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2. Lucky


Wie viel Zeit stand ihnen zur Verfügung? … Bevor der Sand durchgerieselt ist. Das schien nicht besonders viel zu sein.

Während sie voranschritten, zog Tarja die Sanduhr aus der Jackentasche, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Eingefasst war sie in elfenbeinfarbenes Holz. Der Sand schillerte in den Farben des Regenbogens und kennzeichnete den Gegenstand als der Brücke und ihrem Wächter zugehörig. Träge, als liefe die Zeit innerhalb des gläsernen Gehäuses langsamer ab, fielen einzelne Körnchen, fein wie Staub, durch die Engstelle in der Mitte. Tarja stellte die Uhr auf den Kopf. Zu ihrem Erstaunen änderte sich an der Fallrichtung des Sandes nichts, er missachtete einfach das Gesetz der Schwerkraft und schwebte aufwärts. »Wow«, entfuhr es ihr.

Milo, der mit missmutigem Gesichtsausdruck nebenherstapfte, schnaubte nur. »Verrätst du mir endlich, was dieses Späterland ist und was genau wir hier machen?«

In groben Zügen berichtete Tarja ihm von Pluto und ihren Träumen.

»Ist doch Blödsinn«, sagte Milo und rupfte eine Mohnblüte ab. Er zerdrückte sie und ließ die Reste durch die Finger rieseln. »Wenn wir wieder zu Hause sind, erzähl’ ich allen, was für ein Freak du bist!«

»Mach das«, sagte Tarja, »falls du dann immer noch denkst, dass alles Blödsinn ist.« Sie hatte keine Lust, sich weiter mit Milo herumzuärgern. Er war ein Dummkopf und ein Tierquäler. Sie hatte ihn noch nie leiden können. Außerdem war er ein Mitläufer, der sprang, sobald Pascal pfiff.


Beim Näherkommen entpuppte sich der Baum tatsächlich als die Eiche aus ihrem Traum. Wie dort verwehrte dichtes Dornengestrüpp von mehreren Metern Breite den Zugang zum Stamm. Tarja ging einmal herum, ob es nicht doch einen Weg hinein gab. Fast hätte sie den Tunnel übersehen, der dicht am Boden unter den Ranken hindurchführte. Sie ließ sich auf die Knie nieder und spähte hinein. Durch die Zweige erkannte sie die rissige Borke der alten Eiche. Leider war der Durchlass zu schmal für sie, gerade groß genug, damit eine Katze hindurchlaufen konnte. Sie versuchte es dennoch. Bäuchlings schob sie sich ungefähr einen Meter vorwärts, dann machte der Gang eine Biegung und sie kam nicht weiter. Die Dornen hakten sich in ihrer Jacke fest, und sie hatte Schrammen an den Händen.

»Mist«, fluchte sie leise. Gleich darauf hielt sie den Atem an. Weiter vorn hatte sie eine Bewegung ausgemacht. »Pluto?«, rief sie hoffnungsvoll.

»Er ist nicht hier«, sagte eine Stimme.

Etwas an dem Tonfall klang eigenartig. Die Worte schienen weder von einem Mann noch von einer Frau zu stammen, doch nach einem Kind hörten sie sich ebenfalls nicht an.

»Wer ist da?«, fragte Tarja.

»Lucky.«

Der Sprecher oder die Sprecherin musste sich auf etwa gleicher Höhe wie sie selbst befinden. Tarja entdeckte schwarz-weißes Fell mit rotbraunen Flecken dazwischen. Eine Katze. Eine von denen, die sie im Traum bei Pluto gesehen hatte? Zumindest kannte sie seinen Namen. Und – was noch erstaunlicher war – das Tier konnte sprechen!

