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ZWEITES KAPITEL Die erste halbe Stunde

W

as war passiert? Welche Wirkung hatte diese fürchterliche Erschütterung gehabt? Hatte das Genie der Erbauer des Projektils zu einem glücklichen Ergebnis geführt? Wurde der Stoß durch die Sprungfedern, die Zapfen, die Wasserkissen und die zerbrechlichen Verschlage abgeschwächt? War man der unermesslichen Kraft jener Anfangsgeschwindigkeit von 11.000 Metern, welche in einer Sekunde durch ganz Paris oder New-York fahren konnte, Meister geworden? Diese Fragen drängten sich offenbar den tausend Zeugen jener aufregenden Szene auf. Über dem Gedanken an die Reisenden vergaß man den Zweck der Unternehmung! Und wenn einer von ihnen – J. T. Maston z.B. – hätte einen Blick in das Projektil werfen können, was würde er gesehen haben? Zu jenem Zeitpunkt nichts, denn es war darin völlig dunkel. Aber seine konischzulaufenden Wände hatten hervorragenden Widerstand geleistet. Kein Riss, keine Biegung, keine Verstellung. Das erstaunliche Projektil hatte unter der ungeheuren Hitze der Pulververbrennung nicht gelitten, war nicht, wie man hätte befürchten können, zu einem Aluminiumregen zerschmolzen.

Im Innern herrschte im Ganzen genommen wenig Unordnung. Einige Gegenstände waren an die Decke geschleudert worden; aber die wichtigsten schienen durch den Stoß nicht in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein. Die Befestigungsriemen waren unbeschädigt. Auf der beweglichen Scheibe, die nach der Zertrümmerung der Scheidewände und dem Entweichen des Wassers bis zum Boden herabgesunken war, lagen drei Körper regungslos. Lebten Barbicane, Nicholl und Michel Ardan noch? War das Projektil mehr als ein metallener Sarg, der drei Leichen in den Weltraum trug?

Einige Minuten nach dem Abschuss fing sich einer der Körper zu regen an. Seine Arme bewegten sich, sein Kopf richtete sich auf, und es gelang ihm, auf die Knie zu kommen. Es war Michel Ardan. Er betastete sich, stieß ein lautes »He!« aus und sprach dann: »Michel Ardan ist unversehrt. Sehen wir, was die andern machen!«

Der mutige Franzose wollte aufstehen; aber er konnte sich nicht auf den Beinen halten. Sein Kopf wankte, das stark nach oben gestiegene Blut machte ihn blind, er war wie betrunken.

»Brr!«, machte er. »Das hat auf mich gewirkt, wie zwei Flaschen Cortona, nur dass dieser wohl angenehmer zu trinken ist!«

Darauf strich er mehrmals mit der Hand über seine Stirn, rieb sich die Schläfen und rief mit fester Stimme:

»Nicholl! Barbicane!«

Er wartete ängstlich. Keine Antwort. Nicht ein Atemzug, welcher kundgab, dass seinen Kameraden das Herz noch schlug. Er rief abermals. Dieselbe Stille.

»Teufel! Sie verhalten sich, als seien sie von einem fünften Stock herab auf den Kopf gefallen! Bah!«, fuhr er mit der unverwüstlichen Zuversicht, die sich durch nichts stören ließ, fort. »Wenn sich ein Franzose auf die Knie zu richten vermag, so sollten auch zwei Amerikaner nicht davor zurückschrecken, wieder auf die Beine zu kommen. Aber beleuchten wir die Sache erst einmal.«

