Читать книгу: «Späterland», страница 2

Шрифт:

5. Katzen und Hunde


Sommerwind fächerte ihr braunes Haar. Er strich über die Halme der Wiese und verwandelte sie in ein grün wogendes Meer mit bunten Blüten-Fischen darin. Eine knorrige Eiche ragte daraus hervor, umwuchert von einem Dickicht aus Sträuchern. Tarja lief darauf zu. Im und um den Baum bewegte sich etwas. Schemen huschten zwischen den Ästen, geschmeidig, wie es nur eine Tierart vermag. Schon hörte Tarja die dazugehörigen Laute, das mal durchdringende, mal leise Miauen, hin und wieder ein Fauchen. Eine dreifarbig gescheckte Glückskatze kauerte vor dem Dickicht und musterte Tarja. Dann sprang sie auf, rannte zu Tarja und strich ihr um die Beine, dabei maunzte sie auffordernd. Gleich darauf verschwand sie zwischen den Büschen, um kurze Zeit später auf einem der unteren Äste der Eiche aufzutauchen.

Tarjas Herz machte einen Sprung – neben der Glückskatze saß ein weiteres Tier, drahtig, hochbeinig und nachtschwarz. Pluto! Sie rief seinen Namen. Der Kater blinzelte ihr zu, rührte sich aber nicht. Fieberhaft versuchte Tarja zu ihm zu gelangen, doch das dornige Gestrüpp wies keine Lücke auf.

Sie zuckte zusammen, als sie fernes Gebell hörte, unter das sich wolfsähnliches Heulen mischte. Es klang nach einem ganzen Rudel! Eine Gänsehaut überlief Tarja. Im Unterholz raschelte es. Blitzschnell erklommen ein Dutzend Katzen die Eiche. Auch Pluto und die Glückskatze kletterten höher hinauf, um sich im dichten Laubwerk zu verbergen.

Die Hunde kamen in Sichtweite. Zehn große, kräftige Tiere, vielleicht auch mehr.

Tarja sah gefletschte Zähne, gesträubtes Fell. Das wütende Knurren trieb sie zwischen die Dornen, die sie festhielten. Hinter ihr ertönte Hecheln, ganz nah.

Sie schrie …

Tarja schreckte hoch. Ihr Pyjama klebte nass geschwitzt am Körper. Sie schüttelte den Albtraum ab und bemühte sich nur diejenigen Traumfetzen festzuhalten, die Pluto gezeigt hatten. Ihr war klar, dass man im Schlaf Dinge verarbeitete, die einen im wachen Leben beschäftigten. Bestimmt entsprang ihr Traum dem Wunsch, Pluto würde irgendwo weiterleben.

Nicht irgendwo, durchzuckte es sie, in Späterland. Dass sie daran nicht früher gedacht hatte!

Als sie klein war, noch bevor sie in die Schule kam, hatte sie Späterland erfunden, den Tierhimmel. Tarja wusste noch genau, warum: Das Meerschweinchen von Hedda, ihrer Kindergartenfreundin, war gestorben und sie waren sich einig gewesen, es müsse nun in den Himmel kommen. Damals hatte Oma Petra noch gelebt und Tarja war oft bei ihr gewesen. Als sie ihr von dem Meerschweinchen erzählte, hatte die Großmutter ihr sehr ernst erklärt, der Himmel sei den Menschen vorbehalten, weil Tiere keine unsterbliche Seele besäßen.

Tarja hatte das mit der Seele nicht ganz verstanden, vor allem nicht, warum Menschen eine haben sollten und Heddas Meerschweinchen nicht. Es schien ihr höchst ungerecht. Deshalb hatte sie sich Späterland ausgedacht, in das die Tiere nach ihrem Tod gelangten – über die Regenbogenbrücke. Dort war es schön, es herrschte immer Sommer und all die gestorbenen Haustiere lebten glücklich und in Frieden.