»Hallo Lucky«, begann sie. »Ich bin Tarja. Pluto hat mir und meinen Eltern gehört. Kannst du mir sagen, wo ich ihn finde?«

»In Späterland gehört niemand irgendjemandem«, belehrte Lucky sie. Es klang misstrauisch. »Auch keinen Zweibeinern. Die gehören im Übrigen nicht nach Späterland. Also, warum bist du hier? Schickt dich Hasso der Weise? Es heißt, er stünde den Menschen nah.«

»Ich habe keine Ahnung, wer das ist«, erwiderte Tarja wahrheitsgemäß. »Ich habe von Pluto geträumt, nachdem er … du weißt schon …«

»Nachdem er die Regenbogenbrücke überquert hat«, half Lucky aus.

»Ja. Genau hier habe ich ihn gesehen. Ihn und eine Menge anderer Katzen, auch dich. Dann seid ihr von einem Rudel wilder Hunde umzingelt worden. Sie haben Pluto mitgenommen. Ich mache mir große Sorgen um ihn, deshalb bin ich hier. P’tai, der Wächter der Brücke, hat mir und Milo erlaubt, nach Pluto zu suchen. Hilfst du uns?«

»Dafür wäre es zunächst vonnöten, mir nicht weiter den Weg zu versperren«, kam es zurück.

Tarja riss ihre Jacke los, kroch rückwärts hinaus und verbiss sich den Schmerz, den die Dornen verursachten. Draußen musterte Milo sie neugierig.

»Mit wem hast du gesprochen?«, fragte er.

Tarja richtete sich auf und klopfte den Schmutz von der Kleidung. »Mit jemandem, der Pluto kennt und uns vielleicht helfen kann.«

»Dir helfen, meinst du wohl.« Milo verzog den Mund. »Ich will bloß nach Hause.« Dann lachte er. »Sag bloß, das ist dein großartiger Helfer!«

Lucky kam aus dem Tunnel herausgelaufen, ohne sich allzu weit davon zu entfernen. Aufrecht sitzend schaute die Katze aus wachsamen grünen Augen von einem zum anderen. Tarja fiel auf, dass sie Bonnie ziemlich ähnlich sah.

»Der männliche Zweibeiner gehört zu deiner Sippe, nehme ich an«, mutmaßte Lucky.

»Nein, aber das spielt keine Rolle.« Tarja erschien es unhöflich, das Gespräch von oben herab zu führen. Also setzte sie sich mit überkreuzten Beinen ins Gras und legte die Hände auf dem Schoß zusammen, um Lucky zu zeigen, dass von ihr keine Bedrohung ausging. »Setz dich bitte auch«, forderte sie Milo auf.

Sie hatte nicht erwartet, dass er tun würde, was sie sagte, doch er ließ sich ebenfalls nieder, wenn auch mit spöttischem Gesichtsausdruck. Tarja kam der Gedanke, sein cooles Gehabe diene bloß dazu, seine Unsicherheit zu überspielen. Als sie gleich darauf das Gespräch mit Lucky fortsetzte, hätte sie ihn jedoch schon wieder ohrfeigen können.

»Bist du völlig übergeschnappt? Als ob das Vieh versteht, was du sagst.« Ohne zu fragen, schnappte sich Milo den Rucksack, den Tarja abgesetzt hatte, bevor sie ins Gestrüpp gekrochen war. »Es ist heiß und ich habe Durst. Hast du was zu trinken dabei?«

Durch ihren Streit geängstigt verzog Lucky sich ein Stück in den Tunnel.

Wütend riss Tarja ihm den Rucksack aus der Hand und reichte Milo die Wasserflasche. »Hier. Lass aber noch was für mich drin.« Sie sah zu, wie er trank. »Verstehst du etwa nicht, was Lucky sagt?«

Milo maß sie mit einem Blick, als sei sie durchgedreht. »Das Biest hat doch nur ein paarmal miaut.«

»Er gehört nicht hierher«, mischte Lucky sich ein. »Er besitzt wahrscheinlich keine Verbindung zu Späterland. Deshalb versteht er die gemeinsame Sprache derer, die hier leben, nicht.«

»Aber ich spreche doch ganz normal«, wandte Tarja verwirrt ein. »Trotzdem unterhalten wir uns.«

»Er besitzt keine Verbindung«, beharrte Lucky. »Du schon.«

Tarja nickte. Die Erklärung war so simpel wie einleuchtend. »Also bist du ein Freund von Pluto?«

»Eine Freundin«, korrigierte Lucky leicht pikiert. »Pluto gehört zu meiner Wahl-Sippe.«

Tarja fragte Lucky, ob die anderen Katzen, die sie im Traum gesehen hatte, ebenfalls zu ihrer Wahl-Sippe gehörten.

