinden könne, was allerdings, wie Genette einräumt, im Fall der Antike z.B. für französische Leser ohnehin nicht möglich wäre (Genette 1993: 292–294). Sein Bedauern darüber weist ihn implizit als Vertreter oder doch als Sympathisant der verfremdenden Übersetzung aus, d.h. jener Richtung, welche die Ausgangssprache gegenüber der Zielsprache favorisiert und ihre Eigenart in der Zielsprache wahrnehmbar machen möchte. Diese Strategie vertritt SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich in seinem grundlegenden Vortrag „Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens.“1 Er bietet darin eine theoretische Systematisierung des Übersetzens vor allem philosophischer und literarischer Texte, das gerade in seiner Zeit überaus eifrig betrieben wurde und dem deutschen Lesepublikum den Zugang zu einer Vielzahl berühmter Werke anderer Literaturen eröffnen sollte. SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich unterscheidet bekanntlich zwei Übersetzungsmethoden, die „einbürgernde“ und die „verfremdende“, wie man sie heute nennt, wobei er unbedingt für die zweite eintritt, denn nur durch eine Übersetzung, die als solche erkennbar bleibe, könne der Leser ein Bewusstsein für das Andere, für die fremde Kultur der Ausgangssprache entwickeln und dadurch eine Bereicherung der eigenen Sprache und Kultur erfahren. Schleiermacher sieht eine solche Dynamik auch generell für die deutsche Sprache: „[…] so fühlen wir auch, dass unsere Sprache […] nur durch die vielseitigste Berührung mit dem fremden recht frisch gedeihen und ihre eigne Kraft vollkommen entwickeln kann“ (Schleiermacher 2002: 92). Am Ende seiner Ausführungen würdigt er die zahlreichen Übersetzungsbemühungen seiner Zeit: „Ein guter Anfang ist gemacht, aber das meiste ist noch übrig. […] Wie sehr schon einzelne Künstler die Schwierigkeiten theils besiegt, theils sich glücklich zwischen ihnen durchgewunden haben, liegt in mannigfaltigen Beispielen vor Augen“ (Schleiermacher 2002: 92–93). Damit deutet er die rege Übersetzertätigkeit der zeitgenössischen Schriftsteller an, auf die explizit schon NovalisNovalis (Friedrich von Hardenberg) hingewiesen hatte: „[…] indem es fast keinen deutschen Schriftsteller von Bedeutung gibt – der nicht übersetzt hätte und wahrlich darauf so viel sich einbildet, als auf Originalwerke, […].“2Schlegel, August WilhelmNovalis (Friedrich von Hardenberg)Shakespeare, William

Oehlenschlägers intensive Übersetzungsarbeit, die der Autor während seiner ganzen schriftstellerischen Laufbahn betrieb, steht also in einem literaturgeschichtlichen Kontext, in welchem das Übersetzen fast selbstverständlich zur schriftstellerischen Tätigkeit gehörte. Dies betrifft neben umfassenden Selbstübersetzungen vor allem seine – ebenfalls umfangreichen – Übersetzungen anderer Autoren aus verschiedenen Sprachen ins Dänische. Das Spektrum reicht von Catull, Properz, Ovid über Petrarca, ShakespeareShakespeare, William (u.a. Sommernachtstraum), GoetheGoethe, Johann Wolfgang von (u.a. Götz von Berlichingen, Reineke Fuchs, Hermann und Dorothea), SchillerSchiller, Friedrich von (diverse Gedichte) bis zu TieckTieck, Ludwig (zweibändige Ausgabe von dessen Werken in Auswahl) und dem schwedischen Dichter Bernhard von Beskow (die Tragödien Torkel Knutsson, Kung Birger och hans ätt).3 Zu erwähnen ist hier auch die 1816 erschienene zweibändige Märchenanthologie Eventyr af forskiellige Digtere, die Märchen und märchenhafte Legenden von Musäus, Fouqué, Grimm, Tieck, Uhland, KleistKleist, Heinrich von u.a. enthält, sowie die aus dem Altisländischen übersetzte Velents Saga.4 Ein von der zeitgenössischen Übersetzungstradition abweichendes Unternehmen stellt Oehlenschlägers Übersetzung von HolbergsHolberg, Ludvig Komödien ins Deutsche dar, die er 1822/23 zum hundertjährigen Jubiläum von Holbergs „Danske Skueplads“ herausgab. 1844 fügt er diesem Grossprojekt eine deutsche Bearbeitung von Johan Herman Wessels Tragikomödie Kjærlighed uden strømper von 1772 hinzu, eine Parodie der klassizistischen französischen Tragödie, die er dem deutschen Leser mitteilen will.5