Im Laufe der Zeit hatten sie und Hedda sich Späterland immer detaillierter ausgemalt. Sie erschufen Landschaften sowie Fantasiewelten, die über Brücken mit Späterland verbunden waren. Auch vom Himmel der Menschen aus war Späterland zu erreichen, damit die Verstorbenen ihre Haustiere besuchen konnten und umgekehrt. Wie es sich für ein Zauberreich gehörte, besaß der Tierhimmel noch einen anderen, geheimen Namen. Dieser hatte die Macht, einen an jeden beliebigen Ort zu befördern, wenn man ihn aussprach. Aber wie lautete er? Tarja erinnerte sich nur daran, dass er irgendwie exotisch geklungen hatte. Hedda und sie hatten sich geschworen, ihn nie jemand anderem zu verraten. Schade, dass ihre Freundin schon wenig später fortgezogen und der Kontakt abgebrochen war, sonst hätte sie sie fragen können.

Tarja kuschelte sich im Bett zurecht und versuchte wieder einzuschlafen. Der Gedanke, Pluto würde in Späterland weiterleben und dort auf sie warten, gefiel ihr, auch wenn sie wusste, dass aus einer erfundenen Geschichte niemals Realität werden konnte. Höchstens im Traum.

Nur die wilden Hunde bereiteten ihr Kopfzerbrechen.


6. Bau endlich diesen Altar ab!


Seit einer geschlagenen Viertelstunde jagte die neue Katze einer Fellmaus hinterher. Einer neuen, denn Plutos Mäuse hielt Tarja unter Verschluss.

Clemens Wilbert schnappte sich das Spielzeug, um es erneut zu werfen. »Willst du nicht auch mal mit Bonnie spielen?«, forderte er Tarja auf, die auf dem Sofa saß und in der neuesten »Ein Herz für Tiere«-Zeitschrift blätterte.

Ihre Eltern hatten der Katze den Namen verpasst, weil Tarja sich hartnäckig weigerte, Interesse an dem Tier zu zeigen.

Tarja zuckte daher auch jetzt mit den Schultern und hob den Blick nicht von ihrer Lektüre.

»Wir wollten dir mit Bonnie eine Freude machen«, sagte ihr Vater leicht gekränkt. »Genau genommen war es meine Idee. Vielleicht nicht die beste, die ich hatte, denn die Kleine kann dir Pluto nicht ersetzen, ich weiß, aber gib ihr wenigstens eine Chance.«

»Mal sehen …«, sagte Tarja. »Pluto war geschickter mit der Maus.«

Niedlich war die junge Glückskatze schon. Linda war hellauf begeistert gewesen, als sie neulich zu Besuch kam. Aber sich mit ihr zu beschäftigen – sie gern zu haben –, fühlte sich wie Verrat an Pluto an.

Tarja sah sich um. Bonnie war weg. Wohin war sie auf einmal verschwunden?

In Tarjas Zimmer polterte es. Sofort eilte sie hinüber und überraschte Bonnie, wie sie auf dem Nachttisch saß und die frische Rosenblüte zerpflückte, die Tarja erst vorhin neben Plutos Porträt gelegt hatte. Das Bild lag jetzt auf dem Boden. Immerhin war der Rahmen heil geblieben.

»Verschwinde!« Tarja scheuchte die Katze hinaus und schloss die Tür, um vor weiteren Attacken geschützt zu sein. Dann gähnte sie herzhaft. Letzte Nacht hatte sie wieder schlecht geschlafen. Seit einer Woche ging das jetzt so, seit sie das erste Mal von Pluto geträumt hatte. Immer fand sie sich auf der Wiese in Späterland wieder, in der Nähe des Katzenbaums. Dann tauchte die Hundemeute auf, und Tarja schrak in heller Panik hoch. Zuletzt hatte sie festgestellt, dass die Hunde sich kein bisschen für sie interessierten. Sie waren einzig hinter den Katzen her. In dieser Hinsicht entsprach die Traumwelt überhaupt nicht dem Späterland der kleinen Tarja, wo sich alle Tiere miteinander vertrugen. Im letzten Traum waren ein paar der Hunde in das Bollwerk aus Sträuchern eingedrungen, und es entstand ein wütendes Streitgespräch zwischen den Tierarten. Das Knurren und Bellen der am Stamm hochspringenden Hunde wurde aus der Baumkrone mit Fauchen und kehligem Grollen beantwortet.

