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Als Mara und Jul sich im Bett des Vaters liebten, waren die Wiesen rund um dieses Ferienhaus gelb von Löwenzahn. Sie redigierten Artikel für ein unregelmäßig erscheinendes, außerparlamentarisches Informationsblatt, entwarfen auch den sogenannten Spiegel – die Aufteilung der Artikel und überhaupt das Erscheinungsbild der Zeitung – und die Überschriften. Zwischendurch kochten sie, spazierten über die Feldwege, durchstreiften die nahen Waldstücke.

Zum ersten Mal aber hatte er Mara ein Jahr zuvor – daran konnte sie sich später kaum noch erinnern – auf einem der eher seltenen gemeinsamen Ausflüge ihrer Gruppe angesprochen, einem Polentafest oben an einem der Berghänge, die die Stadt umlagern. Vierzig oder fünfzig deutsche und italienische compagni hockten oder lagen im Gras, tranken Wein, Bier und Obstsäfte aus Pappbechern; der eine und die andere kümmerten sich um das Holzfeuer, einige um die Würste und die Polenta. Jul sah, wie Mara sich über den Kessel beugte und mit einem langstieligen Löffel rührte, aber er weiß nicht mehr, ob sie da schon miteinander redeten, er fuhr sie jedenfalls in einem Kleinwagen, einem fünfhunderter oder sechshunderter Fiat, den er von einem compagno ausgeliehen hatte, die engen, steilen Kurven der Bergstraße hinab, sie wollte den Zug nehmen nach Mailand, allerdings musste er sie zum Haus ihrer Mutter bringen, nicht zum Bahnhof (ich merkte mir nicht die Hausnummer, eine italienische Häuserfront, nicht weit von der Innenstadt, fuhr weg, ich weiß nicht mehr, wohin, vielleicht wieder den Berg hinauf, zurück zum Polentafest, zum Kumpel, dem das Auto gehörte). Mara mag sich geängstigt haben während seiner halsbrecherischen Fahrt die Bergstraße hinunter, aber er hatte sich grandios gefühlt, er liebte das schnelle Fahren im Gebirge.

Mara gestand ihm später, dass er ihr an diesem ersten Tag gar nicht sympathisch gewesen sei; ihr sei er irgendwie zu laut und zu direkt vorgekommen, nicht gerade prahlerisch, aber doch so ähnlich, und im Übrigen habe er sie nicht mit einem geliehenen Fiat eines compagno, sondern im Autobianchi 121 ihrer Mutter wie ein Verrückter die abschüssige, damals geländerlose und schwer überschaubare Bergstraße hinunter nach Hause gefahren, und vor der Haustüre habe er das Auto verlassen und sei zu Fuß irgendwohin weggegangen.

Als Mara ihm dies mit lächelnder Sachlichkeit sagte, erinnerte er sich plötzlich selbst an eine andere Einzelheit dieses Polentafestes: Er hatte mit Mara abseits auf einem Wiesenstück gesessen oder auch gelegen, wie man irgendwo in der Sonne an einem Meeresstrand liegt, und hatte zu ihr von seinem interpunktionslosen, antiautoritären Text gesprochen, der eben erst in einer ausländischen Zeitschrift abgedruckt worden war, und er weiß nun wieder, wie enttäuscht er war, dass dieses Mädchen Mara sich dafür ganz und gar nicht interessierte.

Sie verloren sich wieder aus den Augen, weil keiner den anderen gesucht hatte, ja, Jul wusste, dass Mara in einer Art Zeltgemeinschaft mit Freunden in Kalabrien unterwegs war, freilich wusste er nicht, dass der so sympathische, schweigsame compagno Luca immer neben ihr im Zelt lag, er, Jul, lebte seinen eigenen Sommer, und in den folgenden Herbst- und Wintermonaten sah er Mara hin und wieder an dem Versammlungsort in der Garage, er hörte den Reden zu, wahrscheinlich sah er auch immer wieder einmal Maras geweitete Augen oder ihm fiel ihr ernsthaftes Notieren auf, er sah auch die graukahlen Betonwände und die Hundertwattbirne über dem rechtwinkeligen Tischviereck. Irgendwo draußen, über ihren Köpfen oder seitlich davon, auf jeden Fall über ihnen, rumorte der Verkehrslärm, rumorte das Leben. Er musste täglich schon um fünf Uhr früh in der Radioredaktion sein, er ging seine eigenen Wege, wie im Übrigen auch sie.

