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Im Herbst 1964 ging Malcolm auf die Harrow Art School, die Fred Vermorel in seiner Darstellung von McLarens Leben beschrieb als »meilenweit einziges Zentrum der Bohemian Frenzy, wo sich die Schwulengemeinde mit den Beatniks, Drogenhändlern, Sexualstraftätern und Mods mischte.« In jener Zeit waren Kunsthochschulen weniger ergebnisorientiert als heute. »Dort gingen alle hin, die woanders nicht hineinpassten«, sagt Malcolm. »Es war ein toller Ort zum Abhängen.«

Das war der Beginn von Malcolm McLarens Unabhängigkeit und der Beginn eines siebenjährigen Treibenlassens in den Institutionen der höheren Schulbildung. »Ich habe meine ganzen politischen Ansichten, mein Verständnis der Welt aus der Kunstgeschichte«, sagt er.

»In der Welt geht es ums Plagiieren. Wenn man nicht anfängt, Dinge zu sehen und zu klauen, weil sie einen inspirieren, bleibt man dumm.«

Bis zu einem gewissen Grad betrachtete sich Malcolm als Avantgardist, suchte nach einem Schlüssel, der ihm erlaubte, seine tiefsitzende Wut und seinen Groll freizusetzen. Zwischen 1965 und 1968 besuchte er verschiedene Kunsthochschulen unter falschen Namen, um Stipendien zu bekommen. In dieser Zeit griff er Ideen auf, die gerade im Umlauf waren, und verwarf sie wieder: Fluxus, Pop Art, Andy Warhol. Sie alle hatten gemeinsam, dass die Vorstellung von Kunst untrennbar mit dem Alltagsleben verbunden war, untrennbar vor allem von Kommerz und Umwelt.

Der städtische Raum – damals die hypermodernistische Verherrlichung der kommerziellen Welt – ist eine Idee, die sich nicht nur durch die Geschichte der utopischen Kunst seit dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch durch die verschiedenen Ebenen der englischen Nachkriegsgesellschaft zieht. Malcolms Kunsthochschulzeit fiel mit dem Höhepunkt der Nachkriegsentwicklung zusammen – Büroblöcke, Autobahnen, riesige Sozialbaupläne. Während dieser Zeitspanne, fertigte er, inspiriert von Frank Stella mehrere Skulpturen an, beunruhigende, eckige Formen aus dem Unterbewussten, die in einer Umgebung aus Beton schwebten.

Die Skulpturen waren von den räumlichen Besonderheiten Croydons inspiriert. Wie der aus Croydon stammende Jamie Reid in Up They Rise sagt: »In den frühen 50er Jahren war Croydon kurz vor dem Aufschwung. Die Pläne für neue Hochhäuser, ein neues Einkaufszentrum und ein Verwaltungsgebäude existierten bereits. Es sollte eine neue Zitadelle des Kommerzes für das Nachkriegsbritannien werden. Londons Mini-Manhattan war geboren.« Malcolm fotografierte Bürogebäude wie das Luna House, betonte die bedrohlichen Formen oder fertigte vollkommen abstrakte Entwürfe an. Reids Gouache von 1968

»Up They Rise: A Playground for the Juggler« zeigt Malcolm als Alchimisten – einen Manipulator des neuen urbanen Raums.

Malcolm hatte im Herbst 1967 in Croydon angefangen. Der Kurs ließ ihm mehr Freiheit als zuvor und brachte ihn mit Gleichgesinnten zusammen, wie mit Robin Scott, dem späteren Popsänger »M«, und Jamie Reid. Reid und Scott stammten aus Croydon. Geboren 1947, als Sohn von John MacGregor-Reid, Stadtredakteur des Daily Sketch, war Jamie Reid in Shirley aufgewachsen, eine saubere, ausgesprochen ordentliche Gegend, die zur Zeit, als sie gebaut wurde, den räumlichen Phantasien der Epoche entsprach: Vorstadt (sub-urbia).

Jamie war ein widerwilliger Student, der sich zwischen Kunst und Fußball entscheiden musste. Die Malerei gewann: Reid war fasziniert von Jackson Pollock, dessen Leinwände er als Landschaften betrachtete. In Wimbledon waren die Lehrmethoden sehr traditionell und Reid rebellierte: »Ich war ein typischer, unbequemer junger Kunststudent.« Er wohnte im Einzugsgebiet der Croydon Kunsthochschule, und der Studiengang dort bot mehr Freiheiten. Voller romantischer Hingabe für die Malerei fing er im Herbst 1964 an zu studieren.