»Nein«, antwortete Lucky. »Du sprichst vermutlich von der großen Versammlung, die wir vor einem halben Mond hier abgehalten haben. Der Baum ist unser Thing-Platz, musst du wissen. Die Vertreter zahlreicher Sippen kamen. Auch die anderer Arten waren geladen, doch die Fänger Hassos des Weisen haben die Zusammenkunft verhindert. Sie trieben uns auseinander und nahmen Pluto gefangen. Er hat nämlich den Aufstand gegen die Caniden ins Leben gerufen.«

»Davon weiß ich nichts.« Tarja schüttelte den Kopf. »Bitte erzähl mir alles. Die Caniden sind Hunde, richtig?«

Lucky bestätigte es.

»Und dieser Hasso der Weise ist ihr Anführer?«

»Was redet ihr da eigentlich?«, platzte Milo dazwischen.

»Es ist wichtig«, sagte Tarja. »Ich erzähle dir alles hinterher, versprochen. Warum erkundest du nicht ein bisschen die Gegend, ob uns von irgendwoher Gefahr droht?«

»Was soll hier schon gefährlich sein?«, brummte Milo, stand aber auf und schlenderte, die Hände in den Hosentaschen, davon. Pfeifend entfernte er sich.

Von Lucky erfuhr Tarja, dass sich Hasso der Weise vor einigen Monaten – oder Monden, wie sie sich ausdrückte – zum Fürsten der Caniden aufgeschwungen hatte. Zuvor besaßen die Hunde keinen festen Anführer, da sie wie alle Bewohner Späterlands frei über ihr Tun und Lassen entschieden. Doch die Herrschaft über seine Artgenossen reichte Hasso nicht, er beabsichtigte, sich ganz Späterland untertan zu machen.

»Wer sich den Befehlen Hassos widersetzt, auf den hetzt er seine Fänger. Gefangene werden in die Bergfestung der Caniden gebracht.« Traurig ließ Lucky den Kopf sinken. »Wer weiß, ob Pluto überhaupt noch am Leben ist. Hasso ist nicht zimperlich, wenn es darum geht, Todesurteile zu verhängen.«

Tarja überlief es kalt. »Aber kann man denn in Späterland sterben?« Das hatte sie sich damals ganz bestimmt nicht ausgedacht! Hoffentlich hielt das echte Späterland nicht noch mehr unliebsame Überraschungen bereit.

Lucky fletschte die Zähne. »Nur wenn man den Fehler begeht, über den Rand der Nebelschlucht zu stürzen. Von dort gibt es kein Zurück.«

Mit Schaudern dachte Tarja an den unermesslichen Abgrund zu ihren Füßen, nachdem die Regenbogenbrücke sich aufgelöst hatte.

»Nein«, widersprach sie dann. »Pluto lebt. Ich würde es spüren, wäre er noch einmal gestorben. Er hat mich um Hilfe gerufen und ich werde ihn retten!«

»Gut«, sagte Lucky. »Ich bringe dich zum Gebiet der Caniden. Aber von dort an bist du auf dich allein gestellt. Abgesehen von dem da.« Sie wandte den Kopf in die Richtung, aus der sich Milo, von seinem Streifzug zurückkehrend, näherte. »Aber ich bezweifle, dass er dir eine große Hilfe sein wird.«


3. Hunger und Durst


Die Sonne war bereits quer über den Horizont gewandert, als sich in der Ferne eine breite, dunkle Linie abzeichnete.