Erst im neuen Jahr, Mitte oder Ende Jänner, begann er plötzlich Mara zu suchen, das heißt, er wollte von einem Tag auf den anderen wissen, wo sie wohnte, wer ihre Familie war, wie er sie tagsüber einmal treffen könnte, er wollte mit ihr reden. Tatsächlich kannte er nur ihren Vornamen, so wie von den meisten, mit denen er in der Garage die Abende verbrachte. Ein compagno wusste Maras Familiennamen und dass sie bei ihrer Mutter wohne, wenn sie von Mailand nach Hause kam, ihr Vater sei schon vor einigen Jahren gestorben. Bei einem Glas Wein in einer Bar erzählte der Kumpel ihm auch, dass Mara sehr gut Ski fahren könne. Jul hatte in diesem Winter mit viel zu langen, unerfahren gekauften Skiern ein paar Anfängerstunden absolviert auf einem der stadtnahen Berge, der Seiser Alm, und er wollte nicht alleine Ski laufen gehen. Noch in der Bar fand er im Telefonbuch die Nummer ihrer Familie und rief sofort an. Er war erstaunt, als sich eine deutsche Frauenstimme meldete, schrill und neugierig, es war ihre Mutter, die ihn wissen ließ, dass Mara sehr wahrscheinlich am nächsten Samstag von Mailand kommen werde. Er werde dann wieder anrufen, versprach Jul, und er rief auch wieder an. Als er Maras Stimme aus der Telefonmuschel hörte, wusste er plötzlich nichts mehr von ihrem Gesicht. Sie wusste ihrerseits nicht, mit wem sie sprach, er vergaß oder vermied es, sie daran zu erinnern, dass er vor mehr als einem halben Jahr mit ihr über eine Bergstraße talwärts gerast war. Später erzählte sie ihm, sie habe nur verstanden, dass er ein compagno sei, der mit ihr einen Skiausflug machen wolle, und dagegen fiel ihr nichts ein.

Jul hatte damals in einem der neuesten Wohntürme eine piekfeine Garçonnière mit Bad und Balkon und einem freien Blick zum Wald des Kohlerer Berges, und wenn er sich scharf nach links wandte, konnte er hinter den Smogwolken die Bergkette des „Rosengartens“ ausmachen. Um die Einrichtung des Appartements hatte er sich aber kaum gekümmert. So stand die Küche völlig leer mit geweißelten Wänden da, ohne Herd oder Abstellregale. Er benützte den Wasserhahn in der Küche nur, um zu trinken oder sich heißes Wasser über einen Löffel Nescafé rinnen zu lassen. Auch schlug er manchmal (fast immer am Morgen) ein rohes Ei am Rand des Wasserhahns auf, um es im Stehen auszuschlürfen. Im geräumigen Zimmer, das zum Balkon hin eine Glaswand hatte (sein großes, sein einziges Fenster), waren die Seitenwände auch leer, nichts als weiß, am Boden war längs der Wand, gegenüber dem Balkonfenster, eine Matratze gebreitet und davor auf umgekippten leeren Äpfelkisten eine rotgestrichene Pressplatte, auf der seine Schreibmaschine und ein paar Bücher lagen. Das war alles. Im angrenzenden, bis in Brusthöhe weißgekachelten Bad ragte seine Zahnbürste aus einem Glas unter dem Spiegel und auf einem Hocker bauschte sich seine Toilettentasche. Es war, als lebte er in einer äußerst bequemen Felsnische über den Dächern der Stadt, und er war nicht einmal allein, er hatte eine Katze, eine Siamesin, die ihn schon seit Jahren begleitete.