Die Beinahe-Revolution, die sich in Paris und im restlichen Frankreich im Mai 1968 ereignete, hatte eine elektrisierende Wirkung auf die Jugend in aller Welt. Teilweise, weil sie der erste richtig im Fernsehen übertragene urbane Aufstand war, teilweise, weil sich eine Generation herauskristallisierte, die politische Rechte forderte. Die Zerstörung von Vietnam durch die Amerikaner mag ein Auslöser gewesen sein, 1968 aber verwandelte einen ästhetischen Stil in eine politische Geste. Die ungeheure Energie von Pop, die seit 1964 auf die Welt einströmte, wurde in eine öffentliche Demonstration mit dem utopischen Versprechen übersetzt: dass die Welt verändert werden kann.

Der Virus der Anarchie kehrte zurück und wurde als Begriff zum ersten Mal im Sinne von sozialem Chaos benutzt. Durch die Schriften von Libertären wie Proudhon und Bakunin war aus Anarchie Anarchismus geworden, »ein System sozialen Denkens, das auf grundlegende Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur abzielt, besonders auf die Ablösung des autoritären Staates durch eine Form nichtstaatlicher Kooperation zwischen freien Individuen.« (George Woodcock).

Durch das Fehlen einer starren Ideologie konnte der Anarchismus in vielerlei Weise definiert – und angegriffen – werden: Trotz der Ernsthaftigkeit und Schlüssigkeit seiner Argumente, wurde er gern missverstanden und von dogmatischen politischen Systemen aufgegriffen. Proudhons Erkenntnis, dass etwas erst zerstört werden müsse, bevor man es neu aufbauen könne, wurde in der Öffentlichkeit nur zur Hälfte wahrgenommen, die den Anarchismus mehr mit dem ersten, und für viele aufregenderen Schritt in Verbindung brachte. Aber, wie Woodcock bemerkt, in seiner mangelnden Bestimmtheit lag auch die Stärke des Anarchismus: »Er kann gedeihen, wenn die Umstände günstig sind und dann, wie eine Wüstenpflanze, über mehrere Jahreszeiten und sogar Jahre hinweg in Winterschlaf verfallen und auf den Regen warten, der ihn wieder zum Knospen bringt.«

Die deutlichsten Signale im Paris von 1968 waren Poster und Graffiti. Die kryptischen Phrasen waren das perfekte Medium für die Revolte – neu und ungewöhnlich, leicht verpackbar und paradox. Phrasen wie »Fordere das Unmögliche« oder »Phantasie an die Macht« scherten sich nicht um die herkömmliche Logik, sie ließen komplexe Ideen plötzlich einfach erscheinen. Sie waren Kunstwerke, die allerdings nicht im traditionellen Sinne einer Person zugeschrieben werden konnten: Anonyme Slogans wie »Arbeitet nie!« oder »Unter dem Pflaster liegt der Strand« funktionierten wie Polaroidaufnahmen eines Augenblicks.

Der Augenblick war rasch vorüber – am 30. Mai ergriff de Gaulle mit einem vom Fernsehen übertragenen Ultimatum wieder das Wort –, aber er wurde zu einem starken Symbol. Für die gelangweilten Studenten in ihrem Betonkäfig in Croydon war er wie ein Startschuss. Warum nicht weiter gehen, als nur so zu tun, als würde man Vorlesungen besuchen? Warum nicht die Vortragenden abschaffen?

Malcolm McLaren hatte bereits am radikalen Wind der Zeit geschnuppert und beschäftigte sich mit den Ideen des Südafrikaners Henry Adler. Jamie Reid war mit utopischer Politik aufgewachsen; Robin Scott war einfach auf Randale aus. Was auch immer ihre Beweggründe waren, alle beteiligten sich an einem Sit-in, das in Croydon eine Woche nach der berühmten Hornsey Art School Aktion stattfand. Am 5. Juni verbarrikadierten sich die Kunststudenten im Anbau in South Norwood und stellten unmöglich zu erfüllende Forderungen auf.