Die Vermittlung zwischen Sprachen, Kulturen, Dichtungs- und Gattungstraditionen erscheint als zentrale, verbindende Funktion dieser äusserst vielfältigen, heterogenen Übersetzertätigkeit, die ausserdem noch, wie erwähnt, den Sonderfall der Selbstübersetzung6Baggesen, Jens umfasst: Oehlenschläger hat den weitaus grössten Teil seines Gesamtwerks selber ins Deutsche übertragen.7Schleiermacher, Friedrich Eine spezielle Form dieser Autotranslation bilden jene Werke, die er, wie z.B. Die Inseln im Südmeere, zuerst auf Deutsch verfasste und anschliessend in seine Muttersprache „übersetzte“.8 Der Roman lässt sich daher in seiner Zweisprachigkeit nicht ohne weiteres anhand der Kriterien gängiger Übersetzungstheorien erfassen, die mehrheitlich auf der Basis „normaler“ Übersetzungsprozesse entstanden sind, d.h. sich auf Texte beziehen, die von einer anderen Person als dem Autor übersetzt wurden. Eine Forschungsrichtung der neueren Übersetzungswissenschaft stellt allerdings die Unterscheidung zwischen Selbstübersetzern und Übersetzern in Frage, da letztlich beide ein vergleichbares Verfahren benützten; es besteht jedoch auch eine Gegenposition, die dafür plädiert, Selbstübersetzer von der Übersetzungsthematik losgelöst als Autoren zu betrachten, die ihr eigenes Werk umschreiben („rewriting“; vgl. Boyden/De Bleeker 2013: 180). Diese beiden Positionen bilden die Eckpunkte eines Feldes, in dem u.a. Fragen nach der Motivation, der Funktion sowie der Zeitversetztheit resp. Gleichzeitigkeit der Selbstübersetzung eines Autors untersucht werden.9

Bei Oehlenschläger ist die Sachlage insofern komplizierter, als er die Rollen des Übersetzers und Selbstübersetzers in einer Person vereint, und ausserdem beide Übersetzungsformen in seinem Roman anwendet, indem er ihn nicht nur in zwei Sprachen verfasste, sondern auch Texte, vor allem Gedichte, verschiedener Herkunft darin integrierte, die er je nach Sprache in eine der beiden Versionen oder in beide übersetzte. Man kann diese pluritranslatorischen Phänomene auch als potenzierte Polyphonie betrachten, indem verschiedenste Stimmen im Roman hörbar werden und der Autor selber gewissermassen mit zwei Stimmen spricht, wodurch er einen intensiven kulturellen Transfer nicht nur zwischen zwei Sprachen, sondern aus einer Vielzahl verschiedener Kulturen in die dänische und/oder die deutsche Sprache generiert.

Am besten geeignet zur Untersuchung dieser Textsituation erscheint mir der Ansatz der Descriptive Translation Studies, vor allem ihre prozessorientierte Blickrichtung und ihre Tendenz, „den Übersetzungsprozess als ein komplexes Ensemble von intertextuellen und interkulturellen Beziehungen innerhalb einer bestimmten historischen Situation aufzufassen“ (Apel/Kopetzki 2003: 60). Die Einstufung der Selbstübersetzung als „Fortschreibung eines Werks“ (Lamping 1992: 216), als offene, für gegenseitige Ergänzungen und Veränderungen der Sprachen durchlässige Struktur könnte Hinweise für eine adäquate Beschreibung der Dynamik von Oehlenschlägers Roman im intertextuellen Beziehungsgeflecht zwischen verschiedenen Sprachen, Literaturen, Schauplätzen, etc. liefern. Stellenweise sollen aber auch andere, mehr sprachwissenschaftlich ausgerichtete Konzepte der Übersetzungsforschung beigezogen werden.

