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Er hatte einen Kaffee am Bahnhofsbuffet in Passau getrunken und eine Buttersemmel mit Käse gegessen, bevor er Mara anrief. Maras Stimme wird er für immer im Ohr haben: Ich kann es dir nicht sagen, ich kann es dir nicht sagen. Nun sag schon endlich, was ist – hatte er in die Telefonmuschel geschrien. Und wusste doch schon alles.

Als hätte er etwas versäumt, als müsste er etwas suchen, rannte Jul aus dem Hotel hinaus und durch die verwinkelten Gangliengassen die Salita della Madonna dei Greci hinauf, über die Scaletta Gubernante, hörte am helllichten Sonnenwerktag singende Frauenstimmen aus der Kirche und schlappte an Arbeitern vorbei, die oben auf dem bischöflichen Hügel den Tuffstein an den Mauern der Kathedrale sauberkratzten. Er stieg über die weitgeschwungenen Steinstufen zum Hauptportal hinauf. Es war verschlossen, und so drehte er dem Dom wieder den Rücken zu, ja, er schwenkte seine Arme wie Flügel, weit und breit kein Tourist, kein Passant. Zwischen den Hausdächern blitzte das Meeresblau auf, und rechter Hand sah er tief unten das von Straßenbändern durchzogene Hügelland, Flecken von gedämpftem Mandelbaumgrün, auch Olivenhaine und Weinäcker, vor allem aber die graubraunen, viereckigen Flächen der abgeernteten Weizenfelder. Wo immer er Dörfer ausmachte, waren sie an Hügelhänge oder an die Flanke eines Bergrückens hingeduckt. Bist du mit deinem Leben zufrieden? hatte er unvermittelt Zia Delia gefragt. Wie oder was hätte sie darauf antworten sollen? Sie zuckte die Schultern, drehte ihre nach oben gerichteten Handflächen hin und her. Hab keine Wahl, sagte sie mit erstaunten (oder erschrockenen?) blaugrauen Augen, und er hatte sie zu verstehen geglaubt: Hab nie viel auswählen können. Ihr Mann habe immer jede Wahl gehabt, mehr als genug Frauen und Mädchen, sagte sie und schüttelte ihre hochgehobene Hand.