Urplötzlich mischte sich eine menschliche Stimme, die Tarja beim Namen rief, unter ihre Erinnerungen.

»Tarja? Warum antwortest du nicht?«

Mama. Tarja seufzte. Hatte man hier nie Ruhe?

Als Mama ins Zimmer kam, streifte ihr Blick den Nachttisch und sie zog die Brauen zusammen. »Wird es nicht langsam Zeit, dass du diesen Altar abbaust?«

»Wieso? Mir gefällt’s. Und Pluto würde es auch gefallen.«

»Papa und ich verstehen deine Trauer, aber wir befürchten, dass du dich zu sehr hineinsteigerst. Dieser Totenkult …« Sie deutete auf den Tisch. »Und dann das Glöckchen um deinen Hals. Ich kann das dauernde Geklingel nicht mehr hören, so leid es mir tut.«

Tut dir gar nicht leid, dachte Tarja. Wobei Mama recht hatte, was das Klingeln anging. Es ertönte bei jeder noch so kleinen Bewegung, manchmal sogar, wenn sie sich nicht bewegte.

»Jedenfalls denken wir, es wäre besser, du suchst ein besonders schönes Foto aus. Das vergrößern wir und hängen es auf. Den Rest packst du in die Schachtel zu den anderen Sachen und wir stellen sie auf den Dachboden. Damit der Tisch endlich wieder frei für deine Bücher ist.«

Tarja schüttelte den Kopf. »Ihr wollt doch bloß, dass ich Pluto vergesse.«

Mama presste die Lippen zusammen. Der Ärger war ihr anzumerken, obwohl ihre Stimme beherrscht klang. »Allmählich kann ich es nicht mehr hören. Tarja, wir machen uns Sorgen um dich! Du vergräbst dich in deinem Zimmer, du isst kaum, du sprichst nicht mit uns. Und wenn doch, geht es um den Kater. Du darfst dich ja an ihn erinnern, aber du musst endlich akzeptieren, dass er nicht mehr da ist.«

Tarja blätterte in ihrem Katzenbuch.

»Die Zeugnisse stehen an. Und die letzten beiden Arbeiten sind nicht gerade glänzend ausgefallen.«

»Was hat das damit zu tun?« Jetzt reichte es Tarja. »Als Alexejs Vater gestorben ist, hat er eine Weile nur Vieren und Fünfen geschrieben und alle hatten Verständnis.«

»Das kannst du doch nicht vergleichen«, schnappte Mama. »Sein Vater, Herrgott noch mal!«

Tarja fand, man könne das sehr wohl vergleichen, ein bisschen zumindest. Liebe war Liebe. Trauer war Trauer, ob um Mensch oder Tier. Dann dachte sie an das, was Oma Petra gesagt hatte. Es gibt keinen Tierhimmel. Sie schwieg. Mama war der gleichen Ansicht, das wusste sie, ohne mit ihr darüber gesprochen zu haben. Vermutlich glaubte sie an überhaupt keinen Himmel, sie ging ja nicht mal in die Kirche.

Monika Wilbert machte eine Handbewegung in Richtung Nachttisch. »Das räumst du auf jeden Fall weg«, ordnete sie an – mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Dann brauste sie aus dem Zimmer.

Mitten in der Nacht wurde Tarja durch ein leises Klingeln geweckt. Erst dachte sie, es gehöre zu ihrem Traum, aber dann merkte sie, dass sie nicht mehr schlief und das Geräusch immer noch hörte.

Plutos Glöckchen!

Das Erstaunliche daran war, dass sie das Band über Nacht abnahm und neben sich auf den Nachttisch legte. Wie konnte es dann aber klingeln?