»Der Flüsterwald«, sagte Lucky, die neben Tarja herlief. »Er heißt so, weil in seinen Zweigen und Blättern die meisten Erinnerungen der Bewohner Späterlands an ihr früheres Leben eingewoben sind. Wenn es Abend wird, erzählen die Bäume einander Geschichten. Nicht alle davon sind schön.« Lucky hielt inne und leckte sich nervös die Pfote. »Es ist unheimlich dort. Ich schlage vor, wir durchqueren den Wald bei Sonnenaufgang. Von der anderen Seite aus ist es nicht mehr weit bis zum Canidengebiet.«

»Machen wir jetzt endlich mal ’ne Pause? Ich kann nicht mehr.« Milo wollte sich ins Gras plumpsen lassen, doch Tarja schüttelte den Kopf.

»Wir sollten versuchen den Waldrand noch vor Einbruch der Dämmerung zu erreichen. Hier draußen sitzen wir auf dem Präsentierteller, falls eine von Hassos Patrouillen vorbeikommt.«

Unterwegs berichtete sie Milo alles, was Lucky über den Canidenfürsten erzählt hatte, der Pluto gefangen hielt.

»Pah, ich kann gut mit Hunden«, sagte er. »Wir haben einen Labrador, dem habe ich ganz allein das Apportieren beigebracht. Sitz und Platz ebenfalls.«

Tarja bezweifelte, dass Hassos Fänger auf menschliche Kommandos hörten. Trotzdem war sie unter diesen Umständen zum ersten Mal beinahe froh, Milo dabeizuhaben.

Ausgerechnet Hunde! Seit sie als Sechsjährige von dem Pudel einer Nachbarin gebissen worden war, hatte sie panische Angst vor den Tieren. Nicht gerade die besten Voraussetzungen, um Pluto aus den Fängen der Caniden zu befreien.

»Wo kriegen wir eigentlich was zu mampfen her?«, wollte Milo wissen. »Einen McDonald’s gibt es hier wohl nicht.«

Darüber hatte sich Tarja ebenfalls Gedanken gemacht und während ihrer Wanderung nach Beeren oder Obstbäumen Ausschau gehalten, jedoch nichts Essbares entdecken können. Auch ihre Wasserflasche war inzwischen leer. Die Banane hatte sie mit Milo geteilt und notfalls würde sie dasselbe mit dem Apfel tun, aber wie lange würde es dauern, bis ihnen die Mägen in den Kniekehlen hingen und die Zungen an den Gaumen klebten? Sie hatte Lucky um Rat gefragt, doch die Glückskatze wusste keinen, weil die Tiere Späterlands keine Nahrung zu sich nahmen. Nicht weiter erstaunlich, fand Tarja, denn andernfalls wäre ein friedliches Zusammenleben wohl ausgeschlossen. Milo und sie jedoch waren bloß Besucher und die Bedürfnisse ihrer Körper mit dem Überqueren der Regenbogenbrücke nicht erloschen.

»Vielleicht stoßen wir im Wald auf eine Quelle«, sagte Tarja. »Und irgendwelche essbaren Pflanzen muss es hier geben, wir haben bloß nicht richtig gesucht.«

Milo schnitt eine Grimasse.

Als sie endlich die ersten Ausläufer des Flüsterwalds erreichten, fühlten sich Tarja und Milo so erschöpft, wie man es nach einer ganztägigen Wanderung vermuten konnte. Die Sonne stand dicht über den Baumwipfeln und die Hitze ließ allmählich nach. Für das Nachtlager wählten sie einen Platz unter dem ausladenden Blätterdach einer Buche. Weiches Moos bedeckte den Boden und die umstehenden Sträucher schirmten sie vor unfreundlichen Blicken ab. Zum Schutz vor Bodenfeuchtigkeit breitete Tarja die orange-rot karierte Picknickdecke aus, die sie zuunterst in den Rucksack gestopft hatte, dann faltete sie ihre Jacke zum Kopfkissen und streckte sich genüsslich aus. Lucky rollte sich dicht an ihrer Seite zusammen, um ein Nickerchen zu halten. Tarja freute sich darüber, dass die Katze ihre Nähe suchte. In der kurzen Zeit hatte sie sie schon ins Herz geschlossen, obwohl es ihr immer noch seltsam vorkam, mit ihr zu sprechen wie mit einem Menschen. Das Wichtigste aber war, dass Lucky Pluto kannte und ihn mochte. Die gemeinsame Sympathie verband Tarja mit dem Tier und sie vermutete, Lucky ging es ähnlich.