Mehrmals umrundete Jul die Piazza Don Giovanni Minzoni unterhalb der Kathedrale, trank in der Bar „Duomo“ einen Campari, den der Bruder des Barkeepers erst aus dem Magazin-Verschlag vom Hinterhof holen musste. Langsam, als könnte er so den latenten Druck in seinem Kopf wenigstens im Gleichgewicht halten, schlug Jul dann (mit gerecktem Oberkörper) den Vicolo Seminario hinunter zum Stadtzentrum ein, es wäre auch die Richtung zum Meer gewesen. Vor einem einst wohl häufig aufgesuchten Ladeneingang blieb er stehen: Eine verrammelte Holztür, die bräunlichrote Farbe in winzigen Äderungen zersprungen, blätterte ab, an der Mauer links von der Tür konnte er auf einem verrosteten Blech noch „burro naturale“ entziffern. Als er von dem Vicolo Seminario in die Via Lo Cicero einbog, mit diesem ungebremsten Abwärtsschritt, erschrak er – fast wäre er auf eine kauernde Männergestalt aufgelaufen. Vor einem dieser links und rechts sich immer wieder einmal öffnenden kleinen Hinterhöfe, eigentlich Vorhöfe (cortili), mit oft mehr als einem Stiegenaufgang, also halb auf der Gasse, halb schon innerhalb eines solchen cortile (c. Balletti oder cortile Aranciario), blickte er auf einen gekrümmten Männerrücken, und erst im zweiten Moment begriff er, dass ein schwarzstoppeliger, eher junger Mann über einer Katze kniete. Nach einem flüchtigen Blick wollte Jul schnell vorbei, aber da wandte sich der Fremde ihm zu und hob ihm sogar die Katze entgegen: Verletzt, si è fatto male, sagte er in gutem Italienisch, nicht im Dialekt, auch wenn die Aussprache ihn als Sizilianer auswies. Als ob er ihn als Zeugen erwartet hätte, führte er Jul vor, wie schlecht es der Katze ging, genauer einem Kätzchen, das Jul auf zwei oder drei Monate schätzte. Das Tier zog eine Hinterpfote schlapp über das Pflaster, konnte er deutlich erkennen, aber der junge Sizilianer wollte ihn die Verletzung noch genauer sehen lassen, reckte ihm das braunweiß gefleckte Kätzchen mit einer Hand entgegen, und da sah Jul die Bisswunde, eigentlich die Abbisswunde: Am rechten Hinterbein fehlte die Pfote. Eine Kanalratte vielleicht, kaum ein Hundebiss, meinte der Schwarzstoppelige mit strengem Ernst im Gesicht. In diesem Moment hörte Jul sich reden, sah geradezu, wie er sich an die Stirn griff, weil er so Unwichtiges daherredete: Er sei ein Katzenliebhaber, sagte er, habe jahrelang eine Siamkatze bei sich gehabt, hier freilich sei er ein Fremder, rief er aus und hob die Arme, er kenne in dieser Stadt keinen Veterinär. Da streckte ihm der junge Mann die katzenfreie Hand hin und stellte sich vor: Angelo. Diese Katze müsste zu einem Tierarzt gebracht werden, sagte Jul. Und Angelo, der eine rostighelle Lederjacke trug, nickte zustimmend, andiamo! forderte er sich, die Katze und Jul auf, als ob sie sich nicht zufällig, sondern fix verabredet in dieser Via Lo Cicero getroffen hätten. Aber sie gingen nicht zu einem Veterinär, und vielleicht gab es in dieser Stadt auch keine Tierklinik, immerhin trug Angelo die Katze behutsam an seiner Brust und achtete nicht einmal auf die Blutflecken, die seine Lederjacke abbekam. Am Ende der Gasse überquerten sie die Via Atenea und stapften die abschüssige Via Bagli hinunter, wobei Jul immer wieder den Meereshorizont hinter der einen oder anderen Biegung in den Blick bekam. Der Platz, von dem eine enge Betontreppe zu Angelos Behausung hinaufführte, war auf einer Seite flankiert von vielstöckigen Büro- und Wohntürmen und auf der anderen Seite von einer Kirche mit Glockenturm. Vor seiner Wohnungstür angekommen, reichte Angelo ihm die Katze. Und dann stand Jul mit dem verletzten Tier in den Händen in einem Maleratelier und sah von einem Fenster auf diesen Parkplatz mit Tankstelle hinunter. Während er Angelo half, die Bisswunde, also die Amputationsstelle, zu versorgen (Angelo goss eine Desinfektionsflüssigkeit darüber, Jul hielt die Katze fest umklammert, bis sie, vielfach bandagiert, in eine Kartonschachtel gelegt wurde, die Angelo mit einem Pullover ausgelegt hatte), blickte Jul, ob er wollte oder nicht, auf großflächige Ölbilder, auf Schiffskiele, die in popartiger Ausführung bis auf Handbreite aufeinander zuzustreben schienen. Es war nicht so, dass Angelo ihm seine Arbeiten vorgeführt hätte. Im Gegenteil, er stand nicht neben ihm, lehnte auch nicht an einer Wand und wies ihn nicht auf dieses oder jenes Detail hin. Nein, er winkte ihm zu folgen und führte ihn über eine winkelige Stiege auf eine kleine Dachterrasse über dem Atelier und genoss sichtlich Juls Staunen über den großartigen Ausblick. Tatsächlich glaubte Jul das Meer zu seinen Füßen zu haben, so prall leuchtete das Blau des Wassers bis zum Horizont. Unter sich sah er freilich auch die Tankstelle, davor die daran vorbeiziehende Via Empedocle und direkt unter dieser Straße Zuggeleise, dahinter eine Häuserkulisse, die aber den Meereshorizont nicht zu verdecken vermochte.

Angelo bot ihm ein Glas Rotwein an aus einer grünen Gallonenflasche. Und sie begannen zu reden. Tranken und redeten mitten am Tag, redeten über alles, auch über Angelos Vater, den er früh verloren habe, aber von dem er wusste, dass er dort oben im Norden, in diesem Alto Adige, seine Rekrutenzeit verbracht und sich verliebt hatte in eine Südtirolerin (una ragazza tedesca). Seine Geschichte ist auch meine Geschichte, murmelte Angelo, wenigstens soweit sie seinen Vater zu einem glücklichen oder zu einem unglücklichen Menschen gemacht habe.