Sie öffnete die Augen. Weil das Licht der Straßenbeleuchtung durch das Rollo schimmerte, war es im Zimmer nicht ganz dunkel. Tarja drehte den Kopf zur Seite und erblickte das matt glänzende Glöckchen. Es lag da und klingelte. Eine Gänsehaut überlief sie. Das unheimliche Gefühl schloss nahtlos an ihren Traum an, in dem sie Pluto gesehen hatte, wie er unter einer Masse von zottigen Körpern begraben wurde. Gefletschte weiße Zähne und rot funkelnde Augen hatten aus den Fellen herausgeblitzt. Dann war die Meute fortgelaufen und hatte ihn mit sich genommen.

Tarja setzte sich kerzengerade im Bett auf. Plötzlich war alles ganz klar. Pluto brauchte ihre Hilfe! Das war die einzig logische Erklärung für das Klingeln und die Träume. Irgendwie musste sie einen Weg in diese andere Welt finden, und zwar in Wirklichkeit, nicht bloß im Traum!

Als ob ihre stumm getroffene Entscheidung gehört worden war, verstummte das Glöckchen.

In der wiedergekehrten nächtlichen Stille saß Tarja im Bett und grübelte. Wenn Späterland existierte, musste es einen Weg dorthin geben, eine Brücke. In ihrer Vorstellung hatte diese Brücke aus den Strahlen des Regenbogens bestanden, aber wie half ihr das weiter? Es sei denn … Sie hatte stets einen bestimmten Regenbogen vor Augen gehabt, wenn sie in ihrer Fantasie nach Späterland reiste. Den über dem Grausteinfall! Aus dem Physikunterricht wusste sie, dass der Regenbogen durch die Wassertröpfchen entstand, die das Sonnenlicht in seine einzelnen Farbbestandteile zerlegten. Sie war jedes Mal fasziniert gewesen, wenn sie mit Oma Petra und Opa Gregor, seltener mit ihren Eltern, einen Ausflug dorthin unternommen hatte. Konnte es so einfach sein?

Morgen war Sonnabend und das Wetter sollte gut werden. Tarja beschloss eine Radtour zu machen.


7. Am Grausteinfall


Kraftvoll trat Tarja in die Pedale, der Wind wehte ihr die langen Haare aus der Stirn. Auf der zwanzigminütigen Fahrt entlang der Landstraße war ihr bereits ordentlich warm geworden, doch der anstrengendste Teil lag noch vor ihr. Schon begann die Straße anzusteigen, um nach der nächsten Kurve noch ein paar Prozente zuzulegen. Bis auf zwölf, wie das Hinweisschild anzeigte, und damit genug, um im Winter Autofahrern, die ohne Schneeketten unterwegs waren, Probleme zu bereiten.

Tarja japste nach Luft, ihre Beine schmerzten. Egal. Eine Pause würde sie sich erst gönnen, wenn sie am Grausteinfall anlangte. Es war noch früh, halb neun, und weil die Sommerferien erst übernächste Woche anfingen, würden hoffentlich keine Wanderer unterwegs sein.

Endlich hatte Tarja den steilen Abschnitt bewältigt und bog auf einen Waldweg ab. Immer noch schnaufend schloss sie ihr Fahrrad an einen Baum, den dichtes Gebüsch verdeckte, sodass man es von der Straße aus nicht sehen konnte. Seit ihr letztes Rad gestohlen worden war, traf sie Vorsichtsmaßnahmen, damit dem neuen nicht dasselbe Schicksal widerfuhr. Den Helm hängte sie an den Lenker.

Den letzten Teil der Strecke würde sie zu Fuß zurücklegen. Sie war so ins Schwitzen gekommen, dass sie ihre Sommerjacke auszog und sie sich um die Taille band. Dann nahm sie einen Schluck aus der Wasserflasche, die sie vorhin in den Rucksack gepackt hatte – zusammen mit einer orange-rot karierten Picknickdecke, ihrem Smartphone und etwas Verpflegung.