Im Vorraum neben der Tür standen seine Blizzard-Ski, zwei Meter zehn. Er war schon startbereit, im schwarzen Skianzug (mit einem weißen Lastexstreifen an den Außenseiten der Hosen, Gustav-Thöni-Look), als seine Wohnungsklingel, wie vereinbart, um acht Uhr morgens losschrillte. In der Nacht hatte es stark geschneit, Jul trat mit seinen Moonboots auf den Schneeteppich des Balkons hinaus: Unten stand Mara mit roter Wollmütze neben einem Kleinwagen, dessen Dach vollgepackt war mit Skiern. Sie schwenkte einen Arm, als sie ihn erblickte, und er hätte ihr gerne ein paar Schneebälle hinuntergeworfen, er rief aber nur: Ich komme, vengo subito! Irgendwie war er enttäuscht oder doch irritiert, dass sie nicht allein gekommen war, sondern sich typisch italienisch (wie er dachte) abgesichert hatte mit einer Begleitung. Im Autobianchi saßen ihr jüngerer Bruder Carmine mit seiner Verlobten und ein gemeinsamer Jugendfreund, Luca, ein compagno, den Jul von der Garage her kannte, ohne zu wissen, dass er für Mara mehr als ein Kindheitsfreund war, mit dem sie nicht nur die letzten Zeltferien in Kalabrien verbracht hatte. Und wie hätte er den Tod seiner noch nicht geborenen Natalie mit diesem milde lächelnden Weltfreundgesicht Luca in irgendeine Ahnungsnähe bringen sollen, und überhaupt das Unglück seiner (damals noch nicht vorstellbaren) Ehe. Jul gab allen die Hand und setzte sich vorne neben den chauffierenden Bruder. Jedenfalls trug Mara eine geranienrote Jacke und über der roten Wollmütze eine Skibrille, die ihr in seiner Erinnerung ein wenig das Aussehen eines sportlichen Maikäfers verlieh. Sie fuhren auf den Karerpass, und zwar zur Paulinerpiste, von der er routinierte Skifahrer schon hatte schwärmen gehört. Wahrscheinlich hatte er nicht viel geredet während dieser Autofahrt hinaus aus der selten so weiß wattierten Stadt. Zum ersten Mal, dass er mit Mara in einem engen Raum eingepfercht war, in diesem kleinzylindrigen Wagen, und dennoch fühlte er sich gleichgültig bis zur Glücksverachtung. Ihren geranienroten Jackenrücken und ihren ebenso grellroten Mützenhinterkopf im Blick, zuckelte er später hinter Mara in einem blechernen Liftsessel zur Pauliner Höhe hinauf. Solange sie zwischen Bäumen hindurchschaukelten, weideten sich seine Augen vor allem an den dickgepolsterten, von Schnee niedergedrückten Zweigen, kleinere Bäume waren fast ganz in der tiefen Neuschneeschicht versunken und gerade noch erkennbar als Kuppen oder weiße Kegel. Bisher war er nur auf glatt präparierten Skipisten gefahren, aber hier war alles anders. Sie waren unter den Ersten, die an diesem Tag die Bergstation erreichten; man hatte eine Slalomrinne durch den meterhohen Neuschnee gezogen, jeder Rechtsschwung oder Linksschwung führte um einen aufgetürmten Schneehügel herum – für Jul eine schwer zu meisternde Herausforderung. Außerdem sah er sich, kaum dass er mit angeschnallten Skiern aus dem Sesselkübel gerutscht war, nur zwei Meter entfernt vom Rand eines Sturzhanges: Ein unvermeidbarer Raketenstart, dachte er, und Mara war schon gestartet, mit lockerem Schwung, die anderen bereits vor ihr abwärts gewedelt, aber er konnte nicht anders als kerzengerade hinunter, schaffte nicht einmal den ersten Linksschwung, oder vielleicht doch, den zweiten nach rechts jedenfalls nicht mehr, da steckte er schon in einem der Schneehaufen, im ersten oder zweiten, immerhin fand er noch seine Brille und warf sich wieder nach unten, weit kam er freilich nicht, lag sehr bald mit dem Gesicht im Neuschnee der letzten Nacht, ziemlich tief eingebettet, und hatte nur mehr einen Ski angeschnallt und keine Brille mehr, grub nach der Brille, fand den anderen Ski und schließlich sogar seine Augengläser –, weit und breit keine Mara. Damit war für ihn dieser Skiausflug oder überhaupt das Abenteuer mit Mara erledigt. Er trocknete mit dem Schnäuztuch die Brille, schulterte seine gelben Blizzard und stapfte quer über die Piste durch den Pulverschnee. Ihm war alles