Dobbiamo vederci quanto possibile – hatte Angelo irgendwann am Nachmittag gesagt. Und Jul versprach ihn anzurufen. Aber er wusste schon in diesem Moment, dass es zumindest halb gelogen war.

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Natürlich wusste Mara bereits (wie vermutlich viele seiner Freunde in der Garage), dass er verheiratet und noch nicht geschieden war, er selbst hatte es ihr auf dem Spaziergang erzählt, als er den Ring seiner Mutter in den Bach warf. Und später in Rom hatten sie lange darüber geredet, während das erste Frühlingsgewitter, das sie gemeinsam erlebten, sich mit Blitz und Donner über der Stadt entlud; vom Bett aus sahen sie durch die offene Mansardentür, wie die dicken Regentropfen auf den Fliesen der Terrasse aufsprangen und zerplatzten. Er war schon fast drei Jahre von seiner Frau getrennt, hatte sich aber in all dieser Zeit nie ernsthaft Gedanken über eine Scheidung gemacht. Es war früher Nachmittag, als Mara und er dem Regentrommeln in Rom zuhörten, und Jul schwor sich wortlos, diese Nähe mit Mara für immer zu bewahren.

Mein Vater erzählte gerne, aber welche Geschichten? fragte Mara sich selbst in diesem römischen Hotelzimmer. Besonders erinnerte sie sich, dass er vom Krieg erzählte, und zwar vom Krieg in Albanien, doch sogar davon war ihr nur seine oft wiederholte Beschreibung der kahlen Berge in Erinnerung geblieben. Er wollte immer, sagte sie, dass ich Tänzerin würde, ich war noch sehr klein und durfte auf seinem Schoß sitzen, ich wollte ihn nicht enttäuschen und tanzte auf dem grauen Teppich in der Stube, bis ich schwindlig wurde und hinfiel. Später malte ich Bilder für ihn, er legte sie in eine Schublade, und als er starb, gab mir Mutter einige davon, und ich habe sie verloren.

Mara und Jul gingen nicht tanzen, das heißt, sie gingen nie auf einen Ball oder in ein Night, aber sie tanzten miteinander auf dem gemeindeeigenen Wiesenstück gegenüber dem väterlichen Ferienhaus. Sie tanzten auf dem Kirchweihfest im Juni, auf der Bretterbühne und zu den üblichen Schlagerschnulzen, deutschen Marsch- und Foxtrottrhythmen. Nein, sie gingen nie am Abend aus, um zu tanzen. Obwohl sie viel getanzt haben auf ihre Weise, wollte ihm scheinen, sogar wenn sie sich stocksteif gegenübersaßen und nichts als redeten.

Mara erzählte gerne von ihrer Kindheit, vom Leben in den Wäldern und auf den Wiesen rund um das Landhaus, aber sie erzählte auch gerne von den frühen Jahren in der Stadt, zuerst in dem villenartigen Haus hinter dem Corso d’Italia, an einem schmalen Wiesenkanal gelegen, in den sie ihre Füße hineintauchen konnte, an dem sie und ihr jüngerer Bruder Mühlen bauten und Bootsanlegestellen und in den sie einmal hineingerutscht und beinahe darin ertrunken wäre; dieser Stadtbach durchquerte kaum fünfzig Meter hinter dem Corso damals noch Wiesen mit Kirschbäumen und Weinpergeln. Nicht weit davon entfernt hatte ihr Vater eine ganze Häuserzeile errichten lassen, eine solide Miethäuserfront. Und das erste Haus davon stand, als es fertig war, für eine längere Zeitspanne beinahe idyllisch allein da; auf den Weinäckern an seiner Rückseite wurden im Frühherbst noch Trauben geerntet, während die Frontseite auf einen weiten, noch unasphaltierten Platz sah, den zwei protzige Gebäude aus der Faschistenzeit flankierten (mit breit angelegten Treppenaufgängen): der Justizpalast und das Finanzamt. Ich ging in die erste Klasse der Mittelschule, als wir von der Villa am Bach in das Haus am Gerichtsplatz zogen, erinnerte sich Mara. Links und rechts ihres Hauses sei noch an den anderen (vom Vater finanzierten) Häusern gebaut worden. Wir Kinder lebten zwischen Baustellen, es gab große Erdhügel, auf denen wir kurvige Bahnen für Murmeln anlegten, und auf der damals noch nicht geteerten, sondern mit weißem Splitterkies bedeckten Piazza spielten wir den Giro d’Italia nach. Der große, weite Platz sei für sie und für ihren jüngeren Bruder aber nicht nur Spielplatz, sondern im buchstäblichen Sinn auch ein Schauplatz gewesen, so etwas wie eine Kino- oder Theaterbühne, auf die sie vom Küchenfenster des dritten Stockes in schulfreien Stunden hinuntergeschaut hätten, zum Beispiel am Sonntag, wenn die Erwachsenen auf dem Kies „tamburello“ spielten, eine Art Schlagballspiel.