Um sie herum zwitscherten Vögel, und schon hier konnte sie das donnernde Rauschen des Wasserfalls hören. Von unten war schlecht an ihn heranzukommen, dazu hätte sie über Morast und glitschige Steine klettern müssen. Also ging sie durch den Wald, über einen mit Wurzeln und Steinen gespickten Pfad, bis sie das Sprühen der Gischt durch die Baumstämme erkennen konnte.

Oben angekommen blieb Tarja an dem hölzernen Geländer stehen, das Besucher davon abhalten sollte, am Steilhang neben dem Wasserfall herumzuklettern. Eine Weile beobachtete sie, wie das Wasser über die Felsen hinabstürzte. Obwohl die Wildheit des Baches sie beeindruckte, kam es Tarja so vor, als sei der Wasserfall früher mächtiger gewesen. Ob es daran lag, dass sie lange nicht mehr hier gewesen und in dieser Zeit gewachsen war? Vielleicht war auch die anhaltende Trockenheit schuld, die den Pegel des Grausteinbachs hatte absinken lassen.

Weit und breit ließ sich niemand blicken.

Was nun? Wie sollte der Wasserfall ihr helfen, nach Späterland zu gelangen?

Auf einmal fand Tarja ihre Idee kindisch. Was hatte sie sich erhofft? Dass aus dem Nichts eine Brücke wuchs und sie einfach hinüberspazieren konnte? Späterland war ein Fantasieprodukt ihrer Kindheit. Aber jetzt war sie zwölf Jahre alt, zwölfdreiviertel, um genau zu sein.

Obwohl sie sich gern in den fantastischen Welten ihrer Bücher vergrub, in denen Tiere sprechen konnten und Magie wie selbstverständlich zum Leben dazugehörte, wusste sie, dass nichts davon real war. Da hätte sie auch wieder an den Weihnachtsmann glauben können.

Plötzlich bemerkte sie den Bogen aus buntem Licht, der sich über einen vorstehenden Felsen auf halber Höhe des Wasserfalls spannte. Im selben Moment klingelte das Glöckchen an ihrem Hals. Das genügte als Zeichen.

Tarja vergewisserte sich, dass sie allein war, dann schwang sie sich mit dem Rucksack auf dem Rücken über das Geländer und wagte den Abstieg.

Es ging einfacher als erwartet, denn überall ragten Wurzeln und fest sitzende Steine aus dem Erdreich, an denen sie Halt fand. Als sie die Stelle erreichte, über der sie den Regenbogen gesehen hatte, pfiff Tarja leise. Da war eine Höhle! Ziemlich weit seitlich, halb verborgen vom feinen Sprühnebel. Wenn der Pegel des Baches höher war, musste die Höhle komplett hinter dem Wasservorhang versteckt sein, aber jetzt könnte sie hinübergelangen.

Über ihr kollerten Kiesel. Tarja schrak zusammen. Hatte sie jemand beobachtet? Das bedeutete Ärger, denn es war verboten, über die Absperrung zu klettern. Und zusätzlichen Ärger konnte Tarja wahrhaftig nicht gebrauchen. Mama hatte heute Morgen noch immer verstimmt gewirkt, sicher auch, weil sie schon wieder das Glöckchen trug. Als sie ihr von der geplanten Radtour erzählte, hatte sie bloß genickt, ohne die üblichen Ermahnungen, vorsichtig zu sein und ja den Helm aufzusetzen. Aber einerlei, wer da oben herumschlich, es gab kein Zurück mehr. Sobald sie die Höhle erreichte, war sie vor fremden Blicken geschützt.

Die restlichen Meter musste Tarja über algenbedeckte Steine klettern, die kaum Halt boten. Ihr Fuß glitt ab. Fast wäre sie weggerutscht und in den kleinen Teich unten am Wasserfall gestürzt. Im letzten Moment gelang es ihr, sich an dem breiten Vorsprung vor der Aushöhlung im Fels emporzuziehen. Schnell tauchte sie unter dem Vorhang aus feinem Nebel hindurch und kletterte hinein.