egal, er konnte nicht Ski fahren, Mara wusste nun Bescheid, und so wollte er diesen Tag hinnehmen, wie er eben verlief. Jul versank bis über die Knie im Schnee, aber es war ein blauer Himmel mit wenigen bauschig-weißen Wolken über ihm, die Sonne machte ihn schwitzen, er öffnete den Reißverschluss der Jacke, wollte so schnell wie möglich talwärts kommen zu einer Straße oder zu einer Hütte. Schließlich sah er geparkte Autos schräg unter sich und das Dach einer Gastwirtschaft, eine dieser schnell und hübsch hingebauten Heuschupfenkopien. Minuten später saß er auf einem steilen Hocker in der morgendlich leeren, doch gut gewärmten Stube an der Schank und staunte nicht wenig, dass ihn vor dem Hintergrund der reich bestückten Flaschenwand ein bekanntes Mädchengesicht anlachte. Seine Brille war noch etwas dampfbeschlagen von der jähen Wärme, trotzdem lachte ihn untrüglich Martina an, eine der Sekretärinnen aus seiner Redaktion. Sie helfe ihrem Bruder, dem Wirt hier, manchmal am Wochenende aus, klärte sie ihn augenblinzelnd auf. Es war wohl erst halb zehn, und Jul hockte da an der Theke mit schneegepudertem Skianzug, jedenfalls in den ersten Minuten, dann lösten sich auch die Eiskruspen von seinem Bart, und er zog die wasserdichte, tropfende Jacke aus. Er ließ sich Whisky einschenken mit viel Soda, und bald danach noch einmal. Anfangs war er sogar ein wenig wütend auf Mara und die compagni, die hinuntergesaust waren, ohne sich zu kümmern, ob er ihnen folgen könnte, doch bald war ihm klar, dass er sich höchstens über sich selbst hätte ärgern müssen, jedenfalls wusste er, dass er vor Mara eine lächerliche Figur abgegeben hatte und damit diesen Flirtversuch auf Skiern vergessen sollte. Martina nahm sich, über die Budel gelehnt, Zeit für ihn, hörte ihm zu, schäkerte. Und sie lachten beide viel, besonders als er sein Herumwühlen im Schnee auf der Suche nach der Brille schilderte, sein Aufstehen und erneutes Starten und erneutes Brillensuchen. Je länger er Martinas Lachen im Ohr hatte, desto selbstverständlicher schien ihm schließlich ihr Vorschlag, zusammenzubleiben, miteinander zu Mittag zu essen, dann habe sie ihre Nachmittagsruhe, könne tun, was sie wolle in ihrem Zimmer im Haus nebenan, ihr Bruder, der die Gastwirtschaft führe, sei nicht pingelig. Sie könnten morgen früh mit ihrem Wagen ins Büro fahren, sagte sie. Draußen lag der Schnee meterhoch unter der Vormittagssonne, allmählich füllte sich die Gaststube mit fröhlich geröteten Gesichtern. Ein italienisch-deutsches Stimmengewirr umrauschte ihn. Martina musste nur die Gäste bedienen, die sich an die Theke setzten, so dass er sie dauernd vor seinen Augen hatte, witzelnd und mit lustiger Zunge. Da hörte er plötzlich hinter sich seinen Namen rufen, wandte sich um und sah Mara in der aufgerissenen Tür stehen, wie aus einer Schneemulde aufgetaucht, mit aufgeschnallten Skischuhen, in der geranienroten Jacke und vor allem mit der energisch über die Mützenstirn hochgeschobenen Riesenbrille: Finalmente, da bist du ja! schnaufte sie, und er bemerkte, wie von ihren glänzend roten Hartgummischuhen die Schneereste wegschmolzen. Sie wollte nichts trinken, lehnte seine Einladung auf einen Whisky ungläubig lachend ab: So früh am Morgen? Sie stand in der Tür und winkte ihm zu kommen. Und so murmelte er ein paar entschuldigende Worte zu Martina hin und rutschte vom Hocker herunter. Damit war alles entschieden, weiß er jetzt. Mara hatte ihn gesucht, war, wie sie ihm erzählte, kreuz und quer über die Piste gefahren, war den Kübellift hinauf und wieder herunter, und schließlich hatte sie angefangen, die umliegenden Imbissstuben und Einkehrhütten abzuklopfen. Wenn er daran dachte, sah er blitzartig immer eine Tür aufgehen, hörte das kurze, polternde Geräusch schwerer Skischuhe und sah Maras Gesicht – forschend, erfreut, empört. Bisher hatte er sie meistens stumm erlebt, still und zurückhaltend. Ihre Scheu zog ihn an. Und jetzt hatte er sie wütend gesehen.