Später, sagte Mara, als aus der Piazza ein Parkplatz geworden sei, habe sie oft gegen Abend am Küchenfenster sitzend auf das Auftauchen von Vaters Auto gewartet. Immer wieder einmal habe sie mit ihrem Bruder Carmine die Autos gezählt, die vom Corso zum Gerichtsplatz einbogen. Und sie hätten gewettet, wer der Anzahl von Autos am nächsten käme, die innerhalb von einer oder von zwei bis drei Minuten auf den Parkplatz einfahren würden. Es war immer am Abend (er sah Maras Lächeln noch jetzt im Erinnern), und wir dachten nur an Vater und fragten uns, ob er jetzt oder in fünf Minuten oder wann endlich er mit seinem Fiat in den Platz einböge. Er war ja viel unterwegs, aber am Freitagabend kam er immer von Bruneck nach Hause, in Bruneck hatte er nach dem Krieg eine Kanzlei in der rötlichbraun getäfelten Stube unserer Großmutter, seiner Schwiegermutter, eingerichtet. Das Erste, was wir sahen, wenn er aus dem Auto stieg, war seine dicke, schwarze Aktentasche, die er aus der Tür hinausreckte, dann erst tauchte vorsichtig seine Stirnglatze auf, die weißseidigen Haare. Carmine rannte das Stiegenhaus hinunter, um Papà die Aktentasche abzunehmen, aber viel an Papier war darin nie, eher etwas zum Essen, oft ein großes Stück Speck, das er von einem bäuerlichen Klienten bekommen hatte. Wenn er guter Laune gewesen sei, habe Papà nach dem Abendessen meistens etwas erzählt, Carmine habe die Pantoffeln geholt und ihm die Straßenschuhe von den Füßen gezogen, und sie, Mara und Carmine, hätten links und rechts des grüngepolsterten Sessels sitzen dürfen, aber auf diesem Polstersessel sei Vater leider schnell müde geworden und eingeschlafen. Wir Kinder durften dann im Wohnzimmer nur mehr auf Zehenspitzen gehen, hatte Mara sich nicht nur im Hotelzimmer in Rom erinnert, sondern ihm auch noch später mehrmals erzählt: Mama ließ uns dort nicht einmal lesen oder die Schulaufgaben machen, ich habe noch heute Papàs Schnarchen nach dem Essen im Ohr.

Wirklich fröhlich sei Vater ausnahmslos an Sonntagen und Feiertagen gewesen, da habe Mama ja besonders üppig und köstlich gekocht, rotoli alla siciliana zum Beispiel, und dazu habe Papà meistens Freunde eingeladen. Wir Kinder, zürnte (im Nachhinein) Mara, auch wenn vergebungsvoll, durften dann aber am Tisch nicht dabei sein, wir hörten sie nur hinter der Wand kreischen, schreien, diskutieren, und sie aßen sehr lange und sehr viel.