4. Im Wald der Flüsterstimmen


»Wollen wir nicht endlich etwas Essbares suchen?« Milo hatte seine Frage als Aufforderung gemeint, damit Tarja es sich nicht allzu bequem machte. Statt ironisch zu klingen, kamen die Worte aber matt und nörgelig heraus, und Milo ärgerte sich darüber. Mindestens genauso sehr ärgerte ihn, dass Tarja keinen Schimmer hatte, wie man in dieser Einöde überlebte. Anders als er war sie nicht gänzlich unvorbereitet in das merkwürdige Abenteuer hineingezogen worden. Dass er auch noch Hunger und Durst leiden musste, fand Milo ganz und gar nicht in Ordnung.

Wäre er Tarja bloß nicht in die Höhle hinter dem Wasserfall gefolgt! Aber wie hätte er das hier ahnen können? Dumm gelaufen eben. Das Vernünftigste wäre wohl, Tarja bei der Suche nach ihrem Kater zu unterstützen, damit sie bald von hier verschwinden und in die richtige Welt zurückkehren konnten. Leicht fiel ihm der Entschluss nicht. Tarja war nicht gerade der Typ Mädchen, für den Milo bereit gewesen wäre, Strapazen oder gar Gefahren auf sich zu nehmen. Ihr Tierschutzfimmel und ihre Besserwisserei nervten gewaltig, auch wenn sie ein ganz süßes Lächeln hatte, das allerdings nie ihm galt, sondern stets Lucky.

»Also, was ist jetzt, suchen wir was zu futtern?«, fragte er und versuchte so erneut, sie zum Aufstehen zu bewegen.

»Mhm«, machte Tarja. »Gleich. Nimm dir den Apfel aus dem Rucksack.«

Als ob ihnen mit einem schrumpeligen Apfel geholfen wäre! Milo schaute wütend auf Tarja hinunter, doch sie hielt die Augen geschlossen. Na gut, dann hing eben alles von ihm ab. Er würde schon etwas zu essen auftreiben! Und wenn er sich einen Speer schnitzte und auf die Jagd ging. Vorhin hatte er ein paar Kaninchen gesehen und wenn ihm seine Augen keinen Streich gespielt hatten, war ein Schwarm Tauben über sie hinweggestrichen. Keine Ahnung, ob Tarja sich auch mit denen unterhalten konnte … Für ihn waren es gewöhnliche Tiere und wenn es hart auf hart kam: Nahrung.

Milos Finger glitten in die Tasche seiner Jeans und schlossen sich um das Schweizer Armeemesser. Er hatte noch nie ein Tier getötet – von den Käfern, Würmern und Schnecken im Schulgarten mal abgesehen, die unvorsichtig genug waren, ihm, Pascal und den anderen vor die Füße zu kommen. Sie zu zerquetschen fand er ziemlich eklig und eigentlich auch nicht richtig – aber hey, die Mädchen, besonders solche Zicken wie Tarja, konnte man prima damit ärgern. Ob er im Notfall dazu bereit war, etwas Größeres zu töten?

Auf der Suche nach einem geeigneten Zweig für seine Waffe drang Milo tiefer in den Wald vor. An jedem dritten Baum schnitzte er eine pfeilförmige Kerbe in die Rinde, um wieder zurückzufinden. Er war noch nicht weit gegangen, als er das Plätschern von Wasser hörte. Sofort spürte Milo, wie durstig er war. Dem Geräusch folgend kam er zu einem Bächlein, das zwischen bunten Kieseln murmelte. Milo ließ sich am Ufer auf die Knie fallen und beäugte das Wasser. Es sah klar aus, wie bei einem Gebirgsbach, aber man konnte nicht wissen, ob es mit Keimen verunreinigt war.