Einige Meter von der Kneipenhütte entfernt warteten die anderen im Auto. Erst lange danach kam ihm der Gedanke, dass Mara ihn damals nicht wie einen gesucht haben mochte, den sie in ihrer Nähe haben wollte, sondern einfach wie einen, für den sie sich verantwortlich fühlte, da er im Auto ihrer Familie auf den verschneiten Berg gefahren war. Sie saßen aneinandergepresst im Fond des Kleinwagens, und vermutlich redete er – vom Whisky beflügelt – in seinem holzhackerischen Italienisch zu laut und zu viel, und deshalb wohl hinterließ die Erinnerung ihm kein einziges Wort, so als wären sie in stummer Nähe den Berg hinuntergerollt, durch Kurven und Tunnels und an Schneerändern vorbei, bis sie sich in der Stadt unten die Hände drückten und auseinandergingen. Sie gingen auseinander ohne irgendeine Verabredung, und sie sahen sich erst nach Wochen wieder bei einer Versammlung in der Garage.

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Ein Lawinenunglück, bei dem sieben Alpini, italienische Gebirgssoldaten, unter den Schneemassen erstickt waren, brachte sie erneut zusammen. Das Unglück war – nach Analyse und Urteil in der Garage – durch Verantwortungslosigkeit, Ehrgeiz, Leichtsinn und Ignoranz von Offizieren verursacht worden, von Offizieren, die eine militärische Routineübung trotz amtlicher Lawinenwarnung hatten durchführen lassen: Eine Kompanie war über einen gefährdeten Hang marschiert und hatte einen enormen Schneeabgang ausgelöst, sieben junge Männer konnten nur mehr tot aus dem Schnee gezogen werden. In der Garage wurde beschlossen, in allen größeren Orten des Landes eine Flugblattaktion durchzuführen, eine Art pazifistische, jedenfalls gegen die militärische Obrigkeit gezielte Gegeninformation, gegen „Offiziersdünkel“, „Kriegsspielerei“, „verantwortungslose Karrieregeilheit“, der das Leben junger Menschen ausgeliefert worden sei. Und Mara meldete sich (an einem Wochenende, das sie zu Hause bei ihrer Mutter verbrachte) ebenso wie Jul zum Flugblattverteilen in einem der Seitentäler, dem Pustertal, das ihm am fremdesten, ihr aber am vertrautesten war.

Sie fuhren mit noch zwei anderen Gesinnungsfreunden los – wieder im Kleinwagen, der Maras Mutter gehörte, den diese aber nie benützte, weil sie aus Angst vor dem eigenen Fahren sich lieber in einen Zug oder Bus setzte. Mara und Jul waren sich nicht mehr fremd, aber irgendwie benahmen sie sich noch so. Mara ging die Aktion sehr gelassen an, er auch. Er saß neben ihr im Auto, und sie lenkte, während auf den Rücksitzen Bruna und ein compagno über die Lawinentragödie sprachen; Mara und er murmelten manchmal auch ein Wort nach hinten, noch öfter aber machten sie beide einander auf das eine oder andere in der vorbeifliegenden Landschaft aufmerksam: Schneereste auf kahlem Baumgeäst, ein Rabe, der steif auf einem in die Erde gerammten Stock hockte, und die Eiskristallruten über dem Flüsschen Rienz.