An gewöhnlichen Tagen jedoch sei Vater oft müde und dann ein ganz anderer gewesen. Schon wenn Geringfügiges am Gewohnten gefehlt habe, sei er außer sich geraten. Nun ja, er habe Gemüse geliebt, habe Knoblauch sogar am liebsten zehenweise in den Mund geschoben, gekaut und geschluckt, besonders gerne habe er coste gegessen, weißgrünes Rippenmangold, in Wasser mit Knoblauch gesotten. Wehe aber, sagte Mara, es war einmal nicht richtig gesalzen oder nicht mit dem richtigen kleinen Maß Olivenöl angemacht, da konnte er jäh explodieren: Er kippte den Teller, schüttete alles auf den Boden, auf den Teppich des Speisezimmers. Ähnlich sei es mit seinem Pfeifenbesteck gewesen (dafür sei sie zuständig gewesen, nicht Carmine, betonte Mara fast noch mit Stolz), wenn diese läppische Nettapipa einmal nirgends zu finden gewesen sei, da habe Papà augenblicklich die Nerven verloren. Und dann sei dieses Zeug doch immer wieder unter seinen Papieren im Studiozimmer gelegen. Aber wir wussten ja auch, sagte Mara, dass es weder die zu wenig gesalzenen Mangoldstängel noch die verlegten Pfeifenbürsten waren, sondern irgendetwas uns Unbekanntes, das der Vater am liebsten auf den Teppich hingeschüttet hätte, um darauf herumzutrampeln. Anderseits, gab Mara zu bedenken, hielt Vater uns Kindern keine Predigten, dafür war Mama zuständig, aber er kümmerte sich sehr um unsere Ausbildung, hielt sich auf dem Laufenden, wie es in der Schule ging. Uns erzählte Mutter, dass sie im Krieg, als Vater unter anderem auch für die Ausspeisung in den Schulen zuständig war, immer mit den wenigen zugeteilten Lebensmittelkarten habe auskommen müssen; oft sei zu Hause keine Butter mehr gewesen, trotzdem habe Papà, der viele Lebensmittellager zu verwalten hatte, nie ein Stück mitgenommen und der Familie gebracht.

Er war auch nicht außerordentlich eitel, meinte Mara, allerdings legte er Wert darauf, gut gekleidet zu sein, er ging zum Schneider, weil er klein und dick war, und er kaufte auch den Stoff jeweils selbst. Und so wie er nur maßgeschneiderte Anzüge trug, ließ er sich die Schuhe von einem Schuster in Bruneck anfertigen, er freute sich über Solides. Leider, sagte Mara, rauchte mein Vater sehr viel, sie habe ihn oft in der Früh husten gehört, sei beinahe regelmäßig gegen fünf aufgewacht, weil er draußen auf dem Wohnungsflur gehustet habe, ein tiefes, röchelndes Husten.

21

Maras Vater kam aus Agrigent in dieses deutschsprachige, seltsame Bergland Südtirol, das die Faschisten (wie schon Napoleon) Alto Adige nannten – Oberetschland. Dieses österreichische Alpengebiet sollte nach Mussolinis Willen schnell italianisiert werden, möglichst von heute auf morgen. Maras Vater kam als Vizefederale, war Centurione (bei Kriegsende General), verantwortlich für die Jugend, die oberste Autorität für Erzieher, vor allem für Turnlehrer, er war für nichts weniger als für die Faschisisierung der Kinder und Jugendlichen zuständig: Die Italianisierung der Südtiroler Zukunft hatte er zu erledigen. Wenn er erfolgreich sein wollte, musste ihm die Verwandlung von (verschiedenartigen) tirolischen Dialekt sprechenden Berg- und Talkindern in italienisch parlierende Faschisten glücken.

Caetano de Pasqua war als Halbwaise herangewachsen, eine von sechs Halbwaisen, die sein Vater zurückgelassen hatte, als er achtundvierzigjährig an Nierenversagen starb. Keine arme Familie, in der Maras Vater mit zwei Schwestern und drei Brüdern groß wurde. Sein Vater hatte das Kapitänspatent der Handelsschifffahrt erworben, war auch Mitbegründer einer Bank und schließlich Direktor an dem hochangesehenen Istituto Tecnico seiner Heimatstadt. Nein, keine arme Familie.

Maras Vater trug, als er nach Bozen kam, den damals so bewunderten Streifen, der die Rom-Marschierer ehrenvoll kennzeichnete, auf dem Ärmel seiner imposanten schwarzen Uniformjacke. Er war einer der jüngsten faschistischen Gauleiter, mit vierundzwanzig Jahren hatte er bereits als Federale in seiner Geburtsstadt Agrigento Befehlsgewalt. Auf einem Foto, das Mara nach seinem Tod von der Mutter gezeigt bekam, sah sie einen kleinen, gertenschlanken jungen Mann, der vor einer auf zwanzigtausend Köpfe geschätzten Menschenmenge sprach, in der Stadt, in der er nur wenige Jahre zuvor noch in die Oberschule gegangen war.