Ardan fühlte, wie er langsam wieder lebendig wurde. Sein Blut wurde ruhiger und floss wieder in gewohntem Kreislauf. Wiederholte Anstrengungen brachten ihn ins Gleichgewicht. Es gelang ihm aufzustehen. Er zog ein Streichholz aus der Tasche, rieb den Phosphor, bis er sich entzündete, näherte sich dem Gashahn und machte Licht. Der Behälter hatte nicht gelitten, kein Gas war entwichen. Darauf hätte schon der Geruch hingewiesen. Dann hätte Michel Ardan es nicht wagen dürfen, in dem mit Gas angefüllten Raum eine Flamme zu entzünden. Denn es hätte zu einer Explosion führen können, welche vielleicht das Werk vollendet hätte, was der Abschuss bereits ausgelöst hatte. Sobald die Gasflamme leuchtete, bog sich Ardan über die Körper seiner Gefährten, die wie leblose Massen übereinander lagen. Nicholl oben, Barbicane unten. Ardan hob den Kapitän auf, stützte ihn gegen einen Diwan und rieb ihn kräftig. Dieses mit Verstand ausgeführte Kneten brachte Nicholl wieder zum Bewusstsein; er schlug die Augen auf, besann sich sogleich und erfasste Ardans Hand. Dann fragte er umherblickend:


»Und Barbicane?«

»Der kommt auch noch an die Reihe«, erwiderte Michel Ardan. »Mit dir fing ich an, weil du oben lagst. Jetzt helfen wir Barbicane.«

Hierauf hoben Ardan und Nicholl den Präsidenten des Gun-Clubs auf und legten ihn auf den Diwan. Barbicane schien mehr als seine Genossen gelitten zu haben. Er hatte geblutet. Aber Nicholl beruhigte sich sofort, als er sich davon überzeugt hatte, dass dieser Blutverlust nur von einer leichten Verwundung an der Schulter herrührte. Bloß eine Schramme, die er sorgfältig verband. Dennoch dauerte es geraume Zeit, bis Barbicane wieder zu sich kam, worüber seine beiden Freunde, die ihn unablässig rieben, in Schrecken gerieten.

»Er atmet noch«, sagte Nicholl, das lauschende Ohr an der Brust des Verwundeten.

»Ja«, versetzte Ardan. »Er atmet, wie ein Mensch, der diese Tätigkeit täglich zu üben gewohnt war. Reiben, kneten wir, Nicholl, kräftig!«

Und die beiden improvisierten Ärzte machten es so gut, dass Barbicane wieder zum Herrn seiner Sinne wurde. Er schlug die Augen auf, richtete sich empor, ergriff die Hand seiner Freunde, und seine ersten Worte lauteten:

»Nicholl, sind wir in Bewegung?«

Nicholl und Barbicane sahen einander an. Um das Projektil hatten sie sich noch nicht gekümmert. Ihre erste Sorge galt den Reisenden, nicht dem Gefährt.

»Wirklich, sind wir in Bewegung?«, wiederholte Michel Ardan.

»Oder befinden wir uns ruhig auf dem Boden Floridas?«, fragte Nicholl.

»Oder auf dem Grund des Golfs von Mexiko?«, fügte Michel Ardan bei.

»Das wäre es noch!«, rief Präsident Barbicane.

Und diese doppelte Vermutung, welche seine Mitstreiter aufstellten, bewirkte unmittelbar, ihn wieder zu völligem Bewusstsein zu bringen.

Wie dem auch sein mochte, man konnte über die Lage, in der sich das Geschoss befand, noch keine bestimmten Aussagen treffen. Die scheinbare Unbeweglichkeit und die Unmöglichkeit, mit der Außenwelt in Verbindung zu treten, gestatteten es nicht, diese Frage zu beantworten. Vielleicht befand sich das Projektil auf seiner Fahrt durch den Raum? Vielleicht war es auch nach kurzem Höhenflug wieder zurück auf die Erde gefallen, oder auch in den mexikanischen Golf, was bei der geringen Größe Floridas leicht möglich sein konnte. Der Fall war ernst, das Problem brisant. Es musste baldmöglichst gelöst werden. Barbicane, dem bei seiner Aufregung die moralische Kraft half, seine physische Schwäche zu überwinden, stand auf und horchte. Außen tiefe Stille. Aber die dichte Polsterung musste auch jedes Geräusch, was von der Erde hätte kommen können, verschlucken. Doch etwas fiel Barbicane auf. Die Temperatur innerhalb des Projektils war außerordentlich hoch. Der Präsident zog ein Thermometer aus seiner Hülle und besah das Instrument; es zeigte 45 Grad an.