Sie parkten das Auto in den Dörfern wenn möglich auf dem Platz vor der Kirche und begannen in den umliegenden Straßen und Gassen den ihnen entgegenkommenden Leuten die Informationszettel entgegenzustrecken. Einige nahmen das Blatt entgegen, Überrumpelte, die keine Zeit zu überlegen hatten, andere rannten aus dem gleichen Grund wie verängstigt weiter.

Jul blieb bei Mara. Ohne dass sie es verlangt hatte, wollte er sie nicht allein lassen. Sie begnügten sich damit, die Flugblätter einigen Passanten in die Hand zu drücken und ein paar Blätter an das Glas einer Auslage oder an eine Hauswand zu kleben, aber sie ließen kein Gasthaus oder Café aus. In Welsberg wurden sie, kurz nachdem sie in einem behäbigen Wirtshaus am Hauptplatz ihre Zettel an ein paar Männer an der Schank verteilt hatten, auf der Straße von einem italienischen Polizeibeamten angehalten und ins nahe gelegene Bezirksgericht geführt. Dort, über ihre Personalien befragt, erklärte Jul sich kurz entschlossen als Maras Bräutigam, außerdem als Korrespondenten einer ausländischen Zeitung, der, auf Besuch bei seiner Verlobten, diese bei Ausübung ihrer bürgerlichen Rechte begleitet habe. Mara hatte das Abgeführtwerden und die Befragung unaufgeregt, beinahe gleichgültig hingenommen, überrascht und verwirrt wurde sie aber ganz offensichtlich durch seine Behauptung, ihr Verlobter zu sein. Wieder auf freiem Fuß, lachten sie alle vier lauthals im Auto auf der Rückfahrt. In ihrem Übermut parkten sie sogar in unmittelbarer Nähe eines Militärpostens (eines mit Stacheldraht umzäunten Häuschens, nur wenige Meter entfernt von der Mühlbacher Klause), zwischen und unter zwei winterkahlen Straßenlinden pinkelten Mara und er in den abgasgrauen Schnee und warfen auch ein paar Flugzettel auf die Böschung; dabei kicherten sie so laut, dass ein Uniformierter sich hinter dem Stacheldrahtzaun aufpflanzte und über die Straße schrie: Wer ist da? Sie sprangen ins Auto und fuhren unbehindert davon.

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Jul wusste, dass er sich bei der Festnahme in Welsberg komisch benommen hatte, aber ihm hatte sich nicht so sehr die Demütigung eingeprägt als vielmehr dieses neue Gefühl des Ausgeliefertseins mit Mara, dieses jähe öffentliche Zusammengehören, auch wenn es List war seinerseits, ein Gewaltakt, diese Erfindung von Nähe, erlogene, aufgezwungene Vertrautheit, er bereute davon nichts. Ja, er hatte Mara überrumpelt, er hatte sich in Maras Kopf als ein möglicher Verlobter hineingedrängt.

Auf jeden Fall hatte sich ihr Verhältnis verändert, auch wenn sie mit den zwei compagni im Wagen fast ausschließlich wieder über politische Themen sprachen. Von diesem Tag an verband Mara und ihn etwas Bestimmtes, ebendieser Vorfall. Sie wollten sich wiedersehen und vereinbarten ein anderes Wochenende zum Skifahren. Diesmal in nächster Nähe der Wälder und Wiesen, wo Mara ihre Kindheit während der Sommer- und Weihnachtsferien verbracht hatte, eben auf dem Berg über dem kleinen Landhaus ihres Vaters.