Dass Maras Vater auch Natalies Großvater war – dieser Gedanke hatte Jul nie beschäftigt. Als Natalie geboren wurde, ein Kilo sechzig leicht, war Fasching, eigentlich noch Winter, aber über den Talferwiesen strahlte ein blitzblauer Vorfrühlingshimmel. Ein Engerling war sie, eine überdimensionale Schmetterlingspuppe in einem Terrarium ohne Erde, aber aus Glas. Jul konnte mit hautdünnen Gummihandschuhen durch zwei runde Löcher in den Brutkasten hineingreifen und Natalie berühren.

Dass auch Maras Vater sie hätte berühren dürfen, und sei’s mit Gummihandschuhen wie er, das war Jul über all die Jahre nie in den Sinn gekommen. Erst recht nicht damals in Rom (wie hätte es anders auch sein können), als Mara und er auf umgestürzten, im Gras liegenden Säulensegmenten des Forum Romanum hockten, im Blick großflächige Akanthusblätter, das warme Märzblau des südlichen Himmels und den Vesta-Tempel, und dann doch wieder weiterlasen in dem Buch über die Arbeitskämpfe in den Turiner Fiatwerken. Mara hatte kurzes, aber dichtes, dunkelbraunes Haar, das sie gerne hinter das linke oder rechte Ohr strich, sie war fast knabenhaft schlank. Wenn sie sich berührten, machten sie es wie Verschwörer, als könnten sie damit jemandem einen Streich spielen.

22

Wann immer Mara nun an Wochenenden nach Bozen kam, fuhren sie in die Wälder um den Montiggler See, wanderten auf den Traktorwegen der Weinäcker, saßen auf nachmittäglich heißen Gasthofterrassen unter Weinlauben. Sie kauten Speck und Käse, tranken Kalterer oder Magdalener oder Lagreindunkel. Er redete mit Mara italienisch, weil sie für ihn eine Italienerin war. Auch wenn sein Italienisch wohl hölzern klang, mit deutschem Akzent. Aber er liebte Maras italienisches Reden wie eine Geheimsprache, die ihre gemeinsame Nähe nach außen absicherte.

Was ihn verwunderte und irgendwann auch ärgerte, war, dass ihre deutsche Südtiroler Mutter auch italienisch mit ihr sprach, nicht viel weniger hölzern als er und ebenso mit diesem deutschen (Crucco-)Akzent. Denn Mara konnte Deutsch sprechen, lesen und schreiben, ihr sizilianischer Vater hatte sie als einzige seiner Kinder in eine deutsche Volksschule geschickt. Trotzdem redeten ihre Mutter und auch Jul italienisch mit Mara – die Mutter vielleicht aus einer Art Treue zu ihrem Mann, während Jul glaubte, dass Maras Gedanken und Gefühlswelt durch und durch italienisch sein müssten, möglicherweise, weil er sie zuerst nur Italienisch reden gehört und überhaupt unter Italienern kennengelernt hatte. Tatsächlich war Maras Deutsch anfangs vielfach ein italienisches Deutsch. Sie übersetzte spontan italienische Denkweise zu wörtlich ins Deutsche und beging auch entsprechende kleine grammatikalische Sünden, von denen sie einige nie endgültig ausmerzen sollte. Aber für Jul waren diese Sprachabweichungen oder Redeeigenheiten (Mara sagte zum Beispiel, wenn sie vom Ehemann einer Frau sprach, statt ihr Mann immer wieder einmal sein Mann) von einem besonderen, fast exotischen Reiz, sofern sie überhaupt deutsch miteinander sprachen, was in der ersten Zeit selten geschah, und wenn, war es wie Ballspielen, auch eine Art Liebesspiel oder der wechselseitige Versuch, hinter die Grenze des anderen zu gelangen, einzudringen in das Andere, in das abenteuerliche Unbekannte. Er liebte an Mara die Fremde oder überhaupt das Fremde.