»Ja!«, rief er aus. »Ja! Wir sind in Bewegung! Die erdrückende Hitze, die durch die Wände des Projektils eindringt, entsteht durch die Reibung an den Schichten der Atmosphäre. Sie wird bald abnehmen, weil wir schon in den luftleeren Raum übergehen, und nachdem wir fast erstickt wären, werden wir starke Kälte zu empfinden haben.«

»Wie?«, fragte Michel Ardan. »Deiner Ansicht nach, befinden wir uns schon an der Grenze der Erdatmosphäre zum Weltraum?«

»Ohne Zweifel, Michel. Pass auf. Es ist jetzt zehn Uhr fünfundfünfzig. Wir sind seit etwa acht Minuten unterwegs. Wäre unsere Anfangsgeschwindigkeit nicht durch die Reibung vermindert worden, so wären wir schon binnen sechs Sekunden über die sechzehn Lieues, in der sich die Atmosphäre um den Erdball herum schließt, hinausgekommen.«

»Ganz richtig«, erwiderte Nicholl. »Aber wie hoch schätzen Sie die Verminderung der Geschwindigkeit durch die Reibung?«

»Auf etwa ein Drittel«, erwiderte Barbicane. »Das ist beträchtlich, aber meiner Rechnung nach beträgt sie soviel. Hätten wir nun am Anfang eine Geschwindigkeit von 12.000 Metern gehabt, so wird dieselbe beim Verlassen der Atmosphäre auf 7.332 Meter herabgemindert sein. Wie dem auch sei, wir sind bereits durch diesen Raum hindurch und ...«


»Und damit hätte Freund Nicholl seine beiden Wetten verloren; 4.000 Dollar, weil die Kanone nicht explodiert ist; 5.000, weil das Projektil über sechs Meilen hinausgekommen ist. Also, Nicholl, begleiche deine Schulden.«

»Stellen wir zunächst einmal die Richtigkeit von Barbicanes Aussagen fest, dann soll die Bezahlung auch erfolgen. Leicht möglich, dass Barbicanes Folgerungen richtig sind und dass ich meine 9.000 Dollar verloren habe. Aber es kommt mir noch eine andere Vermutung, ein Fall, womit die Wette so nicht verloren wäre.«

»Welche Vermutung?«, fragte Barbicane lebhaft.

»Es wäre denkbar, dass wir, weil der Funke aus irgendeinem Grunde nicht zum Pulver gelangt ist, gar nicht abgeschossen wurden.«

»Aber Kapitän!«, rief Michel Ardan. »Das ist eine rein spekulative Annahme! Sie kann nicht ernst gemeint sein! Sind wir nicht alle von dem Rückstoß fast zu Tode gerüttelt worden? Habe ich dich nicht wieder ins Leben zurückgeholt? Blutet nicht jetzt noch die Schulter des Präsidenten von dem Rückstoß?«

»Das stimmt, Michel«, bestätigte Nicholl. »Aber ›eine‹ Frage nur.«

»Die wäre?«

»Hast du etwas von dem Knall gehört, der doch bestimmt ganz entsetzlich laut gewesen sein muss?«

»Nein«, gab Ardan sehr betroffen zu. »Ich habe ihn tatsächlich nicht gehört.«

»Und Sie, Barbicane?«

»Ich auch nicht.«

»Nun, denn«, sagte Nicholl.