Sie waren nicht allein, sondern in Gesellschaft von Maras älterem Bruder Raffaele und ihrer Schwester Teresa, die von ihrem Mann Carlo begleitet war. Jul genoss die Minuten, die er oben auf der Bergkuppe (zwischen Gondelstation und dem nächsten Hüttenausschank) ohne Ski an den Füßen verschnaufen konnte – den Rundblick und die Sonne –, dann allerdings suchte er an eine Theke zu kommen, und während Mara sich auf der Toilette vermutlich Sonnencreme auf den Wangen verstrich, trank er ein großes Glas Grappa. Mara liebte den Nordhang mit Blick auf den Talkessel, ein Schattenhang mit schnellerem Schnee, eine mit riesigen Schneewarzen übersäte, breite Piste vom Start weg, und Mara vergnügte sich, wedelte in kurzen Schwüngen hinunter, er stürzte ihr mit angeschnapster Kühnheit nach, manchmal schaffte er es, einem Schneehügel auszuweichen, meistens nicht, aber diesmal wartete Mara jedes Mal in freundlicher Entfernung, bis er sich wieder aufgerappelt hatte. Ihre Geschwister kümmerten sich zum Glück nicht um ihn, waren längst woanders unterwegs. Es war schön, hinter Maras Schwüngen herzustürzen, in weitem, aber scharfkantigem Zickzack, und dann aufwärts gezogen zu werden von einem Schlepplift, im Blick immer Maras schwarzes, auf den Jeanshintern genähtes Perlonherz. Und es war schön, mit ihr längs einer Glaswand des Berggasthauses Spaghetti alla Bolognese zu essen bei einer Flasche Rotwein. Sie fuhren am frühen Nachmittag sogar die ganze Länge der Silvesterpiste hinunter, von wo Maras väterliches Ferienhaus dann zu Fuß schnell erreichbar war.

Damals war er zum ersten Mal durch das dunkelbraune Gartentörchen gegangen, über den verschneiten Gartenrasen und hatte zum ersten Mal Maras Mutter gesehen, eine schöne, feingesichtige Frau mit kurzgeschnittenen, silbergrauen Haaren und einem fast ängstlich lachenden Gesicht, einem Dauerlächeln, das wie eine Schutzschicht über Neugier und Sorge gezogen schien (erst später bemerkte er die hoch angesetzten Wangenknochen, die ihrem Ausdruck beinahe slawische Züge verliehen). Er wurde in eine laute Herzlichkeit hereingeholt und fühlte sich dennoch eher wie ein abgetastetes Objekt, ein betrachteter Gegenstand. Vielleicht war es dies, warum Mara und er sich bald verabschiedeten. Er weiß nicht mehr, ob er Mara durch einen Blick oder ein zugerauntes Wort aufgefordert hat oder ob sie beide es gleichzeitig wollten, jedenfalls unternahmen sie allein mit dem Auto noch eine Spazierfahrt in die Umgebung. Wahrscheinlich tranken sie auch etwas in einer Bar oder einem Gasthof, um schließlich nur mehr so durch die verschneiten Felder zu laufen. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass er Maras Haare berühren durfte und auch ihr Gesicht. Sie blieben auf einer Brücke stehen, lauschten auf das Lärmen des Wassers, und Jul zog den Ehering seiner toten Mutter von seinem Finger und warf ihn in den Bergbach, um Mara näher zu sein.

Seither begann Mara ihm aus Mailand zu schreiben, auf kuriosem Format, Kärtchen, die in vier mal sechs Zentimeter kleine Kuverts hineinpassten, witzige Sätze, zum Beispiel: Ich bin heute Morgen einer Bürste begegnet.

Jul hatte kein Telefon. Aber eines Tages klingelte die Wohnungsglocke, und als er die Tür öffnete, sprang die Siamkatze von seiner auf Maras Schulter, kaum dass sie ihre Arme um ihn gelegt hatte. Er lachte voll Stolz auf seine Katze, die sich über Maras leicht gebeugten Nacken schmiegte, es war das erste Mal, dass Mara seine Garçonnière betrat. Sie hatte es ihm zuletzt versprochen (als der Ring in den sprudelnden Bach geflogen war). Trotzdem war er überrascht, denn Mara war vom Bahnhof direkt zu ihm gekommen, ihre Mutter wusste nicht, dass sie in der Stadt war. Er ließ das heiße Wasser in das Waschbecken der Küche laufen, schöpfte Nescafépulver in zwei Gläser und sah dann, wie Mara daran nippte und zurückzuckte, sie lächelte und sah sich zwischen Zimmer und Balkon um, er nahm ihr das Kaffeeglas aus der Hand. Es war ihr erstes Geheimnis: dass sie da auf dem Betonbalkon standen und über die Häuser schauten, Mara vielleicht auch in Richtung des Hauses ihrer Mutter blickte, die sie jetzt in Mailand vermutete.