1.2.3 Psychoanalyse und Literaturwissenschaft

Die oben beschriebenen Methoden der Intertextualität und der Übersetzungswissenschaft, die das Hauptinstrumentarium meiner Analysen von Oehlenschlägers Roman bilden, werden punktuell durch Elemente der psychoanalytischen Literaturwissenschaft ergänzt. Diese Theorie umfasst ein weites Spektrum an Untersuchungsgebieten: Einerseits entwickelt sie Erklärungen für den Ursprung dichterischer Kreativität und versucht dadurch die Frage nach der Entstehung von Dichtung überhaupt zu beantworten, andrerseits widmet sie sich der Untersuchung rezeptionstheoretischer, leserorientierter Prozesse ebenso wie der Interpretation autor-, werk- und figurenbezogener Aspekte. Für meine Arbeit stütze ich mich vorwiegend auf die letztgenannte Richtung, da sie sich für die Analyse bestimmter Figuren, genauer gesagt, ihrer Handlungen, Konstellationen und Beziehungen anzubieten scheint. FreudFreud, Sigmund selbst fand wichtige Erkenntnisse seiner Theorien in der Anwendung auf literarische Figuren bestätigt oder liess sich in vielen Fällen durch Literaturanalysen zur Schaffung bestimmter, auch zentraler Konzepte inspirieren. Gerade ein so fundamentales Modell wie der Ödipuskomplex beruht ja auf literarisch vermittelter Überlieferung des Mythos – ein Tatbestand, der im Übrigen die psychoanalytische Literaturwissenschaft mit Intertextualitätskonzepten verbindet. Freud demonstriert mittels verschiedener Literaturinterpretationen die Übereinstimmung seiner Theorien, wie er sie hauptsächlich in der Traumdeutung darstellte, mit Werken der Dichtkunst. Die Analogien zwischen seinen psychoanalytischen Erkenntnissen, vor allem in Bezug auf die Existenz und Funktion unbewusster Triebkräfte, wie Mechanismen der Verdrängung, der Verschiebung und Verdichtung, und den fiktionalen Darstellungen des seelisch bedingten Agierens literarischer Figuren überzeugten ihn von einer Ursprungsverwandtschaft zwischen Psychoanalyse und Literatur: „Wir schöpfen wahrscheinlich aus der gleichen Quelle, bearbeiten das nämliche Objekt, ein jeder von uns mit einer anderen Methode, und die Übereinstimmung im Ergebnis scheint dafür zu bürgen, dass beide richtig gearbeitet haben“ (Freud 1995: 122). Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass „[d]ie psychologische Korrektheit etwa der vielen fiktionalen Träume oder vielsagenden Fehlleistungen in der Dichtung […] offenbar auf der grundsätzlichen Übereinstimmung der Mechanismen des Primärprozesses im literarischen Schaffen mit denen im psychischen Funktionieren überhaupt“ beruhe (Schönau 1991: 103). Diese Aussage verbindet die Vorgänge des Entstehungsprozesses von Dichtung aus psychoanalytischer Sicht mit dem hervorgebrachten Produkt, zu dem – je nach literarischer Gattung – ein Kreis handelnder Figuren gehört. Die Analyse dieser Figuren mittels psychoanalytischer Theorien wird oft als unzulässig kritisiert, da fiktive Personen keine Psyche hätten. Es liegt auf der Hand, dass sich die literarische Figurenanalyse von jener realer Personen in wesentlichen Punkten unterscheiden muss und bestimmten Begrenzungen unterworfen ist. Dennoch halte ich den Beitrag, den die psychoanalytische Literaturtheorie für das Verständnis psychischer Prozesse fiktiver Figuren leistet, für relevant, da durch ihr Instrumentarium verdeckte Subtexte ins Bewusstsein der Leser gerückt werden können, die anders kaum wahrgenommen würden, und die der Figurenzeichnung neue Facetten und Aspekte hinzufügen, wodurch natürlich auch der Gesamttext in anderem Licht erscheinen kann.