»In der Tat!«, murmelte der Präsident. »Warum haben wir keinen Knall gehört?«

Die drei Freunde sahen einander etwas verlegen an. Dieser Umstand war ihnen unerklärlich. Doch wenn das Projektil abgeschossen worden war, musste es konsequenterweise auch einen Knall gegeben haben.

»Überzeugen wir uns zuerst davon, wo wir uns befinden«, sagte Barbicane, »und ziehen wir die Deckel von den Luken.«

Diese höchst einfache Arbeit wurde sofort an der rechten Luke durchgeführt. An den außen angebrachten Platten befanden sich Bolzen, welche, durch die Wand dringend, innen mit Schraubenmuttern fest gezogen waren. Diese wurden mit einem Schraubenschlüssel abgedreht. Dann wurden die Bolzen hinaus gestoßen und die Löcher, in denen sie gesteckt hatten, durch Schließklappen, die mit Kautschuk gefüttert waren, verstopft. Nun senkte sich die Außenplatte an einem Scharnier wie bei einem Lukendeckel eines Kriegsschiffs hinab, und das Linsenglas an der Mündung der Luke kam zum Vorschein. Eine eben solche Luke befand sich auf der entgegengesetzten Wand des Projektils, eine weitere an der Spitze desselben und eine vierte in der Mitte des Bodens. So konnte man also in vier verschiedene Richtungen Beobachtungen machen: das Firmament konnte durch die beiden Seitenluken, die Erde und der Mond durch die untere respektive obere Luke direkt betrachtet werden.

Barbicane und seine Genossen waren sofort an die geöffnete Luke gestürzt. Kein Lichtstrahl zeigte sich. Das Projektil war in tiefes Dunkel eingebettet. Dem ungeachtet rief Präsident Barbicane aus:

»Nein, meine Freunde, wir sind nicht wieder auf die Erde gefallen! Wir sind nicht auf den Meeresgrund des Golfs von Mexiko gesunken! Ja! Wir fahren aufwärts im Weltraum! Sehen Sie da die in der Nacht schimmernden Sterne und diese undurchdringliche Dunkelheit zwischen uns und der Erde!«

»Hurra! Hurra!«, riefen Michel Ardan und Nicholl gleichzeitig.

In der Tat bewies die Finsternis, dass sich das Projektil von der Erde entfernt hatte, denn die vormalige helle Beleuchtung des Erdbodens durch den Mondschein wäre den Reisenden sichtbar gewesen, wenn sie sich noch im Bereich seiner Oberfläche befunden hätten. Diese Dunkelheit lieferte auch den Beweis dafür, dass das Projektil bereits über die Grenze der atmosphärischen Luftschicht gelangt war, denn das in derselben verbreitete zerstreute Licht hätte auf seine Metallwände eine Rückstrahlung ausgeübt, welche ebenfalls nicht vorhanden war. Dieses Licht hätte die Linse des Gucklochs bestrahlt. Aber das Glas war unbeleuchtet. Es war also gar kein Zweifel mehr, dass sich die Reisenden von der Erde entfernt hatten.

»Ich habe verloren«, stellte Nicholl fest.

»Und ich gratuliere dazu!«, erwiderte Ardan.

»Hier sind meine neuntausend Dollar«, sagte der Kapitän und zog einen Packen Papierdollar aus seiner Tasche.

»Wollen Sie eine Quittung?«, fragte Barbicane.

»Wenn Sie so freundlich sein wollen«, erwiderte Nicholl. »So lautet die Regel.«

Ernst, schwerfällig, so als ob er sich vor seinem Kassenpult befände, zog Präsident Barbicane sein Notizbuch aus der Tasche, riss ein weißes Blatt heraus, schrieb darauf eine Quittung mit Datum und Unterschrift und überreichte sie dem Kapitän, der sie wiederum sorgfältig in seiner Brieftasche verstaute. Ohne ein Wort zu seinen Kameraden zu sagen, zog Michel Ardan seine Mütze ab und verneigte sich. Unter diesen Umständen soviel Förmlichkeit – dazu fehlten ihm einfach die Worte. Nie zuvor war ihm etwas derartig ›Amerikanisches‹ untergekommen.