Ein sagenhafter Anblick bot sich ihr von dort aus. Wie luftige weiße Gardinen hingen perlende Wasserströme über dem Eingang. Dahinter lugten Baumwipfel hindurch, über denen die gelbe Sonnenscheibe emporstieg. Die Höhle selbst war feucht und nicht besonders groß, kaum zwei Meter breit und noch weniger tief. Dennoch war sie ein grandioses Versteck, wenngleich nichts auf eine verborgene Brücke oder sonst einen magischen Durchgang hindeutete, wie Tarja enttäuscht feststellte.

Wieder polterten Steine herab und schlugen mit lautem Platschen in den Teich. Tarja klopfte das Herz bis zum Hals. Kein Zweifel, jemand folgte ihr. Angsterfüllt schaute sie sich nach einer Fluchtmöglichkeit um.

Kling! Hell läutete die kleine Glocke.

Tarja tastete nach ihr und hob sie am Lederband vors Gesicht. »Hilf mir, Pluto«, flüsterte sie.

Ein Sonnenstrahl stahl sich durch den Wasservorhang und traf das Glöckchen. Verblüfft beobachtete Tarja, wie das Licht von dem Metall reflektiert und an die Rückseite der Höhle geworfen wurde. Rot, Orange, Gelb, Grün, Hellblau, Indigo, Violett. Die Farben des Regenbogens.

Der Fels schien sich mit einem Mal zu dehnen, als bestünde er aus Kaugummi. Der siebenfarbige Lichtstrahl schob sich wie eine Zunge hinein und grub dabei einen Tunnel in den Berg. Nein, nicht ganz, denn da waren keine Wände, sondern nur ein endloses schwarzes Nichts, das die entstehende Regenbogenbrücke umhüllte.

»Hey, Tarja!«

Sie kannte die Stimme. Milo, einer von Pascals Kumpanen! Was hatte der hier zu suchen?

»Ich weiß, dass du da reingekrochen bist!«, rief er.

Ein Schatten fiel über die Höhle, als Milo sich anschickte, hineinzuklettern, doch der Regenbogen dachte nicht daran, zu verblassen. Er ging jetzt einzig von dem Glöckchen aus.

»Du hast hier nichts zu suchen!« Milos Stimme klang erbost. »Das ist unser Hauptquartier. Zutritt verboten, kapiert?«

Tarja überlegte nicht lange. Sie setzte die Fingerspitzen auf das bunte Band. Sofort verspürte sie eine Strömung, die von hier zur anderen Seite verlief. Wie weit diese entfernt war, ließ sich nicht abschätzen. Sehr weit, vermutete Tarja, denn das bunte Licht verlor sich in der Dunkelheit. Ihr war mulmig zumute.

Hinter ihr schrie Milo schmerzerfüllt auf. Sie wandte den Kopf und sah, dass ihr Klassenkamerad sich die Stirn rieb, die er sich an der niedrigen Höhlendecke gestoßen hatte.

Eine Sekunde später rief er: »Was ist das denn?« Es klang verwundert und ein bisschen ängstlich.

Das Lichtband zitterte. Irgendetwas sagte Tarja, es würde nicht mehr lange halten. Jetzt oder nie! Sie schob die Knie nach vorn und die Strömung erfasste sie.


II. Späterland
1. Über die Regenbogenbrücke

Leuchtende Wirbel umkreisten Tarja, ließen sie das Gefühl für oben und unten verlieren. Sie hatte sich die Regenbogenbrücke vorgestellt wie eine gewöhnliche Brücke, über die man gehen konnte, aber das hier war vollkommen anders. Sie selbst schien still zu stehen – oder vielmehr zu knien –, dafür war alles um sie herum in Bewegung, ohne dass sie eine Richtung ausmachen konnte. Ihr wurde schwindlig.