Und so wanderten sie, Italienisch sprechend, auch durch ihren ersten Mai, der kühl war zu Füßen des Skiberges und windig, aber für Stunden, wenn die Sonne durchbrach, öffneten sich die Löwenzahnblüten, und die leicht geneigten oder welligen Wiesen verwandelten sich in wogendes Gelb. Es war schön, aufwärts dem Waldgrün entgegenzugehen, dann den Bach zu überqueren, auf die kugeligen, weißgrauen Steine hinunterzuschauen, im Ohr das Aufglucksen, Aufsprudeln des abwärtsdrängenden Bergwassers, und irgendwann abzubiegen, an friedlich geduckten Häusern vorbei, zwischen Stadel, Stall, Misthaufen und dem Wohngebäude eines Gehöfts hindurch, schließlich ins unbewohnte Freie der Wiesen, streckenweise noch an grau verwitterten Lattenzäunen entlang, erdig und in der Mitte mit Grasnarben besetzt die Wege, manchmal durchschnitten vom mageren Lauf eines Wiesenbächleins, Holunderbüsche erst im Ergrünen. Für Jul ein Wandern durch die Gerüche seiner Kinderwünsche, die er in einem anderen Dialekt gedacht, geträumt oder auch ausgesprochen hatte, jetzt versuchte er sie zu übersetzen, sie Mara auf Italienisch nahezubringen, so wie sie ihm die Baumgruppen oder auch einen einzelnen Baum zeigte: am Waldrand die dickstämmige Lärche, unter deren zum Teil blankliegenden Wurzeln sie Höhlenhäuser, Rindenhäuser, Grashäuser gebaut und eingerichtet hatte. Möglicherweise war es hier oder doch in dieser Zeit, dass sie plötzlich deutsche Wörter einschob und dann auch halbe Sätze, schließlich ganze und ihn anlachte, als wollte sie die gemeinsame Berechtigung, diese Wiesen und diese Bäume als Heimat zu haben, in sein Bewusstsein bringen.

Auf dem Weg nach Lamprechtsburg nahm er in winzigen Portionen Besitz von Maras zwiespältiger Heimat, und sie verwandelte sich allmählich, je öfter sie ihre Kindheitswege gemeinsam gingen, von einer italienischen Italienerin in eine deutsche Italienerin (von einer aus Mailand oder Bozen gekommenen Italienerin in eine deutsche Italienerin) und von einer deutschen Italienerin in eine italienisch-deutsche Südtirolerin, in jedem Fall verwandelte sie sich in eine andere – zum einen war sie ein Pustertaler Mädchen, das vom frühesten Kleinkindalter hier durch diese Wiesen gelaufen war, in diesen Wäldern Beeren und Pilze gesucht und gepflückt hatte, mit ihren Händen in diese Erde eingetaucht war zu den Erdäpfeln ihres Vaters, das mit den Bauernkindern gespielt und auf die Gipfelzacken der Ahrntaler Berge geschaut hatte wie ihre Mutter, deren Mutter von einem armseligen Bauernhöfl in Taisten als Kellnerin in dieses Bergstädtchen Bruneck gekommen war und dort Maras Großvater geheiratet hatte, diesen Kirchenkuppel klempernden, Milch- und Waschschüssel herstellenden Schmied, Witwer und Sonntagsjäger, auch Kartenspieler – zum anderen war Mara für Jul die sizilianische Italienerin oder überhaupt die Sizilianerin, deren Vater als Kind und als Erwachsener auf die Reste einer griechischen Tempelstadt schaute, an der Südküste der größten italienischen Insel geboren, mit vielleicht griechischen, normannischen und arabischen Ahnen im Blut, ein hochrangiger Befehlsvollstrecker, nach Südtirol gekommen, um diese alpine Habsburgerwelt in ein faschistisches Stück Italien zu verwandeln. Jul begann Mara von einem Mal zum anderen verschieden zu erleben, wurde allmählich zum Mitwisser ihrer Verschiedenheit. Aber sie lebten jetzt, am Anfang und auch lange danach nur im Jetzt.

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Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
17 апреля 2022
Объем:
360 стр. 18 иллюстраций
ISBN:
9783709939314
Издатель:
Правообладатель:
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