Als Barbicane und Nicholl ihr Geschäft beendet hatten, stellten sie sich wieder ans Fenster und betrachteten die Sternbilder. Von dem dunklen Hintergrund des Himmels hoben sich die Sterne sehr scharf ab. Aber von dieser Seite konnte man den Mond nicht sehen, weil er in der Richtung von Osten nach Westen allmählich zum Zenit emporstieg. Sein Fehlen veranlasste Ardan zu einer Bemerkung.

»Und der Mond?«, fragte er. »Sollte er unser Rendezvous zufällig verfehlen?«

»Beruhige dich«, versetzte Barbicane. »Unsere künftige Wohnstätte ist an seinem Platz, aber von dieser Seite können wir ihn nicht sehen. Öffnen wir das andere Seitenfenster.«

In dem Augenblick, als Barbicane eben im Begriff war, das Fenster zu verlassen, um das Guckloch auf der entgegengesetzten Seite von seinem Deckel zu befreien, wurde seine Aufmerksamkeit durch die Annäherung eines glänzenden Gegenstandes angezogen. Es war eine große Scheibe, deren kolossale Verhältnisse sich nicht abschätzen ließen. Seine der Erde zugekehrte Seite war deutlich beleuchtet. Man hätte es einen kleinen Mond nennen können, der das Licht des großen widerspiegelte. Sie bewegte sich mit erstaunlicher Schnelligkeit voran und schien um die Erde eine Bahn zu beschreiben, welche die Linie des Projektils kreuzte. Zu der Bewegung um die Erde kam eine Rotation um sich selbst. Es verhielt sich also wie alle im Raum sich selbst überlassenen Himmelskörper.

»Was ist das?«, rief Michel Ardan. »Noch ein Projektil?«

Barbicane erwiderte nichts. Die Erscheinung dieses großen Körpers überraschte und beunruhigte ihn. Es war ein Zusammenstoß möglich, der schlimme Folgen haben konnte. Sei es, dass das Projektil aus seiner Fahrt gedrängt oder zur Erde hinabgestoßen, oder durch eine übermäßige Anziehungskraft desselben unwiderstehlich mit fortgerissen würde. Er begriff augenblicklich die Folgen dieser drei Möglichkeiten, welche das Unternehmen auf die eine oder andere Art zum Scheitern verurteilen würden. Seine Gefährten blickten stumm in den Raum hinaus. Der Gegenstand nahm, sowie er näher kam, erstaunlich an Größe zu, und aufgrund einer optischen Täuschung schien ihm das Projektil geradezu entgegenzufliegen.

»Um Himmels willen!«, rief Michel Ardan. »Es wird gleich einen Zusammenstoß geben.«

Instinktiv traten die Reisenden zurück. Ihre Angst war ungeheuer, dauerte jedoch nicht lange an, kaum einige Sekunden. Der Asteroid flog einige hundert Meter am Projektil vorbei und verschwand, nicht aufgrund seiner Schnelligkeit, sondern weil sich seine dem Mond zugekehrte Seite plötzlich in der absoluten Dunkelheit des Raumes verlor.

»Glückliche Reise!«, rief Michel Ardan, indem er wieder frei aufatmete. »Wie? Ist der unendliche Raum nicht groß genug, dass sich eine armselige kleine Kugel nicht ohne Besorgnis darin aufhalten könnte! Ei! Was hat es mit der großen Kugel, die uns beinahe getroffen hätte, für eine Bewandtnis?«

»Ich weiß es!«, sagte Barbicane.