Unerwartet spürte sie festen Boden unter sich. Auf allen vieren landete sie in weichem Gras. So weit sie blicken konnte, erstreckte sich eine sommerliche Landschaft aus Hügeln und Wiesen, die haargenau aussah wie die in ihren Träumen.

Sie hatte es geschafft, sie war in Späterland!

Als sie aufstand und sich umdrehte, sah sie, wie sich das regenbogenfarbene Gebilde in wabernden Nebelschwaden, die über einer gewaltigen Schlucht hingen, aufzulösen begann.

Aus dem Nichts ertönte ein Schrei. In den Resten der Brücke erschien Milo und plumpste vor Tarja ins Gras. Ungläubig schaute er sich um. Tarja streckte ihm helfend die Hand entgegen. Er tat, als bemerke er es nicht, und rappelte sich hoch.

»Willkommen in Späterland«, sagte sie.

Milo rieb sich die Augen. Er war fast vierzehn, weil er die sechste Klasse wiederholte, und außerdem ziemlich groß für sein Alter. Er hatte rotblonde Haare, und auf seinem Gesicht prangten schon etliche Pubertätspickel. Aber im Augenblick wirkte er wie ein ängstlicher kleiner Junge.

»Wo ist der Grausteinfall? Wo ist … na, alles?«

»Die Regenbogenbrücke sollte nur mich nach Späterland bringen«, erklärte Tarja. »Irgendwie bist du mit reingerutscht. Wieso musstest du mir hinterherklettern?«

Milo war so ziemlich der Letzte, den Tarja auf ihrer Suche nach Pluto brauchen konnte – von Pascal mal abgesehen.

»Du hast unseren Clubraum entweiht«, sagte Milo vorwurfsvoll und lief an ihr vorbei.

Tarja folgte ihm. »Konnte ich ja nicht wissen.« Als ob die Höhle hinter dem Wasserfall Privatbesitz sei!

»Pascal wird sicher stinksauer …« Milo, der sich zu ihr umgedreht hatte, verstummte. Seine Augen weiteten sich, während er auf einen Punkt hinter Tarja starrte.

Ein weiterer Besucher aus der Welt, die sie gerade verlassen hatten? Oder etwas anderes? Tarja verspürte ein Kribbeln im Nacken, als sich die feinen Härchen dort aufstellten. Zögernd drehte sie sich um.

Das, was da über dem nebelgefüllten Abgrund schwebte, ließ sich mit nichts vergleichen, was Tarja je gesehen hatte. Es war etwa zwei Meter groß und besaß eine menschliche Form mit Armen, Beinen und einem Kopf, wenn auch ohne Gesichtszüge. Der durchscheinende Körper erinnerte an eine riesige Seifenblase oder an flüssiges Glas. Seine Haut, wenn man die spiegelglatte Oberfläche so nennen konnte, schillerte und funkelte in verschiedenen Farben, je nachdem, wie das Sonnenlicht auf das Ding fiel. Es wirkte so fremd, als stamme es von einem anderen Planeten. Langsam schwebte es näher.

»Reisende!«

Selbst die Stimme des Wesens hatte etwas Gläsernes, so kalt und hohl klang sie.

Ein Kloß steckte in Tarjas Kehle – aber irgendetwas musste sie erwidern, also schluckte sie ihn hinunter und sagte: »Es stimmt, wir sind Reisende. Wir kommen von jenseits der Regenbogenbrücke, vom Grausteinfall. Ich heiße Tarja und das ist Milo.« Aus dem Augenwinkel sah Tarja, dass Milo mit offenem Mund dastand und ihm die Augen aus den Höhlen zu fallen drohten. Sie fasste all ihren Mut zusammen und fragte das Seifenblasen-Glas-Ding: »Wer bist du?«

»Ich bin P’tai«, sagte es im Herankommen. »Ich bewache die Brücke. Da ihr sie als lebendige Menschen überschritten habt, müsst ihr etwas bei euch tragen, einen Schlüssel.« Kurz vor Tarja hielt der Brückenwächter inne und überragte sie drohend.