Milo schüttelte seine Bedenken ab. Was gab es in dieser seltsamen Welt, das irgendwelche Verunreinigungen im Wasser verursachen konnte? Nichts, genau! Eine Wahl hatte er ohnehin nicht. Seine Hände tauchten ins kühle Nass und schöpften es zum Mund. Das Wasser schmeckte köstlich und Milo hörte erst auf zu trinken, als sein Durst restlos gelöscht war und sein Bauch von der vielen Flüssigkeit gluckerte. Dumm nur, dass er die leere Flasche nicht mitgenommen hatte. Das hätte Eindruck auf Tarja gemacht, wenn er mit frischem Wasser aufgekreuzt wäre! Aber die Stelle war nicht schwer zu finden, sie brauchten bloß seinen Markierungen folgen.

Erfrischt sprang Milo über den schmalen Bachlauf. Auf der anderen Seite schimmerte eine Lichtung zwischen den Stämmen hindurch. Dort angekommen brach er einen langen, stabil wirkenden Zweig aus einem Haselnussdickicht – leider wuchsen keine Nüsse daran –, setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm und begann eine Spitze zurechtzuschnitzen. Binnen Kurzem musste er seine Augen anstrengen, um arbeiten zu können. Die rötlichen Strahlen der untergehenden Sonne lugten zwischen den moosbedeckten Stämmen hindurch. Höchste Zeit, zum Lagerplatz zurückzukehren! Milo klappte das Messer zusammen und umschloss den ansehnlichen Speer mit der Faust.

Den Weg zum Bach fand er problemlos. Doch das Tageslicht schwand schnell und jenseits des Flüsschens verdüsterte sich der Wald noch mehr. Nur mit Mühe konnte Milo die Markierungen erkennen. So weit hatte er sich doch gar nicht vom Waldrand entfernt … Dennoch schien ihm, als rückten die Stämme der Laub- und Nadelbäume dichter zusammen, als wollten sie ihn einschließen und davon abhalten, sein Ziel zu erreichen. Allmählich wurde ihm unheimlich zumute. Wenn er sich hier verirrte, würde er womöglich nie wieder hinausfinden. Wieso hatte er den Ast nicht einfach mitgenommen, statt auf der einsamen Lichtung mit Schnitzen die Zeit zu vertrödeln?

Wind kam auf und fuhr durch die Blätter. Ihr Rascheln klang beinahe wie Stimmen, die einander zuraunten. Flüsterwald, so hatte Tarja den Wald genannt, nach dem, was die Katze ihr angeblich erzählt hatte. Obwohl sich Tarjas Äußerungen und das anschließende Maunzen des Tieres manchmal tatsächlich wie ein Gespräch anhörten, glaubte Milo nicht recht daran.

Flüsterwald! Milo blieb stehen und verhielt sich ganz still. Eine Gänsehaut überlief ihn. Es stimmte! Laute drangen aus dem Dickicht der Bäume, tierische Laute. Mindestens zehn verschiedene Tierarten konnte er heraushören, und das waren bestimmt nicht alle. Mittlerweile war es stockfinster. Milo wandte den Kopf hierhin und dorthin, versuchte den Ursprung der Geräusche auszumachen, doch er sah nichts. Verbargen sich die Tiere im Unterholz? Nein, die Laute schienen mehr von oben zu kommen, aus dem Geäst der Bäume. Milo zuckte zusammen, als sehr deutlich das Bellen eines Hundes erklang, fast als säße das Tier über seinem Kopf. Er blickte auf, konnte aber nichts entdecken. Oder war da eine Bewegung im dunklen Blätterdach? Aber wie kam ein Hund den Stamm hinauf? Milos Herz klopfte wild. Ganz nah erklang das Kreischen eines Vogels, drang ihm durch Mark und Bein.