»Potz tausend! Du weißt ja alles.«


»Es ist«, sagte Barbicane, »bloß ein Bolide, aber von enormer Größe, den die Anziehungskraft der Erde wie einen Trabanten gefesselt hat.«

»Ist das möglich?«, fragte Michel Ardan. »Hat die Erde also zwei Monde, wie der Neptun?«

»Ja, mein Freund, zwei Monde, obschon man im Allgemeinen glaubt, sie habe nur einen. Aber dieser zweite Mond ist so klein und seine Geschwindigkeit so groß, dass ihn die Erdbewohner nicht bemerken können. Der französische Astronom namens Petit hat durch die Beobachtung gewisser Bahnstörungen die Existenz dieses zweiten Trabanten zu bestimmen und seine Elemente zu berechnen verstanden. Nach seinen Beobachtungen würde dieser Bolide seinen Umlauf um die Erde in nur drei Stunden und zwanzig Minuten vollenden, was eine erstaunliche Geschwindigkeit voraussetzt.«

»Erkennen alle Astronomen«, fragte Nicholl, »die Existenz dieses Trabanten an?«

»Nein«, erwiderte Barbicane; »aber wenn sie ihm, wie wir, begegnet wären, könnten sie nicht mehr an seiner Existenz zweifeln. Ich denke, dass uns dieser Bolide, der uns bei einem Zusammenstoß in arge Bedrängnis gebracht hätte, in der Tat die Möglichkeit gibt, genau zu bestimmen, wo wir uns befinden.«

»Wieso?«, fragte Ardan.

»Weil uns seine Entfernung bekannt ist. Im Moment der Begegnung waren wir gerade 8.140 Kilometer von der Erdoberfläche entfernt.«

»Das sind über 2.000 Lieues!«, rief Michel Ardan. »Das überbietet ja die Expressfahrten dieses armseligen Erdballs!«

»Das glaube ich auch«, erwiderte Nicholl und sah auf seinen Chronometer. »Es ist elf Uhr und wir haben Amerika erst vor dreizehn Minuten verlassen.«

»Erst vor dreizehn Minuten?«, fragte Barbicane.

»Ja«, erwiderte Nicholl, »und wenn wir unsere anfängliche Geschwindigkeit von 11 Kilometern beibehielten, so würden wir in der Stunde etwa 10.000 Lieues zurücklegen!«

»Das ist ja alles schön und gut, meine Freunde«, sagte der Präsident, »aber immer noch ist die Frage zu lösen: Weshalb haben wir den Knall der Kanone nicht gehört?«

Keine Antwort. Die Unterhaltung stockte und Barbicane, fortwährend überlegend, machte sich daran, den Deckel der andern Seitenluke herabzulassen. Seine Bemühung gelang, und durch das frei gemachte Fenster fiel das hellste Mondlicht ins Innere des Projektils. Sparsam wie er war, löschte Nicholl das Gaslicht, denn es war unnötig und außerdem behinderte es bei der Betrachtung des Weltraums. Das Mondlicht glänzte in unvergleichlicher Reinheit. Seine Strahlen, die nicht mehr von der Dunstatmosphäre der Erde verschleiert wurden, drangen hell durch das Fenster und erfüllten das Innere des Projektils vollständig mit silbernem Schein. Sein Glanz, obwohl er durch den schwarzen Vorhang des Firmaments verstärkt wirkte, doch im leeren Weltraum nicht fähig war, sich auszubreiten, verdunkelte nicht die benachbarten Sterne. So gewährte der Himmel einen ganz ungewöhnlichen Anblick, wie ihn das menschliche Auge nicht vermuten ließ.

