Читать книгу: «El Niño de Hollywood», страница 2

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Bei den salvadorianischen Jungen von L. A. wurde es als die »Salvatrucha-Klaue« bekannt. Noch heute wird es von den Mitgliedern der Salvatrucha, den hommies, auf aller Welt voller Ehrfurcht verwendet.

Um 1979 hatten sich unter den Salvadorianern zahlreiche Gruppen gebildet, die sich in der Satanismus- und Heavy-Metal-Szene bewegten. Man kannte sie als stoners. Es war eine regelrechte Bewegung. Um sich ein für alle Mal von allen anderen Gruppierungen zu unterscheiden, gaben sich die Salvadorianer den Namen »La Mara Salvatrucha Stoner« oder einfach MSS.

Der Name führt uns wieder zurück zum großen Kino. In den Sechzigern kam ein Film mit dem Titel Wenn die Marabunta droht (mit Charlton Heston in der Hauptrolle) nach Zentralamerika. Der Film basiert auf der 1937 erschienenen Erzählung Leiningens Kampf mit den Ameisen des deutsch-österreichischen Schriftstellers Carl Stephenson. Sie handelt von einem Plantagenbesitzer am Amazonas, dessen Plantage von einem Millionenheer tödlicher Ameisen vernichtet zu werden droht. Der Film war ein riesiger Erfolg. Auch in der zutiefst provinziellen Gesellschaft von El Salvador erregte er großes Aufsehen und leitete eine neue Epoche ein, indem er ein kleines Fenster zur westlichen Welt aufstieß. Seine Wirkung war dort so gewaltig, dass neue Wörter entstanden. Der umgangssprachliche Begriff majada, mit dem eine Gruppe von Menschen bezeichnet wird, wurde durch marabunta oder einfach nur mara ersetzt. Zunächst hatte der Ausdruck keine kriminelle Konnotation. »Salvatrucha« war der Spitzname der Salvadorianer während des Kriegs der Zentralamerikaner gegen die Anhänger des US-Amerikaners William Walker im Jahre 1855.

Die Mara Salvatrucha Stoner war alles andere als eine organisierte Bande. Es handelte sich um kleine, autonome Zellen, die nur in lockerer Verbindung zueinander standen. Doch im Unterschied zu den anderen jugendlichen Stoner-Gruppen waren sie von Beginn an nicht harmlos. Sie waren von den satanistischen Texten des Heavy und Black Metal fasziniert und nahmen die Sache ernst. So war es Ende der Siebzigerjahre nichts Ungewöhnliches, Mara Stoner dabei zu beobachten, wie sie auf den Gräbern des städtischen Friedhofs von Pico-Union Katzen zerhackten, Blutsbrüderschaft schlossen und Satan anriefen.

In jenen Jahren wurde »Die Bestie« geboren. Heavy-Metal-Titel wie The Number of the Beast von Iron Maiden brachten die Mara Stoner auf die Idee, und es hatte zunächst lediglich etwas mit ihrer fanatischen Begeisterung für die Musik zu tun. Dann aber bekam das Wort einen anderen Sinn und bedeutete sehr viel mehr. Die Bestie wurde zum Synonym für die Bande selbst, zugleich bezeichnete sie den Ort, an dem die im Kampf gefallenen Bandenmitglieder und die, die von der Bande ermordet worden waren, wohnten. Wie das Walhalla der alten Wikinger. Die Bestie ist also eine Art Wohnstatt für die Seelen der Krieger. Und wie der Huitzilopochtli der Mexikaner ist sie ein Wesen, das nach Blut verlangt.

Aus der Bestie wurde Die Bestie.

Es ist schwierig, mit alten Bandenmitgliedern über jene ersten Jahre zu sprechen, Jahre des Übergangs, als sie von Opfern zu Tätern wurden. Sie haben nur verschwommene Erinnerungen daran. Es geschah, ohne dass dem irgendjemand besondere Aufmerksamkeit schenkte. Wie eine ganz natürliche Entwicklung. Wie das Erwachsenwerden.

Selbst Wissenschaftler, die sich jahrelang bemüht haben, die Bande zu verstehen, wie zum Beispiel Professor Tom Ward von der Universität von Kalifornien oder Professor Carlos García aus Mexiko, sehen sich außerstande, jenen kurzen Zeitraum zu begreifen. Wahrscheinlich waren die Mareros nie vollkommen passiv. Vielleicht brauchten sie nur ein paar Jahre, um sich bewusst zu werden, dass sie eine Gewalt kannten, die brutaler war als die ihrer Rivalen.

Eines jedoch ist ziemlich klar: Ende der Siebziger hörten die Mitglieder der Mara Salvatrucha Stoner auf, Opfer zu sein. Die Zeiten, in denen die salvadorianischen Flüchtlinge unter den Banden der Mexikaner oder der Nachkommen von Mexikanern, der chicanos, in den Schulen zu leiden hatten, waren vorbei. Die Mitglieder der MSS waren brutale Schläger geworden, die nur darauf lauerten, provoziert zu werden. Ihr Zusammenschluss machte sie stark.

Die Seele des ganzen Armenviertels war die Musik. Jugendliche, die sich leidenschaftlich für eine Musikrichtung begeisterten, schlossen sich zu bandenähnlichen Gruppen zusammen, und man nannte sie die party gangs. Eine davon waren die Drifters. Sie kleideten sich wie John Travolta in Grease und hörten Tag und Nacht Discofunk. Ansonsten suchten sie Streit mit anderen Partygangs. Es war eine Herausforderung. Die Mara Salvatrucha Stoner nahmen sie an.

»Die da oben in Kalifornien dachten, sie wüssten, was Gewalt ist. Fuck, no! Wir haben ihnen beigebracht, was Gewalt ist«, erinnert sich ein altes Mitglied der MSS in einem Café im Zentrum von San Salvador. Zwei Jahrzehnte nachdem er aus den Vereinigten Staaten ausgewiesen wurde, erinnert er sich noch lebhaft daran, wie die hommies wie Raubtiere in die Straßen von Los Angeles einfielen. Die jungen Salvadorianer kannten sich mit dem Krieg aus. Sie waren vor einem geflohen und hatten keinerlei Bedenken, sich in einen anderen zu stürzen.


El Salvador war in den Siebzigerjahren ein Schnellkochtopf. Darin kochte ein Krieg auf großer Flamme.

Die klandestinen linken Gruppen waren herangereift und begannen sich ernsthaft zu organisieren. Es handelte sich nicht um eine einheitliche Bewegung, sondern um Gruppierungen unterschiedlicher politischer Richtungen. Die katholisch erzogenen Jugendlichen aus der Mittelschicht verfochten die Idee eines bewaffneten Volksaufstands nach dem kommunistischen Vorbild in Asien. Sie nannten sich Ejército Revolucionario del País (Revolutionäre Volksarmee), abgekürzt ERP. Andere, die sich von der Kommunistischen Partei El Salvadors abgespaltet hatten, führten zahlreiche Arbeiter und Bauern in einer der größten Guerillaorganisationen Lateinamerikas zusammen: Fuerzas Populares de Liberación (Volksbefreiungsarmee), abgekürzt FPL. Die Widerstandsgruppen griffen auf vielen Flanken an, und die Idee des bewaffneten Kampfes fand bei den Massen immer größeren Anklang.

Auf der anderen Seite verteidigte die Regierung, die sich aus Putschisten der extremen Rechten zusammensetzte, ihre Macht mit all dem Sadismus, dem die lateinamerikanischen Militärs ihren Ruf verdanken. Ihre wichtigste Waffe war die Nationalgarde, deren bloße Erwähnung die Salvadorianer noch heute frösteln lässt. Es war ein wenig technifiziertes Korps, das als brutale Schlägerbande des Staates und einer kleinen Elite von Kaffeeplantagenbesitzern fungierte. Ihre Methoden, um an Informationen zu gelangen, bestanden zum Beispiel darin, Wassereimer an die Geschlechtsteile der Verhörten zu hängen oder auf sie einzuprügeln, bis sie gestanden, wo sie die gestohlene Kuh oder Goldkette versteckt hatten. Diese Methoden waren sehr effektiv, um die Banditen und die entwaffneten Gewerkschafter zu terrorisieren, aber wenig nützlich, wenn es darum ging, die sich ungebremst entwickelnden Guerillagruppen abzuschrecken. Diese waren sehr viel flexibler im Kampf als der schwerfällige, veraltete Staatsapparat.

1975 pfiffen die Kugeln ununterbrochen und in beide Richtungen. Die Guerillagruppen versorgten sich mit Waffen, indem sie bedeutende Unternehmer entführten und Lösegeld für sie verlangten. Sie zogen sich in die abgelegensten Landgemeinden zurück, Orte, die von den marxistischen Lehrbüchern am wenigsten empfohlen wurden. Dort entstanden die ersten Feldlager, die immer größer wurden, als die Bauern, die die Repression des Militärs nicht länger ertragen wollten, zu ihnen stießen.

1979 änderte sich in Mittelamerika alles. In Nicaragua schlossen sich die Guerillagruppen zusammen und beseitigten das Regime von Anastasio Somoza Debayle, das dritte einer Dynastie, die vorhatte, sich auf ewig an der Macht zu halten. Dies war das leuchtende Vorbild, auf das die salvadorianischen Guerilleros gewartet hatten. Es war also möglich, mit Waffengewalt eine sozialistische Regierung zu installieren. Die Kämpfe wurden heftiger. Die Rückzugsorte auf dem Land rüsteten auf. Die US-amerikanische Regierung, die um einen ihrer Hinterhöfe fürchtete, intensivierte ihre Unterstützung der salvadorianischen Militärjunta durch Finanzhilfen und militärische Beratung. Ende ’79 wurde ein staatlicher Geheimdienst eingerichtet und eine Gruppe zur Infiltration der Guerillas gebildet, bekannt unter dem Namen ORDEN (Organización Democrática Nacionalista). Kuba und das neue, sozialistische Nicaragua wiederum begannen, die Aufständischen mit Geld und militärischer Ausbildung zu unterstützen.

Für all dies brauchte man Menschen und vor allem Menschenhände, die die Waffen bedienten. In einem Land, dessen Bevölkerung zu 60 Prozent aus Kindern bestand, war das Ergebnis vorhersehbar. Auf beiden Seiten wurden Tausende von Jungen unter fünfzehn Jahren rekrutiert. Der Krieg ist eine Bestie, die sich von jungem Fleisch ernährt.

Das kleine El Salvador, das zwanzig Mal in den Bundesstaat Kalifornien passt, stürzte sich mit seiner Kinderarmee in einen Abgrund, aus dem es erst 1992 mit mehr als 75.000 Toten und unzähligen Vertriebenen auf dem Konto wieder hervorkriechen sollte.

Mit den Jungen, die diesem Wahnsinn entronnen waren, wollten die Disco-Jungs der Partygangs von Los Angeles also ihren Puls messen. Sie glaubten, es könnte lustig werden.

Die Totenwache

Miguel Ángel Tobar liegt tot im Haus seiner Mutter. Draußen wird gefeiert.

In Las Pozas, einer Gemeinde im Westen El Salvadors, findet ein Fest statt. Es ist Samstag, der 22. November 2014. Gestern wurde Miguel Ángel Tobar ermordet. Die Menschen feiern den Jahrestag der Gründung der Gemeinde, und die Bezirksverwaltung von San Lorenzo hat eine Tanzveranstaltung organisiert. Eine Plastikplane trennt die, die 50 Centavos Eintritt bezahlt haben, von denen, die nicht gezahlt haben. Aus scheppernden Lautsprechern, die die Musik verzerren, dröhnt Reggaeton. Die Lichter und der Lärm der kleinen Gemeinde heben sich von der vollkommenen Dunkelheit ab, die über den umliegenden Viehweiden und Maisfeldern herrscht. Es weht ein starker Wind. Für salvadorianische Verhältnisse ist es ein kühler Abend.

Gestern wurde Miguel Ángel Tobar ermordet. Heute wird er zum Rhythmus der evangelikalen Kirchenlieder betrauert. Die Kirchenlieder gehen im Gedröhn des Reggaeton unter, und so wird er in Wahrheit zum Rhythmus des Reggaeton betrauert.

Es ist zehn Uhr abends, die Männer auf dem Tanzfest sind schon betrunken. Sie fixieren die Leute und lauern auf eine Gelegenheit, eine Schlägerei vom Zaun zu brechen. Sie taumeln über die Tanzfläche, eine Hand am Hut, in der anderen eine Viertelliterflasche Cuatro Ases. Ein dubioser Schnaps: Es ist weder Rum noch Wodka, sondern guaro, Zuckerrohrschnaps. Vier Soldaten halten sich im Dunkeln neben der Bühne auf. Sie werden sich nicht einmischen, es sei denn, irgendjemand zückt eine Machete oder holt eine Pistole oder ein Gewehr hervor. Wegen zwei Betrunkenen, die sich prügeln, werden sie nicht eingreifen.

Las Pozas besteht aus Erde. Die Straßen sind aus Erde, die Häuser sind aus Erde, und wenn die Erde austrocknet, verwandelt sich die Gemeinde in eine Staubwüste. Dann setzt sich der herumwirbelnde Staub in den Mundwinkeln und den Falten am Hals fest, in den Haaren, im Schweiß, irgendwo, um Halt zu finden. Doch an diesem angenehm kühlen Abend schwitzt niemand.

In einer der Seitengassen, fast direkt gegenüber der Gemeindeschule, liegt Miguel Ángel Tobar in seinem Geburtshaus in einem Teakholzsarg. Um ihn herum alte Frauen, die unwirsch etwas vor sich hin murmeln. Es sind die obligatorischen Totengebete. Vor dem Sarg sitzt, ganz allein, auf einem Plastikstuhl, seine Mutter und starrt auf den Boden. Sie ist eine kleine Frau, und der Kummer über den ermordeten Sohn scheint sie noch weiter reduziert zu haben. Wenige Monate später wird sie an Krebs sterben.

Sie weint nicht. Es ist bereits die zweite Totenwache, die sie für einen ihrer Söhne hält. Das zweite Mal, dass sie die Mutter eines Ermordeten ist.

Der Boden des Hauses ist ebenfalls aus Erde. Das Dach und die Tür sind aus Blech, die Mauern aus nackten Backsteinen. Das Haus besteht aus einem einzigen Raum, in dem drei Betten stehen. Die Betten sind durch aufgehängte Decken voneinander abgetrennt, die verhindern, dass man das andere Bett sehen, aber nicht, dass man hören kann, was dort gesprochen wird. Eines der Betten ist für die Mutter. Der Vater ist nicht mehr da. Er hat sich vor nicht einmal einem Jahr erhängt. Er konnte die Erinnerung an ein Massaker nicht ertragen, bei dem die MS-13 vier seiner Verwandten getötet hatte. Auch den älteren Sohn. Im zweiten Bett schlafen Miguel Ángel Tobars ältere Schwester und ihr Mann. Allerdings sitzt ihr Mann zurzeit wieder mal im Gefängnis, weil er Marihuana aus Guatemala über die Grenze geschmuggelt hat. Im dritten Bett schliefen bis gestern Miguel Ángel, seine junge Frau und seine kleinen Töchter, die eine drei Jahre, die andere drei Monate alt. Die Küche ist überall da, wo Zweige verbrannt werden können. Die Toilette ist ein mit Brettern und Blechplatten überdachtes Kabuff auf dem Hinterhof.

Auf dem Hinterhof stehen die Männer, etwa zehn, trinken Kaffee und essen süßes Brot, das ihnen von den Frauen gereicht wird. Das süße Brot kommt nicht aus der Bäckerei, ist nur mit Zucker bestreut und nicht mit Zucker gebacken. Die vierzehn Frauen singen und klatschen dazu in die Hände: Die Macht Gottes ist hier unter uns, die Macht Gottes ist hier unter uns. Es ist eine Totenwache auf dem Land: arme Frauen, die fromme Lieder singen, Kaffee im Überfluss, Brot, Zucker und ein Pastor, der gleich ein Gebet sprechen wird.

Eine ärmliche Totenwache. Es fehlt die gewöhnliche Dramatik der Totenwachen für Bandenmitglieder, bei denen Dutzende von jungen Männern den Angehörigen Spenden überreichen und sich in eine Schlange stellen, um sich nacheinander unter Tränen und Racheschwüren von ihrem homeboy zu verabschieden. Nichts davon heute. Die Totenwache für Miguel Ángel Tobar ist der Abschied von einem Aussätzigen. Keiner seiner ehemaligen Freunde von der Gang kann hier sein, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Die einen hat er umgebracht, die anderen sitzen wegen ihm im Gefängnis.

Ein Mann schaut durch die offene Tür und fragt etwas, das offensichtlich ist:

»Liegt hier der Verstorbene?«

Es handelt sich um den Pastor. Er ist dunkelhäutig und sehr korpulent. Seine Kleidung ist abgetragen, seine Schuhe sind staubbedeckt. Er war fast zwei Stunden unterwegs. Begleitet wird er von zwei Frauen, die Schleier tragen. Der Pastor spricht vom Jenseits. Er verrät keine Einzelheiten, er weiß nicht, wie es im Jenseits aussieht, sagt aber voller Überzeugung, dass es besser sei als dieses Leben. Er nimmt die Bibel in die Hand und spricht ein Gebet, während die Frauen mit geschlossenen Augen unverständliche Worte murmeln. Miguel Ángel Tobars junge Frau ist nervös, steht abseits von den anderen. Sie hat telefonische Morddrohungen erhalten. Sie hat Angst, dass die Kugeln, die ihrem Lebensgefährten gegolten haben, jetzt sie zum Ziel haben werden. Der Pastor beendet sein Gebet. Er sammelt ein paar Dollar von den Trauernden und Besuchern ein. Das ist übliche Praxis bei Priestern, die, anders als die von der Kirche bezahlten Priester, kein Gehalt beziehen. Dieser aber macht etwas Ungewöhnliches: Er geht zu Miguel Ángels Frau und überreicht ihr das eingesammelte Geld. »Das wird dir ein wenig helfen, Mamita«, sagt er zu ihr und verschwindet mit seinen beiden Begleiterinnen in der Dunkelheit der Viehweiden.

Draußen dröhnt der Reggaeton. In der Gemeinde wird gefeiert. Miguel Ángel Tobars Angehörige haben die Organisatoren gebeten, das Fest um einen Tag zu verschieben, weil das Haus weniger als 100 Meter entfernt ist von der Bühne, auf der Musik gespielt wird. Das war naiv. Niemand würde eine Tanzveranstaltung wegen Miguel Ángel Tobars Tod um vierundzwanzig Stunden verschieben.


Miguel Ángel Tobar liegt halb nackt in einem weißen Plastiksack auf einem Zinktisch.

Aus dem Loch in der Mitte seines Halses sickert noch immer klebriges Blut. Die Leiche ist so frisch, dass es noch nicht ganz geronnen ist. Die Gerichtsmediziner von Santa Ana haben ihm nach der Autopsie alte Boxershorts übergezogen. Die Shorts sind blau, auf dem Bund steht elegant. Von den vier Tattoos ist nur das verzerrte Yin und Yang auf dem rechten Oberschenkel von Blutspritzern verschont geblieben. Die Buchstaben auf seiner Brust, zwischen den beiden Löchern im Hals und dem unter der rechten Brustwarze, sind unleserlich. Auf seinem linken Unterarm ist zwischen frischen Blutspritzern zu lesen: Mein wildes Leben.

Über die rechte Gesichtshälfte laufen vier Linien, Spuren geronnenen Blutes, von Stirn und Wange zum Haaransatz. Wenn man nicht wüsste, dass er erschossen wurde, könnte man meinen, eine Bestie hätte ihm das Gesicht zerkratzt.

Er starb mit offenen Augen und gleichgültigem Gesichtsausdruck.

In einem Anfall von Dummheit war Miguel Ángel Tobar fünf Monate zuvor wie jemand, der nicht sein ganzes Leben im Angesicht des Todes gelebt hat, in das Haus seiner Familie zurückgekehrt, hatte das Zuckerrohrfeld verlassen, in dem er sich monatelang versteckt gehalten hatte. Er war es leid gewesen, wie ein Vagabund zu leben. Er musste seine beiden Töchter ernähren. Er wusste, dass eine Horde Mörder nach ihm suchte, um seinen Verrat zu rächen. Er kannte sie sehr gut. Es waren seine hommies. Er wusste, dass hochrangige Führer der Mara Salvatrucha aus dem Gefängnis heraus seinen Kopf forderten. Einige von ihnen gehörten zu den Gründungsmitgliedern der Bande im kalifornischen Süden in den wilden Achtzigern. Sie wollten endlich hören, dass er tot war, dass er gelitten hatte. Sie hatten ihm gedroht, er werde nach Kiefer riechen, in Anspielung auf den Sarg, in den man ihn legen würde. Sie wussten nicht, dass Miguel Ángel Tobars Kiste aus dem noch billigeren Teakholz bestehen würde. Und dennoch war Miguel Ángel Tobar in die Gemeinde Las Pozas zurückgekehrt.

Die Gemeinde Las Pozas: Erde, eine Schule, ein riesiger Feigenbaum, eine Kneipe, ein staubiger Fußballplatz, Busch, Hitze. Das war sein Rückzugsplan.

Er hatte den problematischen Jugendlichen aus der Nachbarschaft nie erlaubt, in die MS-13 einzutreten. Auch nicht, als er selbst bereits ein Killer der Organisation war. Miguel Ángel Tobar nannte sie ganyeros, »meine Ganyeros«. Es waren acht Jungen, für die das Marihuana, das Miguel Ángel Tobar aus Guatemala mitbrachte, eine Neuheit und sein Verkauf in kleinen Mengen ein raffiniertes Verbrechen war.

Einmal im Monat überquerte Miguel Ángel Tobar die Grenze, die nur wenige Kilometer von seinem Haus entfernt verläuft. Er durchquerte den Busch, ging über Viehweiden, watete durch einen Fluss und kaufte zwei, drei oder fünf Unzen Marihuana. Er rauchte ein wenig mit seinen ganyeros und gab ihnen etwas, damit sie es verkauften und sich den kümmerlichen Gewinn teilten. Manchmal ging er nach Guatemala, um Marihuana für andere zu kaufen, in kleinen Dörfern, die nicht auf der Landkarte verzeichnet sind: El Escarbadero, El Regate. Als Lohn verlangte er von dem, der ihm das Geld gab, etwas Gras für den eigenen Konsum.

Auch als er bereits ein treuer Soldat der MS-13 war, wusste er, dass man den Ort, an dem man lebt, nicht zerstören darf. Die MS-13 aber zerstört.

Die ganyeros bewachten ihn. Sie standen nachts Wache an der Ecke der staubigen Gasse, die zum Haus seiner Familie führt. Sie informierten ihn telefonisch, wenn etwas Ungewöhnliches geschah. Mehrmals musste Miguel Ángel Tobar mit einem trabuco, einem selbst zusammengebauten Gewehr, nach draußen gehen, um Herumlungerer zu vertreiben.

Las Pozas ist das Ende. Das Ende einer Ortschaft, eines Departments, eines Landes. Und hinter Las Pozas liegt ein anderes Land. Guatemala.

Miguel Ángel Tobar wusste, dass seine Mörder die Gemeinde vor den Augen seiner treuen ganyeros durchqueren mussten, um zu ihm zu gelangen. Sie würden ihm entgegentreten müssen, ihm, der sich als Killer Respekt bei Killern verschafft hatte. Deswegen versuchte er, so selten wie möglich den Ort zu verlassen. Manchmal, um für fünf Dollar auf den Maisfeldern zu arbeiten, manchmal, um Marihuana zu besorgen, manchmal, um einen Lastwagen mit Süßigkeiten zu überfallen.

Doch am Freitag, dem 21. November 2014, beschloss Miguel Ángel Tobar aus einem ganz besonderen Grund, Las Pozas zu verlassen. Drei Monate zuvor war seine zweite Tochter geboren worden, und er fand, dass sie einen Vor- und einen Familiennamen brauchte. Bis zu jenem Tag hatte er sie »mein Eselchen« genannt.

Am frühen Morgen verließ Miguel Ángel Tobar den Ort auf einem geklauten Fahrrad, um auf Feldwegen nach San Lorenzo zu radeln, der Gemeinde, zu der Las Pozas gehört. Er näherte sich ihr vom Fluss her, über die Calle al Portillo, eine asphaltierte, zweispurige Straße, die am Fluss San Lorenzo endet.

El Salvador ist ein gewalttätiges Land. Seit Jahrzehnten. Für Miguel Ángel Tobars Generation ist El Salvador schon immer ein gewalttätiges Land gewesen, seit dem Tag, an dem sie ihren ersten Schrei auf Erden taten. San Lorenzo aber war damals ein weißer Fleck. 2013 gab es dort kein Tötungsdelikt. Kein einziges. Null. El Salvador ist in vielen Dingen gleich null – im Fußball, im Wirtschaftswachstum –, dafür aber liegt es bei Tötungsdelikten auf einem Spitzenplatz. Doch auch 2014 hatte es in San Lorenzo bis zum 21. November, dem Tag, als Miguel Ángel Tobar beschloss, sich aus Las Pozas fortzustehlen, um seine Tochter auf dem Standesamt eintragen zu lassen, keinen einzigen Mord gegeben. Zwei Jahre ohne einen gewaltsamen Tod.

Miguel Ángel Tobar betrat das Gemeindeamt gegenüber dem Park. Ein alter Straßenkehrer sah ihn hineingehen. Auch eine Frau namens Esperanza, die die städtische Gebühr für die Busse kassierte, die San Lorenzo verließen, sah ihn, und der Fahrer eines Motorradtaxis. Sie alle erinnern sich, dass er eilig und nervös um sich blickend wieder herauskam. Sie sahen ihn.

Nach einer Stunde verließ er das Gemeindeamt. Das kleine Mädchen hatte einen Namen bekommen: Jennifer Liset. Am Tag, als ihr Papa sie offiziell als seine Tochter anerkannte, wurde Jennifer Liset Halbwaise.

Miguel Ángel Tobar blieb kaum stehen, um die Leute zu begrüßen. Er stieg auf sein Fahrrad und versuchte, den gleichen Weg zurückzufahren, den er gekommen war. Er entfernte sich drei Straßen weit vom Gemeindeamt. Bog in die Calle al Portillo ein. Sah ein Motorradtaxi kommen.


Die polizeiliche Rekonstruktion seines Todes ergab Folgendes: Ein Motorradtaxi mit zwei kahl geschorenen dicken Männern um die vierzig kam ihm entgegen. Sie stießen ihn vom Fahrrad. Das Fahrrad fiel um, er rannte los. Die erste von sechs Kugeln traf ihn im Rücken. (Die ersten Blutstropfen fanden sich einen Meter vom Fahrrad entfernt.) Er lief weiter. Wieder zwei Treffer, einer in den Kopf, hinter dem Ohr, der andere in die Seite. (Die Blutstropfen am Boden häuften sich auf den nächsten Metern.) Er lief noch fünfzehn Schritte. Dann fiel er aufs Gesicht, drehte sich um, wollte sich verteidigen. Die Täter kamen näher und schossen noch drei Mal. In den Kopf und in die Brust. (Die Patronenhülsen fanden sich direkt neben der Blutlache, die sich auf dem Pflaster fortsetzte, so als hätte sich ein verwundetes Tier noch ein wenig weitergeschleppt.)

Er hat gekämpft.

Die Mörder flüchteten nicht in den Busch, sondern in den Ort San Lorenzo. Auf ihrem Tuk-tuk, einem jener Motorradtaxis, die einen Höllenlärm machen. Als würde eine Blechplatte vom Wind übers Pflaster geweht. Das alles spielte sich in etwa 50 Meter Entfernung von der Polizeidienststelle ab. Die Polizisten kamen erst zwanzig Minuten später an den Tatort. Es wurde keine Fahndung veranlasst und auch sonst nichts unternommen.

Der Mann, der als Zeuge unter dem Schutz des salvadorianischen Staates stand und als liebre (»Hase«) oder yogui (»Yogi«) identifiziert wurde, der einunddreißigjährige Killer der Hollywood Gang, der sechsundvierzig Mitglieder der Mara Salvatrucha 13 ins Gefängnis gebracht hatte, war nach fast zwei Jahrzehnten des Mordens durch mehrere Kugeln tödlich getroffen worden.

Wenn man Miguel Ángel zu seinen Lebzeiten fragte, wie viele Menschen er getötet habe, antwortete er mit der Ernsthaftigkeit von jemandem, der im Kopf nachrechnet, um die genaue Zahl zu nennen:

»Sechsundfünfzig … Ich habe sechsundfünfzig Leute umgebracht. Sechs Frauen und fünfzig Männer. Zwei der Männer waren schwul. Ich habe zwei Schwule getötet.«

Er sagte es ohne Angeberei, so als könnte jeder auf der Welt eine Zahl nennen, wenn ihm diese Frage gestellt würde.

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