1.2.4 Gender Studies

Angesichts der bemerkenswerten Anzahl neu auftretender Frauenfiguren in Oehlenschlägers Roman – bei einem insgesamt wesentlich kleineren Figurenarsenal als im Prätext – stellt sich die Frage, ob Weiblichkeit in den IS einen anderen Stellenwert habe als in Schnabels WF. In diesem Zusammenhang soll daran erinnert werden, dass neuere theoretische Konzepte wie die Gender Studies auf die Komplexität und Vielschichtigkeit der vermeintlich unproblematischen Begriffe „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ aufmerksam gemacht haben. Die Differenzierung zwischen biologischer und soziokulturell konstruierter Geschlechtsidentität führt, bezogen auf die Literaturwissenschaft, zu einer Reihe von Fragestellungen, die sich mit der Darstellung bzw. Inszenierung von Männer- und Frauenfiguren im Spannungsfeld der Konstruktion von Sex und Gender auseinandersetzen.1

Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Repräsentation von Weiblichkeit und Männlichkeit in ihrer Historizität zu untersuchen ist, da „der konstruktivistische Blick insgesamt eine historische Perspektive geradezu einfordert“ (Frevert 1995: 14).

Die Fülle von Reflexionen über die Zuschreibungen männlicher und weiblicher Wesensart, die besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schon fast überwältigende Dimensionen annahm, zeigt vor allem Versuche, aus bestimmten Interpretationen physiologischer Geschlechterdifferenz psychische und charakterliche Merkmale des Weiblichen zu konstruieren und festzuschreiben. Die so entstandene „Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘“ (Hausen 1976)2 wurzelte in politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnissen, die durch die geschlechtsspezifischen Deutungen anatomischer Befunde nun auch naturwissenschaftlich untermauert wurden; gleichzeitig schuf diese Polarisierung ihrerseits neue, von einer rigorosen Geschlechtertrennung bestimmte Verhältnisse. Die Etablierung der Geschlechterdichotomie stand im Dienst der Erhaltung der bestehenden patriarchalischen Machtverhältnisse, deren Fundament durch das Streben nach „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ aller Menschen erschüttert zu werden drohte. Dies war der eigentliche Grund, weshalb die „Naturgegebenheit“ der weiblichen Andersartigkeit und, darauf basierend, auch die Notwendigkeit einer bestimmten geschlechtsspezifischen Rollen- und Aufgabenzuweisung bewiesen werden musste, was unter grossem Aufwand theoretischer Schriften aus allen Bereichen der Wissenschaften auch geschah. Wie Claudia Honegger aufgrund eingehender Quellenstudien darlegt, setzte um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Schaffung einer eigentlichen „weiblichen Sonderanthropologie“ ein, mit der physiologisch nachgewiesen werden sollte, dass die geringere physische Stärke der Frau eine grössere nervliche Sensibilität zur Folge hatte, woraus die Notwendigkeit bzw. Berechtigung abgeleitet wurde, der Frau spezifisch „weibliche“ Tätigkeitsbereiche zuzuweisen (Honegger 1996). Der Autorin zufolge lautet die Quintessenz verschiedener moral-physiologischer Schriften aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: „Die Frau ist ein Wesen für sich, mit einer eigenen Körperlichkeit, eigenen Krankheiten, eigenen Sitten, eigener Moral und eigenen kognitiven Fähigkeiten“ (Honegger 1996: 166).3

Diese historischen Gegebenheiten der Situation von Sex und Gender sollen einbezogen werden, wenn nach dem Stellenwert der vermehrten Neuschaffung von Frauenfiguren in den IS gefragt wird; dabei ist allerdings zu bedenken, dass literarische Figuren nicht zwingend Befunde wissenstheoretischer Schriften widerspiegeln müssen. Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang etwa nach Bildern oder Konzepten, welche die binäre Opposition männlich – weiblich allenfalls durchkreuzen, die Geschlechtergrenzen verschieben, die „Ordnung der Geschlechter“ destabilisieren. Eine für die vorliegende Arbeit ebenfalls relevante Frage ist, ob sich Oehlenschlägers Roman auch im Hinblick auf männliche und weibliche Stimmen als polyphon erweist: Wird den Frauenfiguren eine genuin eigene Stimme zugestanden, oder dominiert männliche Monophonie?4 Für die Behandlung dieser und ähnlicher Fragen liesse sich auch psychoanalytisches Gedankengut einbeziehen, u.a. wenn es darum geht, die für die Konstruktion der Geschlechtsidentität verantwortlichen Mechanismen und Strategien offenzulegen.

5 209,28 ₽
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0+
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597 стр. 13 иллюстраций
ISBN:
9783772001727
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