Das Interesse der mutigen Reisenden an der Betrachtung des Nachtgestirns, dem vordringlichen Zweck ihrer Reise, ist begreiflich. Der Erdtrabant kam auf seiner Bahn dem Zenit immer näher, dem mathematischen Punkt, welchen er etwa 96 Stunden später erreichen sollte. Seine Gebirge und Ebenen, das ganze Bild seiner Oberfläche stellte sich ihren Augen nicht klarer dar, als wenn sie es von irgend einem Punkt der Erde aus betrachtet hätten. Aber sein Licht entwickelte sich in dem leeren Raum mit unvergleichlicher Stärke. Die Scheibe glänzte wie ein Spiegel aus Patina. An die Erde, die unter ihren Füßen entschwand, hatten sie schon fast keine Erinnerung mehr. Kapitän Nicholl lenkte zuerst wieder die Aufmerksamkeit auf den verschwundenen Erdball.

»Ja!«, sprach Michel Ardan. »Lasst uns nicht undankbar gegen ihn sein. Weil wir unsere Heimat verlassen haben, schulden wir ihm unser letztes Augenmerk. Ich will die Erde noch einmal sehen, bevor sie meinen Blicken gänzlich entschwindet!«

Um dem Wunsch seines Gefährten zu entsprechen, machte sich Barbicane daran, das Fenster im Boden des Projektils, welches die Betrachtung der Erde unmittelbar gestattete, frei zu machen. Es kostete einige Mühe, die Scheibe, die durch die Kraft des Abschusses bis auf den Boden gedrückt worden war, herauszunehmen. Die Stücke derselben wurden sorgfältig an der Wand aufgestellt, um nötigenfalls benutzt werden zu können. Hierauf zeigte sich eine kreisrunde, fünfzig Zentimeter breite Öffnung, welche in dem Boden des Geschosses ausgeschnitten war. Dieselbe war mit einem 50 Zentimeter dicken, mit einem kupfernen Beschlag versehenen Glas geschlossen. Darunter war eine Aluminiumplatte angebracht, die durch Bolzen befestigt war. Die Schraubenmutter wurde gelöst, die Bolzen freigemacht, die Platte senkte sich, und so war die Verbindung mit der Außenwelt für den Blick hergestellt.

Michel Ardan kniete auf das Fenster nieder; es war düster wie im Schatten.

»Nun!«, rief er. »Und wo ist die Erde?«

»Die Erde?«, fragte Barbicane. »Da ist sie doch.«

»Was?«, fragte Ardan. »Dieser schmale Streifen, die silberne Sichel?«

»Allerdings, Michel. In vier Tagen, wenn es Vollmond ist, eben wenn wir dort anlangen, wird die Erde im Neumond stehen. Sie wird uns nur noch in Gestalt einer dünnen Sichel, die bald verschwinden wird, sichtbar sein. Und dann wird sie uns einige Tage lang in undurchdringlichem Dunkel erscheinen.«

»Dies soll also die Erde sein!«, wiederholte Michel Ardan, indem er den schmalen Streifen seines Herkunftsplaneten mit aufgesperrten Augen betrachtete.

Die vom Präsidenten Barbicane abgegebene Erklärung war richtig. Im Verhältnis zum Projektil trat die Erde in ihre letzte Phase ein. Sie befand sich in ihrem Achtel und beschrieb auf dem dunklen Hintergrund des Himmels eine fein gezogene Sichel. Ihr Licht, welches durch die dichte Schicht atmosphärischer Luft einen bläulichen Schein erhielt, war geringer als das der Mondsichel. Die Sichel der Erde wies bedeutende Dimensionen auf; man hätte sie einen enormen, am Himmel gespannten Bogen nennen können. Einige hell erleuchtete Punkte, besonders auf der konkaven Seite, bezeichneten hohe Gebirge, aber sie verschwanden zuweilen unter dichten Flecken, wie man sie auf der Oberfläche des Mondes nicht erkennen kann. Es waren Wolkenringe, die sich konzentrisch um die Erdkugel herum bildeten.