Milo begann zu laufen. Seine Linke krampfte sich um den Speer, während er mit den Fingerspitzen der Rechten über die Stämme tastete, um vielleicht durch Zufall die eingeritzten Pfeile zu entdecken. Aber die Rinden fühlten sich immer gleich an. Kalt und rissig.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als um Hilfe zu rufen. Milo formte seine Hände zum Schalltrichter und schrie Tarjas Namen. Dabei drehte er sich um die eigene Achse, um seine Stimme in jeden Winkel dieses verfluchten Waldes zu befördern. Doch anstelle der erhofften Antwort prasselte von allen Seiten ein Echo aus Tierstimmen auf ihn ein. Kein Flüstern, sondern eine ohrenbetäubende Mischung aus Bellen, Krächzen, Pfeifen, Grunzen, Fauchen, Wiehern und einer Reihe anderer Laute, die Milo in seiner Panik nicht zuordnen konnte. Der Speer entglitt seinen Fingern und er tat etwas, dessen er sich in der wirklichen Welt geschämt hätte: Er hielt sich vor lauter Angst die Ohren zu. Blindlings tappte er ein paar Schritte in die eine, dann in die andere Richtung. Zwecklos. Von allen Seiten drängte der nachtdunkle Wald an ihn heran. Er hatte keine Ahnung, wohin er sich wenden sollte, schlimmstenfalls würde es ihn immer tiefer hineinführen. Wo blieb Tarja? Ihr musste doch aufgefallen sein, dass er immer noch nicht zurück war! Schlief sie womöglich? In seiner Verzweiflung hockte Milo sich unter einen großen Baum, barg den Kopf zwischen den Armen und machte sich ganz klein. So würde er notfalls bis zum Morgen ausharren.

Ungewisse Zeit saß er dort. Einmal zog er sein Smartphone aus der Innentasche seiner Jacke, doch das Display zeigte sich unverändert dunkel, seit er in diese Welt geraten war.

Nachdem er die Hilferufe aufgegeben hatte, war der mysteriöse Geräuschpegel auf ein mehr oder weniger erträgliches Maß zurückgegangen, ohne ganz zu verstummen. Nun aber drangen andere Laute an sein Ohr. Nicht weit entfernt knackte ein Zweig, gleich darauf noch einer. Milo spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Kein Zweifel, jemand schlich durchs Unterholz. Ein Mensch, ein Tier – oder etwas so Fremdartiges wie der Brückenwächter? An den Stamm gedrückt versuchte Milo sich unsichtbar zu machen, indem er seine Jacke bis unter die Nase und die Kapuze tief ins Gesicht zog.

Die Schritte näherten sich. Ein leises Maunzen erklang vom Boden. Dann eine menschliche Stimme.

»Milo?«

Tarja! Selbst ihr gedämpfter Ruf wurde sofort von dem unsichtbaren tierischen Chor beantwortet.

»Ich bin hier«, flüsterte Milo und beeilte sich aufzustehen.

Das helle Oval von Tarjas Gesicht schimmerte in der Dunkelheit.

»Ein Glück, dass Lucky dich gefunden hat«, raunte sie.

Milo sah die matt leuchtenden Augen der Katze, die zu ihren Füßen hockte.

»Wieso bist du in den Wald gelaufen?«

Die anschwellenden Stimmen um sie herum ließen Tarja verstummen. Sie bedeutete ihm, ihr zu folgen, und lief hinter Lucky her, die die Führung übernommen hatte.

Keine fünfzig Schritte weiter erreichten sie den Waldrand.

Milo hatte keine Lust, von seinem Ausflug zu berichten, nicht solange der Wald hinter ihm weiter flüsterte und raunte. Todmüde legte er sich neben Tarja auf die Decke, wobei er bezweifelte, in unmittelbarer Nähe der gespenstischen Stimmen schlafen zu können. Im nächsten Moment schon war er eingeschlummert.


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