Wie von selbst glitten Tarjas Finger an Plutos Glöckchen. »Ich habe das hier.«

P’tai nickte und die Bewegung rief ein leuchtendes Farbenspiel auf seinem augenlosen Gesicht hervor. Auf seltsame Weise wirkte er dadurch freundlicher.

»Was ist euer Begehr?«

»Ich suche meinen Kater, Pluto«, erklärte Tarja. »Er ist in Gefahr. Kannst du mir sagen, wo ich ihn finde?«

»Ihr besitzt den Schlüssel, daher dürft ihr die Suche vollziehen. Doch zu helfen vermag ich euch nicht. Ich bin an die Übergänge zwischen den Welten gebunden, was in ihrem Innern geschieht, davon weiß ich nichts.« Auf der gläsernen Handfläche, die der Wächter Tarja entgegenstreckte, lag eine Sanduhr. »Nehmt sie. Ihr müsst euch hier an dieser Stelle einfinden, bevor der Sand durchgerieselt ist, andernfalls bleibt euch der Rückweg nach Lukama verschlossen.«

Lukama? Damit konnte er nur die Menschenwelt meinen. Allerdings erinnerte sich Tarja nicht, diesen Namen erdacht zu haben. Genauso wenig wie den Brückenwächter. Vorsichtig, um den Körper des Wesens nicht zu berühren, nahm Tarja die Sanduhr aus dessen Hand. Kaum hatte sie das getan, schwebte P’tai zurück in die Schlucht. »Halt«, rief sie zutiefst verunsichert. »Wie lautet der Name dieser Welt?«

»Ihr seid in Späterland.« Die klirrende Stimme verblasste, ebenso die Farben auf der Oberfläche des Wächters.

Tarja trat an den Rand der Schlucht und erschauderte. Weit unten in der nebligen Tiefe verlor sich das bunte Gebilde in eintönigem Grau. Doch ihr Herz klopfte freudig. Sie befanden sich wahrhaftig in Späterland – auch wenn sie ahnte, dass dieses Späterland nicht ganz dem ihrer Fantasie entsprach. Es war, als habe sich die Idee der fünfjährigen Tarja verselbstständigt und war ohne ihr Zutun zu etwas Größerem herangewachsen.

»Warum hast du ihm nicht gesagt, dass ich überhaupt nicht hier sein will?« Milo, der seinen Mut mit dem Verschwinden des Brückenwächters wiedergefunden hatte, stellte sich neben sie und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Dazu bin ich nicht gekommen«, verteidigte sich Tarja. »Hättest ja selbst den Mund aufmachen können.«

»Blöde Kuh.« Milo blickte sie zornig an, doch Tarja spürte, dass sich hinter seinem Ärger Verzweiflung verbarg.

Plötzlich tat er ihr leid. Er sollte nicht hier sein. Das war ihre Suche, nicht seine. »Vielleicht kann ich die Brücke noch einmal erscheinen lassen«, sagte sie und hob den Anhänger. Sonnenlicht gab es reichlich, doch das Glöckchen dachte nicht daran, es in seine Farben zu zerlegen, egal wie Tarja es drehte und wendete.

»Es funktioniert nicht«, klagte Milo. »Was soll ich jetzt bloß machen? Mein Vater bringt mich um, wenn ich zum Abendessen nicht zu Hause bin.«

Tarja ging durch den Kopf, wie wohl die Reaktion ihrer Eltern ausfallen würde, wenn sie am Nachmittag nicht wie vereinbart zurückkehrte. Andererseits wollte sie sich darüber nun keine Gedanken machen. Sie hatte Wichtigeres zu tun.

Am Horizont hatte sie einen einzelnen, großen Baum entdeckt. Ob es der aus ihrem Traum war, würde sich erst noch herausstellen, aber da er der einzige Anhaltspunkt war, schlug sie vor, in diese Richtung aufzubrechen.

Milo folgte ihr mit wenig Begeisterung.


334,20 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
265 стр. 43 иллюстрации
ISBN:
9783946381846
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают