Читать книгу: «Rakna», страница 3

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Die restliche Nacht verlief ereignislos. Sie waren allein im Langhaus. Alles war vorbereitet für den morgigen Tag. Es blieb nichts weiter zu tun, als das traditionelle Gewand anzulegen, die vielen Bänder festzuschnüren und auf das Morgengrauen zu warten. Die Zeit schien wie im Fluge vorbeizuziehen. Obwohl sie überwiegend geschwiegen hatten, erschien es wie ein Wimpernschlag, als es schließlich an der Tür klopfte und Erik hereintrat. Die Luft wirkte wie elektrisch aufgeladen, als sich die Blicke des Brautpaares trafen. Er betrachtete seine Zukünftige von oben bis unten, nahm sie dann fest in die Arme und schritt mit ihr nach draußen in den Sonnenaufgang. Die Tür schloss sich hinter den Verliebten und Rakna war wieder allein. Das Paar, bei so einem intimen Moment zu beobachten, hatte sie nachdenklich und auch etwas traurig gestimmt. Würde sie jemals jemanden finden, der sie genau so begehrte, trotz ihrer Geschichte und der Zeichnung durch den Dämon? Schnell versuchte sie, die dunklen Gedanken abzuschütteln, und begab sich auf den Heimweg. Heute stand ihr letztlich die Hochzeitszeremonie bevor. Zuvor jedoch gab es da noch ihren eigenen großen Moment. All die harte Arbeit würde sich nun auszahlen. Natürlich konnte sie sich den neuen Ehrentitel und die damit verbundenen Vorzüge zu Nutzen machen und hier und da auf den Adel und das Oberhaupt einwirken. Rakna überlegte, was sie als Nächstes tun sollte, um sich darauf vorzubereiten, als eine Stimme hinter ihr, sie aus ihren Gedanken riss.

„Rakna! Es gibt ein Problem!“ Als sie sich umwandte, erkannte sie Tharas, der eilig auf sie zustürzte.

„Meine Mutter, sie sucht nach dir. Es ist etwas Schreckliches passiert!“ Als sie das gequälte Gesicht des Jungen sah, schwante ihr schon Schlimmes.

„Bring mich zu ihr.“ Ohne zu zögern, spurteten sie los. Sie fanden seine Mutter Maidread am Seeufer. Es wirkte, als würde sie auf Etwas warten, während sie über das raue Wasser hinweg spähte. Kaum dass sie Rakna erkannte, warf sie sich in ihre Arme. Durch ihr lautes Schluchzen waren ihre Worte nur schwerlich zu verstehen.

„Helgi, sie ist aufs Wasser raus geschwommen und jetzt sitzt sie auf der Insel fest. Ich glaube, sie schafft es nicht mehr zurück. Rakna die Tiere! Du weißt doch, was da haust! Sie wird kaum einen Abend dort überleben!“

„Sie hat sich mit Bearna gestritten!“, warf Tharas in diesem Moment ein. Als Maidread das hörte, schrie sie noch lauter nach ihrer Tochter. Dann fiel sie vollkommen entkräftet auf die Knie. Rakna zögerte nicht lang. Einzig und allein ihre Schuhe zog sie aus, anschließend sprang sie mit all ihren Kleidern in das kalte Wasser. Mit kräftigen Zügen teilte sie die raue Oberfläche des Sees. Immer wieder tauchte sie auf und spähte nach der kleinen Insel. Verschwommen erkannte sie die Umrisse des Mädchens. Das Kind saß auf dem weißen Sand und umklammerte ihre Beine. Es dauerte eine ganze Weile, bis Rakna endlich wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Ihre Arme brannten fürchterlich. Vollkommen aus der Puste taumelte sie auf das kleine Mädchen zu, welches erstmals aufblickte. Ihr Gesicht war rot vom vielen Weinen. Ihre Lippen zitterten.

„Helgi! Bin ich froh ...!“ Kaum, dass sie ein paar Worte gewechselt hatten, war schon ein leises Rascheln in der Nähe zu hören. Es verriet Rakna, dass sie nicht alleine waren.

„Schnell komm zu mir, sofort!“ Das zitternde Kind rappelte sich mit wackeligen Beinen auf und kauerte sich hinter ihre Beschützerin. Sie schien ebenfalls bemerkt zu haben, dass noch jemand Anderes hier war. Rakna schaute sich rasch nach einer Waffe um, mit der sie sich verteidigen konnte. Sie ergriff einen scharfkantigen Stock neben einem großen Stein, direkt vor ihr. Dann hockte Rakna sich schützend hinter den Felsen. Sie spitze ihre Ohren, um etwas wie eine Bewegung oder ein Geräusch aufzuschnappen, aber es war totenstill. Das Geschöpf lauerte im Gebüsch. Mit sanften Druck schob sie Helgi in die Deckung des Steins und schlich vorsichtig um ihn herum in Richtung des Strauches. Langsam bogen sich die Äste zur Seite und eine pelzige klauenbesetzte Pfote zwängte sich zwischen ihnen hindurch. Darauf folgte eine große aufgerissene Schnauze, mit scharfen weißen Zähnen. Ein grauer Wolf, mit funkelnd gelben Augen, hatte sich aus dem Gebüsch gezwängt und kam langsam lauernd auf Rakna zu. Sein Blick war starr auf sie gerichtet, ohne ihn für eine Sekunde abzuwenden. Schon oft hatten sie mit den Hunden des Dorfes solche Situationen trainiert. Rakna war darauf vorbereitet, aber damals hatte sie eine ordentliche Rüstung und eine solide Axt. Sie nahm eine verteidigende Haltung ein, ihre einzige Waffe, der Stab in der Hand. Genauso lauernd wie der Wolf, lief sie ein Stück weg von der Stelle, an der das kleine Mädchen saß. Rakna wollte um jeden Preis verhindern, dass das Biest auf sie aufmerksam wurde. Ihre List funktionierte und das Tier ließ sich weglocken. Er zog seine Lefzen hoch und ein tiefes Knurren war zu hören. An den Augen erkannte sie, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er zuschlug. Rakna musste aufmerksam sein und durfte sich nicht ablenken lassen. Sie blieb schlagartig stehen, um ihn zum Angriff zu provozieren, dann ... Lautes Geschrei! Von der Stelle aus, an der Helgi gesessen hatte, kam das Brüllen. Das kleine Mädchen lenkte alle Aufmerksamkeit auf sich und für einen kurzen Augenblick schreckte der Wolf zusammen. Diesen winzigen Moment, der Unachtsamkeit seitens des Tieres, nutze Rakna aus, um zuzuschlagen. Blitzschnell riss sie den Stab hoch und traf das Biest an der Schulter. Doch er hatte ihre Bewegung wahrgenommen, und war ausgewichen, sodass sie ihn nicht in die Flucht schlagen konnte. Er taumelte einige Schritte rückwärts. Dann setzte er zum Gegenangriff an. Mit einem einzigen kräftigen Sprung machte er einen Satz nach vorn und Rakna blieb gerade noch Zeit, ihren spitzen Stock schützend hochzureißen, als der Wolf sie schon mit seinem muskulösen Körper umriss. Zähnefletschend versuchte er, etwas von ihr zwischen die Hauer zu bekommen. Rakna kämpfte, mit alle ihrer Macht, um ihn von sich fernzuhalten. Mit der freien rechten Hand packte sie einen Stein und schlug mit einem festen Hieb gegen den Kopf des Wolfes. Sogleich rollte er von ihr herunter. Leider war er genauso schnell auf den Beinen wie Rakna und abermals standen sie sich gegenüber. Dieses Mal preschte sie zuerst auf ihn zu. Sie würde ihm nicht die Möglichkeit geben, einen weiteren Angriff zu planen. Der Wolf reagierte reflexartig und ihr Schlag ging ins Leere. Das Biest zog sofort nach und Rakna wurde komplett unter dem massigen Körper begraben.

„Rakna!“, schrie Helgi mit verzweifelter Stimme. Für einen Moment sah es so aus, als würde der Wolf sie zerfetzen. Doch dann war ein gequältes Jaulen zu hören und das Tier rannte mit eingezogenem Schwanz davon. Rakna hatte ihm ihre flache Hand an die Kehle gerammt und ihren spitzen Stock in die Flanke getrieben. Eingeschüchtert zog sich der Angreifer zurück. Als das Trommeln der Pfoten nicht mehr zu hören war, richtet sie sich wieder auf. Eine Kralle des Wolfes hatte ihren Arm aufgeschlitzt, es blutete stark. Aber das war egal, Rakna dachte nur an Helgi. Es war auch noch später Zeit, um sich zu verarzten. Mit den Augen suchte sie das Ufer nach dem Kind ab. Hinter einem großen Stein sah sie ihre weißen Haare hervorschauen. Als Helgi merkte, dass die Luft rein war, rannte diese auf die geschundene Rakna zu. Immer wieder neue Wogen von Tränen sprudelten hervor. Die junge Frau hatte Mühe die Worte des Kindes zu verstehen. Helgis makellos weißes Haar, war an den Spitzen noch immer ganz nass.

„Es tut mir leid! Bearna hat so gemeine Dinge gesagt. Ich bin einfach weggerannt, so weit wie möglich.“ Rakna schaffte es, dass die Kleine sich etwas beruhigte und dann erzählte sie, was passiert war.

„Tharas und ich haben am Ufer gespielt. Da kam Bearna zu uns. Sie hat mich herumgeschubst und an meinen Haaren gezogen. Sie nannte mich eine Missgeburt, weil ich seit Anfang an weißes Haar habe. Ich wäre eine alte runzlige Kuh und meine Mutter hätte Unaussprechliches mit einem Monster getrieben. Und weißt du, ich glaube, sie hat Recht. Ich bin zu nichts zu gebrauchen und diese Haare, sie sind widerlich.“ Die Worte sprudelten aus dem Kind heraus, als ob sie ihr schon seit Jahren auf dem Herzen lagen und es schüttelte sie vor lauter Schmach. Rakna betrachtete sie für einen Moment und versuchte, ihre Antwort mit Bedacht zu wählen.

„Helgi, ich kann nicht glauben, dass du das ernsthaft denkst! Alles an dir ist perfekt und weißt du was? Deine Haare sind was Besonderes. Sei dankbar dafür. Außerdem bist du sehr wohl zu etwas nutze. Immerhin hast du den filigranen Torbogen für die Hochzeit deiner Schwester geflochten.“

„Aber es ist unnatürlich, mit solchen Haaren geboren zu werden. Ich kenne niemanden, der sowas je gesehen hat. Rakna, ich habe Angst, das Bearna Recht haben könnte.“

„Was meinst du? Etwa dass du von einem Monster abstammst?“ Unwillkürlich lächelte Rakna, doch das bereute sie sofort, denn Helgi schaute sie zornig an.

„Ich habe von Elfengeschöpfen gehört, die ihre Opfer verschleppen und genau so etwas mit ihnen tun, gegen den eigenen Willen.“

„Ich verrate dir jetzt mal was, Helgi. Ich war schon an den seltsamsten Orten, mit den merkwürdigsten Geschöpfen und habe mich sogar mit einem Elfenwesen unterhalten. Glaub mir, das ist das Letzte, was sie versuchen. Es gibt dort auch nette Elfen. Von ihnen abzustammen ist, meiner Meinung nach, ein Geschenk und keine Strafe.“ Das andersartige Mädchen hatte so aufmerksam zugehört, dass es ganz vergessen hatte zu weinen. Dann fragte sie mit überraschter Miene.

„Du bist einem Elfenwesen begegnet? Einer lebendigen Elfe?“

„Ja, einer echten Elfenfrau und sie war überhaupt nicht bösartig. Sie hat mir sogar das Leben gerettet. Aber das bleibt unser Geheimnis Helgi, ist das klar?“ Mit aufgerissenen Augen nickte sie zustimmend mit dem Kopf. Dabei sah das kleine Mädchen genauso aus wie ihr Bruder Tharas an dem Abend, als sie gemeinsam mit Martha und ihm heimlich in den Wald gegangen war. Rakna stellte fest, dass die beiden Geschwister ein und dieselbe Augenfarbe hatten. Braun, mit goldenen Einschlüssen.

„Komm, wir gehen! Nicht, dass unser haariger Freund mit Verstärkung wiederkommt.“ Zum ersten Mal lächelte Helgi.

„Außerdem habe ich mit Bearna ein ernstes Wörtchen zu reden. Ich will wissen, von wem sie abstammt. Immerhin ist ihr Haar fuchsrot.“ Sie grinste das Mädchen verschmitzt an, welche nun laut loslachte. Auf dem Rückweg klammerte sich Helgi an Raknas Rücken fest und gemeinsam schwammen sie zurück zum rettenden Strand. In der Zwischenzeit, während die Beiden auf der Insel waren, hatte sich eine Menschentraube am Rande des Sees angesammelt. Kaum, dass sie das Ufer erreichten, riss Maidread ihr kleines Mädchen an sich und schloss sie fest in ihre Arme. Immer wieder küsste sie ihr kaltes nasses Gesicht und rief schluchzend ihren Namen. Freudentränen überströmten ihr Antlitz. Dann zerrte sie auch Rakna an sich und umarmte sie stürmisch. Verlegen tätschelte Rakna Maidreads Schulter, unfähig etwas zu sagen. Jäh wurde Rakna von gleißenden Sonnenstrahlen geblendet. Die Sonne stand schon hoch am Horizont. Zu hoch. In wenigen Stunden begann die feierliche Verleihung und sie vergeudete hier ihre Zeit, tropfnass, voller Blut und mit zerzausten Haaren. Unauffällig versuchte sie sich, loszueisen. Doch das kleine Mädchen zupfte bereits an ihrer klammen Kleidung.

„Ich würde dir gerne eine Frisur flechten, Rakna. Als Dankeschön, dass du mich gerettet hast.“, sagte Helgi verlegen.

„Nichts wäre mir lieber. Aber vorher habe ich etwas zu erledigen.“ Schnellen Schrittes drängte Rakna sich durch die Schar von Menschen, die sich um sie herum versammelt hatte und steuerte auf Bearna zu. Hier und da wurde ihr auf die Schulter geklopft oder ihr Name bewundernd ausgerufen. Die Leute schienen ihren Kampf mit dem Wolf beobachtet zu haben. Das freche Mädchen drückte sich hinten in der Menge herum. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie stand wie angewurzelt da, als Rakna sie erblickte.

„Der Kampf war ...“ Rakna schnitt ihr augenblicklich das Wort ab.

„Ich habe gehört, wie dunkel es in deiner Seele ist. Spar dir die Erklärungen, sie sind doch nichts als leeres, unehrliches Gefasel. Wird mir noch einmal zugetragen, dass du Helgi oder irgendein anderes Kind, wegen ihres Aussehens quälst, dann sage ich dir, wirst du ein ernstes Problem bekommen. Haben wir uns verstanden?“ Bearna stolperte einige Schritte rückwärts, während sie mit zusammengekniffenen Lippen nickte. Die Angst stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben, aber das war Rakna egal. Aus der Masse drängelte sich eine weitere Person hervor. Mit barschem Ton schimpfte er auf Rakna ein.

„Was fällt dir ein, meine Tochter zu bedrohen, Rakna Wolfshaut?“ Der Vater des ungezogenen Mädchens stellte sich ihr mit verschränkten Armen in den Weg.

„Du wirst mir zustimmen Barbas, wenn ich dir sage, dass deine Tochter andere Kinder herumschubst, nur weil ihr deren Gesicht nicht gefällt.“

„Was kümmert es mich. Die Bälger müssen in diesem Alter lernen, sich durchzusetzen. Deshalb solltest du dich, als fast Erwachsene, aus solchen Kleinigkeiten raus halten. Was würde die Älteste dazu sagen, wenn sich unsere Hauptmännin um Kinderkram kümmert und ihre wahren Aufgaben vernachlässigt?“

„Ich finde nicht, dass es belanglos ist. Alle Kinder in diesem Dorf sind unsere Zukunft und sind die Voraussetzung für ein einvernehmliches Zusammenleben. Wir sind keine Barbaren, die sich gegenseitig abschlachten, nur weil die Nasenspitze nicht an der richtigen Stelle sitzt, Barbas.“

„Es sind nur Kinder und ich denke, das wird unser Oberhaupt, die Älteste, genauso sehen. Ich werde sie davon unterrichten.“ Mit ausgestrecktem Finger zeigte er drohend auf Rakna. Sie hatte schon den Mund geöffnet, um etwas zu erwidern, als ihr jemand anderes zuvorkam.

„Ich glaube, ich entscheide selbst, was für mich wichtig ist Barbas, danke ...“ Die Älteste hatte alles aus den hinteren Reihen beobachtet und mitgehört. Rakna war froh, dass sie ihre Meinung teilte, auch wenn sie es für unnötig hielt, dass sie ihr zur Hilfe eilte. Ein kurzer Blick, der eindeutig bedeutete: - misch dich nicht ein - ließ Rakna verstummen.

„Sie hat Recht. Wir sind ein Volk, und das sollten wir nicht vergessen. Die Kinder müssen rechtzeitig lernen, wem ihre Gunst zusteht. Sie sind genauso Teil unseres Volkes. Selbst das kleinste Mitglied, wird mit Respekt behandelt. Rakna ist bald Eure Hauptmännin. Ihr solltet Euch an ihre Art, wie sie die Dinge regelt, gewöhnen. Das gilt für alle!“, dann wandte sie sich direkt an Rakna und sagte leise:

„Beeil dich! Es ist nicht mehr lange bis zur Zeremonie.“ Mit diesen Worten durchquerte sie die Menge und marschierte davon. Barbas schubste seine Tochter brummelnd vor sich her und verließ die Szenerie. Er kochte vor Wut. Das würde noch ein Nachspiel haben, dessen war Rakna sich sicher.

Sie hatte wahnsinnig viel Zeit verloren. Erst die Rettung von Helgi, der Kampf und jetzt die unerwartete Diskussion mit Barbas über seine unredliche Tochter. Sie musste dringend aus den nassen Sachen raus und ihr Festgewand anlegen. Normalerweise wäre das rasch vonstattengegangen, doch da war ihr Mal, was niemand sehen durfte. Kaum, dass sie zu Hause war, zog sie hastig die tropfenden Kleider aus. Sie klebten an ihr und erschwerten es, sie herunterzuziehen. Mit schnellen Bewegungen befreite sie ihr Gesicht und ihre Arme vom geronnenen Blut. Dann nahm sie das Ritualgewand aus dem Schrank. Es bestand aus einer engen braunen Hose, deren Beinaußenseiten grüne Einsätze zierten. Das obere Gewand war ebenfalls aus demselben derben Stoff gewoben. Es war lang und reichte weit über die Hüfte. Oberhalb der Brust waren zusätzliche moosgrüne Applikationen angebracht, welche von der Schulter, bis zur Wirbelsäule rankten. So sah es aus, als ob frische grüne Zweige an ihrem Körper hochwuchsen. Auf Raknas Wunsch war das Gewand am Hals höher geschnitten. Gewöhnlich hatte es keine Ärmel, doch hier hatte Rakna eine Änderung vornehmen lassen. Als sie das Kleidungsstück ausbreitete, um es überzuziehen, entdeckte sie etwas, das ihr Herz still stehen ließ. Für einen Moment verharrte sie reglos und starrte auf den Stoff, den sie in den Händen hielt. Der hoch geschnittene Kragen war von der Näherin des Dorfes einwandfrei angesetzt worden, doch die verlängerten Ärmel fehlten. Sie endeten knapp über der Schulter und als Rakna das Gewand anzog, bedeckte es nicht das gesamte Mal. Die schwarze Zeichnung ragte einen Daumen breit unter dem Gewebe hervor. Ihr wurde schwindelig und sie war sich sicher, dass ihr Gesicht bleich geworden war. Was sie da sah, erschien unglaublich. Schon vor Tagen hatte sie das Gewand anfertigen lassen und war extra zum Abmessen gekommen, was sie sonst vermied. Doch aus Angst, ihr Dämonenmal könnte entdeckt werden, hatte sie dieses Mal eine Ausnahme gemacht. Nur Gudrun, der Näherin, war es erlaubt an Raknas bestehenden Kleidern Maß zu nehmen. Anfangs hatte sie seltsam dreingeschaut, aber schließlich nicht nachgefragt, und ging einfach ihrer Arbeit nach. Nun sah es jedoch so aus, dass Gudrun vergessen hatte, die Ärmel anzunähen. Sie fehlten und in der kurzen Zeit war es nicht möglich, Neue anzubringen. Fieberhaft rannte Rakna zum kleinen Fenster ihrer Hütte und schaute panisch in Richtung Himmel. Die Sonne sank immer tiefer und berührte schon sanft die hohen Baumwipfel. Es blieben ihr nur wenige Augenblicke, um sich etwas einfallen zu lassen. Sie rannte zum Schrank und riss alle ihre Hemden und Blusen aus dem obersten Fach. Hastig durchwühlte sie die durcheinandergeratenen Sachen nach Etwas, was unter Raknas Gewand passte. Irgendwie musste sie die fehlenden Ärmel ausgleichen. Schließlich fand sie eine braune Leinenbluse, die sie vor einigen Jahren zu einer Feierlichkeit getragen hatte. Sie war etwas eng um die Brust geworden, doch sie reichte hoffentlich aus. Warum hatte sie die Näharbeiten nicht kontrolliert. Blind hatte sie vertraut, dass alles in Ordnung sei. All die Jahre war Gudruns Arbeit tadellos. Doch Rakna hätte sich nicht blindlings darauf verlassen dürfen. Irgendwann musste der Tag kommen, an dem es nicht passte. Aber warum passierte es ausgerechnet an dem Tag der Verleihung des Ehrentitels? Die finsteren Gedanken, die in ihr aufkamen, erleichterten es nicht. Sie musste sich schnell entscheiden, denn ihr Haar war vom Schwimmen zerzaust und es dauerte nicht mehr lange, bis Helgi kam, um ihr eine Frisur zu flechten. Bis dahin lag es an ihr, sich umzuziehen und zu kämmen. Sie überschlug sich fast, als sie in ihre Hose schlüpfte und die Bluse überwarf. Sie war vor Langem zu klein geworden, doch ihr blieb nichts anderes übrig und sie musste damit vorliebnehmen. Jetzt war da nur noch die traditionelle Tunika zum Überziehen, um den Anforderungen des Rituals gerecht zu werden. Nun trug sie die doppelte Schicht an Kleidung. Das Provisorium reicht nur knapp über das Mal. Aber es war verdeckt. Rakna durfte nicht vergessen vorsichtig zu sein, dann würde nichts geschehen.

Kaum, dass sie ihre Kleidung angezogen hatte, klopfte es bereits an der Tür. Helgi, dachte sie. Ihr Bauch war halb zu sehen, als sie die Tür aufriss. Sie setzte schon an, auf das kleine Mädchen einzureden, als Rakna erschrocken feststellte, dass nicht sie vor der Tür stand, sondern ein großer, braungebrannter Mann. Sein dunkles Haar war frisch geschnitten und deshalb kurz. Mit verwundertem, aber amüsierten Blick, wanderten jene braunen Augen an Raknas Taille entlang, nach oben. Ein leichtes Lächeln zuckte über das Gesicht und offenbarte all seinen Charme. Hastig zupfte sie ihre Garderobe zurecht und begrüßte ihren unerwarteten Gast.

„Hallo Dior, ich hatte nicht mit dir gerechnet.“

„Das habe ich gesehen, hast du etwas dagegen, wenn ich rein komme?“

Rakna war zwar in Eile, doch Diors kurzfristiges Auftauchen hatte ihre Neugier geweckt und so bat sie ihn, mit einem Wink, herein.

„Bitte mach es kurz. Ich habe keine Zeit.“

„Ja natürlich, heute ist ja dein großer Tag. Ich bin eigentlich nur hier, um dir meine besten Wünsche auszusprechen.“ Seine Worte weckten in Rakna Skepsis. Nach all den Jahren kam er ausgerechnet an diesem Tag auf sie zu? Sie wusste, es gab noch einen anderen Grund, warum er zu ihr gekommen war. Trotz ihres Misstrauens sagte sie freundlich:

„Ich danke dir, Dior. Das ist wirklich aufmerksam von dir!“ Sie beobachtete jede seiner Regungen und sah, dass da tatsächlich noch etwas anderes dahinter steckte. Er hatte den Blick gesenkt und kaute unablässig auf seiner Lippe. Die Hand hielt er verlegen im Nacken, als ob ihm etwas unangenehm sei. Rakna sagte nichts, sie wartete ab. Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder zu sprechen begann.

„Da ist noch was. Wir Beide waren uns vor einiger Zeit nah und ich weiß, dass du mein Werben abgelehnt hast. Ich glaube, der Grund dafür war, dass du mir nicht vertraust. Doch ich wollte dir trotzdem sagen ... na ja, ich bin immer noch interessiert an dir.“ Er sah verschmitzt auf, um ihre Reaktion auf seine Worte zu sehen. Rakna verzog keine Miene und antwortete nicht. Sie wusste ohnehin nicht, was sie darauf erwidern sollte. Deshalb sprach er schließlich weiter.

„Ich weiß, das kommt jetzt etwas plötzlich, aber ich wollte, dass du es weißt. Vielleicht denkst du ja nochmal darüber nach.“ Es war unglaublich, was sie da hörte. Nach allem, was sie von Martha erfahren hatte, war dies das Letzte, was sie erwartet hätte. Damals hatte sie Dior wirklich gemocht, doch er konnte ihr Vertrauen nicht gewinnen und in den vergangenen Mondzyklen hatte sich das nicht geändert. Wieder klopfte es an der Tür und Helgi stürmte herein, ohne eine Antwort abzuwarten. Beim Anblick der Beiden blieb sie wie angewurzelt stehen. Erschrocken schaute sie von Einem zum Anderen. Rakna spürte, wie sie errötete. Bevor sie etwas sagen konnte, ergriff der nervöse Dior wieder das Wort.

„Also, ich geh dann mal. Denk darüber nach, was ich dir gesagt habe.“ Somit verließ er die Hütte, durch die hölzerne Tür und schloss sie geräuschlos hinter sich.

„Was wollte er von dir?“, platze es aus Helgi heraus, während sie dem jungen Mann nachschaute.

„Er hat über alte Zeiten geredet, nichts Wichtiges. Beeilen wir uns. Ich möchte zu meiner eigenen Zeremonie nicht zu spät kommen. Außerdem bringt mich Martha um, wenn wegen mir ihre Hochzeit verschoben wird.“ Sie lächelte das Kind an, die zurückstrahlte. Das kleine Mädchen hatte ausgesprochenes Talent. Mit flinken Fingern entstand ein makellos geflochtener Zopf. Helgi drapierte ihn so auf dem Kopf, dass er von einem Ohr, bis zum Anderen reichte. Das restliche Haar kämmte sie am Hinterhaupt zu einem eleganten hohen Pferdeschwanz. Raknas Pony fiel in sanften Locken über die Augen und umrahmte ihr Gesicht schemenhaft. Ihr gefiel Helgis Arbeit. Noch nie hatte sie so eine fein gearbeitete Frisur getragen. Da sie von ihrem Vater alleine groß gezogen wurde, hatte sie das Flechten nie gelernt und ehrlich gesagt, hatte sie auch kein Interesse daran gezeigt. Sie nahm sich fest vor, es sich von Helgi zeigen zu lassen. Ihr Blick schweifte durchs Zimmer. Auf der schmalen Kommode, im hinteren Teil des Raumes, erblickte Rakna den Ring, den Lynthriell ihr vor so vielen Monden geschenkt hatte. Sie durchquerte mit schnellen Schritten das Langhaus, um ihn anzustecken. Am Mittelfinger passte er perfekt. Die Sonne war schon fast hinter den Bäumen verschwunden. Es wurde höchste Zeit sich auf den Weg zu begeben. Mit der letzten Abendsonne erhielt sie ihren Ehrentitel. Sie konnte ihr Glück noch immer nicht fassen.

Zusammen spurteten Helgi und Rakna zum Langhaus der Ältesten. Thorgard wartete bereits vor dem Haus auf sie. Die zerfurchte Frau trug ein ähnliches Gewand wie Rakna, nur ohne die Bluse, welche Raknas Schultern provisorisch verdeckte. Die Arme und das Gesicht ihrer Anführerin waren überdeckt mit Kriegsbemalungen, die sie ehrwürdig wirken ließen. Thorgard lächelte großmütterlich und zog Rakna in eine Umarmung. Dann führte die Älteste sie an den angesehensten und mächtigsten Männern und Frauen des Dorfes vorbei, die rechts und links am Wegesrand standen, um ihr die Ehre zu erweisen. Auch Barbas war unter den Reihen. Er schaute grimmig drein, doch Rakna kümmerte es nicht. Rakna und Thorgard betraten als Erstes den mit Blumen geschmückten Raum. Hier und da sah man große Kerzen, die ihr warmes Licht an den Wänden verbreiteten. An jeder Ecke wehten Spruchbänder und das Wappen des Dorfes, welches aus drei weisen Bären auf blauem Grund bestand. Die Bemalungen auf den Fensterläden erzählten die Geschichte von vergangenen Zeiten. Während sich die anderen Bürger auf die bereitgestellten Stühle setzten und die Chorgesänge anstimmten, führte Thorgard Rakna in das Hinterzimmer, in welchem das Ritual stattfand. Die tiefen Stimmen des Menschenchores waren hier laut zu hören und verursachten einen Schauer, der Rakna eiskalt über den Rücken lief. Der Gesang wirkte mysteriös und ehrend zugleich. Erik und Peadair standen zur Rechten und zur Linken Spalier, um Rakna ihre Ehre zu erbieten. Sie stellten das kupferne Becken für die traditionelle Waschung bereit. Es war mit klarem Wasser gefüllt. Daneben, in einer bescheidenen hölzernen Schale, befand sich das Blut, eines geschlachteten Rindes, welches anschließend von allen gemeinsam verspeist werden würde. Mit diesem Lebenssaft des Tieres malte die Älteste Zeichen auf Raknas Haut, die für Sieg und Kampfgeist standen. In Rakna stieg die Anspannung, denn der Moment war gekommen. Mit einem kurzen Winken ihrer Hand gab Thorgard den Männern zu verstehen, sie allein zu lassen. Ohne ein Wort marschierten diese nach draußen. Lächelnd erhob die Älteste ein reich verziertes Schwert, das Rakna aus Schriften und Zeichnungen der Dorfgeschichte kannte. Es war die Waffe, die vor hundert Sommern, lange vor Raknas Geburt, den Sieg in der bedeutendsten Schlacht erbrachte. Geführt von dem ehrenwertesten Mann der Geschichte! Er opferte sein eigenes Leben, um das Dorf mit dem letzten Schwerthieb zu schützen. Damit tötete er den damals herrschenden Fürsten, der von einer schrecklichen Tobsucht ergriffen wurde. Hiermit zerstörte er alles Bestehende, was die grausame Herrschaft des Fürsten über ihr Volk gebracht hatte. Rakna durfte nie zuvor dieses kostbare Schwert aus der Nähe sehen. Es wurde von Oberhaupt zu Oberhaupt weiter gegeben, um der schweren Zeiten zu gedenken. Im Griff glitzerten, von Gold und Silber eingefasst, blaue Aquamarine, in der Farbe des Wappens. Am Schaft, genau an der Stelle wo das Heft zur Klinge überging, prangte ein großer, zottiger Bärenkopf, aus purem Gold. Selbst die breite Schneide war mit güldenen Mustern versehen. Es war das schönste und wertvollste Schwert, das Rakna jemals gesehen hatte. Die eisernen Waffen, mit denen sie übte und kämpfte, waren lachhaft gegen dieses Schmuckstück. Die Älteste nahm Raknas Hände in die Ihrigen und gemeinsam umschlossen sie den Schaft des Schwertes. Dann stimmte sie den feierlichen Sprechgesang an.

„Schwörst du, Rakna Wolfshaut, dass du dein Dorf schützen wirst, was immer es bedroht?“

„Ich schwöre es.“

„Und gelobst du, all seine Bürger bis zu dem eigenen Tode zu verteidigen, ob Frau, Kind, Mann oder Wache?“

„Ich gelobe es.“

„So soll es sein!“ Damit träufelte sie einige Tropfen auf Raknas Hände und Stirn. Dann nahm sie die hölzerne Schale und begann, von den Wangen abwärts, zwei rote blutige Streifen zu zeichnen. Immer wieder sprach die Älteste ihren Reim, während sie die Arme mit dem Blut bestrich.

„Hiermit wirst du zur Kriegerin, würdig die Stadt zu beschützen. Was ist das?“ Plötzlich hielt sie für einen Moment wie versteinert inne. Ihre Augen starrten auf eine Stelle oberhalb Raknas Arms und ihr Blick versteinerte. Sie zog am Ärmel der Bluse und schlug sie zurück. Rakna durchzog ein schmerzhafter Blitz und kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Sie hatte das Mal entdeckt!

„Ich erkläre alles, Thorgard!“ Doch es war zu spät.

„Verräterin!“, rief die Alte und zeigte mit ausgestrecktem Finger, auf die vor Schreck blass gewordene, Rakna.

„Bitte..! Hört mich an!“ Mit erhobenen Händen stolperte Rakna schützend einige Schritte rückwärts. Sie vernahm, wie Stühle vor der Tür zur Seite geschoben wurden. Sicher hatten die Anderen das Geschrei gehört und sahen nun nach dem Rechten.

„Ich lasse niemanden sprechen, der das Mal des Bösen trägt.“ Die Älteste hob drohend das Schwert gegen Rakna und sprach verbittert weiter.

„Du wagst es, uns zu betrügen. Und ich hätte dich beinahe zum Oberhaupt der Wache gekürt! Was führst du im Schilde, Teufelin?“ Rakna ließ alle Vorsicht fahren und hatte mit schnellen Schritten das Zimmer durchquert. Mit einem Satz sprang sie aus dem weit geöffneten Fenster. Unbewaffnet und mit nackter Angst im Nacken schmiss sie die Fensterläden zu und verschloss den Riegel von außen. Warum hatte sie sich nicht besser auf diesen Abend vorbereitet? So leise es ihr möglich war, schlich sie geduckt durch die Büsche. Hinter sich hörte sie das laute Hämmern und Schreien der Alten. Im Garten war niemand zu sehen. Dennoch gab sie acht, verborgen zu bleiben, denn die anderen Fenster waren weit geöffnet und helles Licht strömte aus dem Inneren heraus. Behutsam lief sie vorwärts und versuchte auf ihrem Weg nicht entdeckt zu werden. Immer wieder drehte sie sich um, um sicher zu gehen, dass ihr niemand folgte. Während Rakna Ausschau hielt, bemerkte sie, nicht weit vor sich, eine Bewegung. Jemand schlich sich an sie heran. War sie entdeckt worden? Sie hockte sich hin und blieb regungslos. Ihr stockte der Atem, während sie wartete. Der Verfolger trat mit erhobenem Schwert aus dem Gebüsch hervor. Es war Dior! Das war ihr Ende. Rakna war sich sicher, dass er sie an die Älteste verriet. Sie hob die Hände, um zu zeigen, dass sie unbewaffnet war. Doch das würde ihr nichts nützen. Aber dann ließ er, zu ihrer großen Überraschung, seine Waffe sinken. Stattdessen trat er zur Seite und sagte:

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9783752908428
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