Infolge einer Naturerscheinung, gleich der, wie sie auch beim Mond zu beobachten ist, wenn er sich in seinen Achteln befindet, war man jedoch imstande, die vollständige Umfangslinie der Erdkugel wahrzunehmen. Durch die Wirkung des aschfarbenen Lichtes, welches etwas weniger als das des Mondes scheint, kam die ganze Scheibe ziemlich deutlich zum Vorschein. Der Grund für die geringere Strahlungsintensität ist leicht nachvollziehbar. Der Widerschein des Mondes rührt von den Sonnenstrahlen her, welche die Erde auf ihren Trabanten zurückwirft; in diesem Falle handelt es sich jedoch umgekehrt um die vom Mond auf die Erde zurückgeworfenen Sonnenstrahlen. In Entsprechung der verschiedenen Größen der beiden Himmelskörper strahlt das Licht von der Erde etwa 13 Mal stärker als das vom Mond. Hieraus folgt, dass sich durch den Schein des aschfarbenen Lichtes der dunklere Teil der Erdscheibe undeutlicher abzeichnet, als dies bei der Mondscheibe der Fall ist, weil die Intensität des Scheines im Verhältnis zur Leuchtkraft der beiden Gestirne steht. Des Weiteren ist anzumerken, dass die krumme Linie der Erdsichel viel weiter abgezeichnet zu sein scheint als beim Mond, was lediglich auf die Wirkung der Strahlung zurückzuführen ist.

Während die Reisenden das dichte Dunkel des Raums zu durchdringen suchten, entfaltete sich vor ihren Blicken ein funkelnder Strauß von Sternschnuppen. Hunderte von Boliden, die beim Eintritt in die Atmosphäre verglühten, durchzogen das Dunkel mit Lichtstreifen und beleuchteten den aschfarbenen Teil des Mondes mit feurigem Schimmer. Die Erde befand sich damals in ihrer Sonnennähe und im Dezember ist die Erscheinung der Sternschnuppen so gut zu beobachten, dass die Astronomen deren 24.000 während einer Stunde zählten. Aber Michel Ardan, der wissenschaftliche Beurteilungen für gering erachtete, gab lieber dem Glauben Raum, dass die Erde mit ihren glänzendsten Kunstfeuern die Abfahrt ihrer drei Kinder feiere.

Kurz: Dies war alles, was sie von dem im Dunkeln verschwundenen Erdball sahen, als einem untergeordneten Stern in der Sonnenwelt, der den großen Planeten wie ein bloßer Morgen- oder Abendstern unter- oder aufgeht: ein nicht mehr zu erkennender Punkt im Raum. Die Erdkugel war nur noch eine verschwindende Sichel, auf der sie alles, was ihnen lieb und teuer war, zurückgelassen hatten.

Die drei Freunde schauten einander noch lange sprachlos, aber im Herzen einig, an, während sich das Projektil in unverändert abnehmender Geschwindigkeit entfernte. Hierauf befiel die drei Freunde ein unbedingtes Schlafbedürfnis. Sowohl aufgrund der Erschöpfung des Körpers und des Geistes, als auch aufgrund der Überreizung durch die in den letzten Stunden auf der Erde verbrachten Stunden, musste unvermeidlich eine Reaktion erfolgen.

»Nun«, sagte Michel, »da man doch schlafen muss, so wollen wir schlafen.«

Und auf ihre Polster ausgestreckt versanken die drei bald in einen tiefen Schlaf. Aber sie waren noch nicht eine Viertelstunde eingeschlummert, als sich Barbicane plötzlich aufrichtete und mit laut tönender Stimme seinen Gefährten zurief:

»Gefunden!«

»Was hast du gefunden?«, fragte Michel Ardan von seinem Lager aufspringend.

»Den Grund, weshalb wir den Knall der Kanone nicht gehört haben!«

»Und der ist... ?«, fragte Nicholl.

»Weil unser Projektil schneller als der Schall des Tones war!«

382,18 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
258 стр. 48 иллюстраций
ISBN:
9783868209556
Издатель:
Правообладатель:
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