Juls Matratzenbett überragte vielleicht um zwanzig Zentimeter den Parkettboden; seine Siamkatze schlief am liebsten auf dem Kopfpolster, aber sie verschwand sofort, als Mara sich auf der Decke niederließ. Wahrscheinlich vergingen Minuten, möglicherweise auch eine Viertelstunde, bis ihm Maras Veränderung auffiel, eine Veränderung ihrer Haut, zuerst sah er diese winzigen roten Flecken an ihrem Gesicht, dann auf ihrem Hals und auf den Brüsten, ihr ganzer Körper war übersät von diesem Scharlachrot. Er erschrak und dachte, Maras Körper reagiere auf ihn allergisch, auf seinen Bart oder weiß was sonst. Mara atmete schwer, er zog sie hoch, und sie atmete auch stehend nur mit Mühe, hustete, röchelte, er wagte sie nicht mehr mit einer Fingerspitze anzurühren. Sie musste möglichst schnell zu einem Arzt gebracht werden, aber Mara wollte nichts von Ambulatorium oder Krankenhaus hören, sie sagte, ihre Familie habe seit jeher einen Hausarzt, und dem werde sie sich anvertrauen, daher müsse sie, und zwar gleich, zu ihrer Mutter. Es waren ja nur hundert oder zweihundert Meter bis zu ihrem Haus, Jul begleitete sie, aber sie wollte allein mit dem Aufzug in den dritten Stock fahren – er könne sie am Abend anrufen.

Ihr Hausarzt war schon ein älterer Herr, wahrscheinlich einer, der Maras Vater noch aus früheren Zeiten gekannt hatte. Er diagnostizierte bei Mara eine akute Rippenfellentzündung und verordnete zwei Wochen strengster Bettruhe und täglich eine Penicillinspritze. Und so bekam Mara ein gutes Dutzend Ampullen injiziert, obwohl sie keinerlei erkältungsbedingte Entzündung hatte, sondern, wie sich später herausstellte, eine asthmatische Allergie, verursacht und ausgelöst durch Pulcinella, Juls Siamkatze.

Als er am Abend anrief, bekam er nicht Maras ruhige Stimme zu hören, sondern eine Unglückslitanei vonseiten ihrer Mutter, mit freundlich hoch angesetzter Stimme, die sich öfters überschlug, aber ohne Vorwurf ihm gegenüber. Jul begann Mara zu besuchen, betrat zum ersten Mal dieses Haus am Gerichtsplatz, das ihr Vater nicht lange vor seinem Tod gebaut hatte. Ein nüchternes, unauffälliges Wohnhaus der frühen sechziger Jahre, auf italienische Weise rational, mit schmalen, langgezogenen Balkonen und einem Aufzug. Maras Mutter führte ihn zu einem Zimmer, das wie eine Zelle zwischen zwei anderen in einer Art Klostergang lag, einem Seitenarm der großen Wohnung. Plötzlich sah Jul nicht mehr aus einer Garagenperspektive auf ein großäugig vor sich hin sinnierendes Mädchengesicht, sondern stand vor einem fremden Bett, sah auf Mund und Augen, die in Polster versinken wollten. Er war jäh in eine Nähe gerückt und fühlte sich ratlos, auch irgendwie schuldig.

Er kam jeden Tag und er war Maras Mutter dankbar, dass sie ihm so selbstverständlich die Wohnungstür öffnete und ihn die paar Schritte bis zu diesem Zellenzimmer allein weitergehen ließ. Obwohl ihm bewusst war, dass er aus der Sicht dieser Frau wahrscheinlich wie ein Unglück durch die Tür hereintrat. Er war um einiges älter als Mara und hatte eine völlig andere Welt hinter sich. Und schon seine erste Annäherung hatte Mara krank gemacht. Aber Jul tat, was er tat, mit der Leichtigkeit eines Menschen, der sich auf Essen und Trinken freut, aus einer Notwendigkeit, die wie Atmen war. Von jetzt an gehörten sie zusammen. Als Mara sich wieder erholt hatte und nach Mailand zurückfuhr, verabredeten sie, sich Mitte März in Rom zu treffen.

1 762,82 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
17 апреля 2022
Объем:
360 стр. 18 иллюстраций
ISBN:
9783709939314
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
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