»Wir entwarfen eine Art Abschlussklassenmanifest über das Einreißen der Trennwände. Die meisten Forderungen richteten sich an den Lehrkörper; darüber ging es nicht hinaus«, sagt Robin Scott. »Wir fanden, dass die Wände zwischen Autoritäten und Studenten abgerissen werden sollten. In Hornsey gab es schlimmere Missstände als bei uns, aber wir befanden uns in einer apathischen Situation, Langeweile war das größte Problem. Es war an der Zeit, das System auf die Probe zu stellen und die Grenzen auszuloten.«

Die Aktion war vor allem ein Medienereignis: Die Studenten verschickten Pressemitteilungen und besetzten die Telefone. Am 12. Juni kam das Sit-in in die Zeitungen. »Unsere Lösung des ganzen Geredes über vernetzte Strukturen, wechselnde Jahrgänge und Abteilungen war einfach, die Trennwände einzureißen. Also machten wir das«, sagt Jamie Reid. Aber nachdem die ursprüngliche Begeisterung verflogen war, blieb die Frage, wie man weitermachen wollte. »Ich wurde zum Interessenvertreter der Studenten gewählt,« sagt Robin Scott, »und sollte dem Lehrkörper gegenübertreten. Mich hat das nicht interessiert, aber die Zeit lief uns davon.«

Als die Sommerferien begannen, hatte sich das Sit-in aufgelöst:

»Es war ein Wochenend-Picknick«, sagt Scott, »der Spaß war vorbei. Ich glaube auch nicht, dass Malcolms Absichten ernsthafter waren, denn als es zum Zusammenstoß kam, als es darum ging, etwas Konstruktives zu sagen oder zu tun, hatte er nichts zu sagen. Es war sogar so, dass er sich verpisste, als sich die Gelegenheit ergab, das System an der Croydon School of Art tatsächlich zu ändern.«

Jamie Reid hat eine andere Erinnerung: »McLaren und ich waren die Anstifter beim Sit-in, wurden von der Polizei unter Druck gesetzt und festgenommen. Einmal versuchte die Schulbehörde sogar, McLaren in eine Irrenanstalt einliefern zu lassen.« Das Sit-in öffnete Reid die Augen: »Ich entwickelte mich vom Studenten, der sich in seiner kleinen Nische Sorgen macht, in jemanden, der sehr bewusst wahrnimmt, was in anderen Teilen der Welt passiert – in Paris, der Aufstand in Watts, L.A.«

Das war die Kurzfassung des 68er-Mythos. Obwohl keiner der Studenten aus Croydon während der Unruhen in Paris war, behaupteten sowohl Malcolm als auch Jamie Reid, sie wären dagewesen, dabei besuchten sie Paris erst später in diesem Jahr: es passte perfekt zum radikalen Mythos der Sex Pistols. Für den Umgang mit ihm ist ihre tatsächliche Anwesenheit oder Abwesenheit unwesentlich. Beide fühlten sich durch den Augenblick verwandelt. Nachdem sie einmal von dem Elixier getrunken hatten, wollten sie nicht einfach nur das Gefühl aufrecht erhalten, sondern dafür sorgen, dass es wieder passierte.

Die Unruhen von 1968 trafen mit einer Umwälzung der Wahrnehmung zusammen. Als die erste »Medien«-Generation nach dem Krieg das Erwachsenenalter erreichte und sah, wie die Welt funktionierte, stellte sie fest, dass sie nicht mit ihren Erfahrungen übereinstimmte. Die spielerischen Techniken der Situationistischen Internationale (SI) trugen nicht nur zum Ausbruch der Unruhen bei – das von den Situationisten inspirierte Über das Elend im Studentenmilieu hatte den Studentenprotesten in Nanterre Zündstoff geliefert –, sondern bestimmten auch den paradoxen Stil der Graffiti und Poster.

»Ich hatte im radikalen Milieu von den Situationisten gehört«, sagt McLaren. »Man ging zu Compendium Books. Wenn man nach Literatur fragte, musste man einen Blicktest bestehen. Dann bekam man diese wunderschöne Zeitschrift mit dem spiegelnden Umschlag in verschiedenen Metallicfarben: gold, grün und mauve. Der Text war französisch: Man versuchte, sich durchzukämpfen, aber es war sehr schwer. Immer, wenn man sich zu langweilen begann, gab es eine dieser wunderbaren Abbildungen, und die brachen die ganze Sache auf. Wegen ihnen habe ich sie gekauft, nicht wegen der Theorie.«

Ebenso wie die psychedelischen Grafiken in den englischen und amerikanischen Underground-Magazinen zeigten diese Slogans und Poster, die die Praktiken der Medien sowohl parodierten als auch angriffen, dass Leuten, die selbst nicht Zeugen der Ereignisse waren, eine Vorstellung von deren Möglichkeiten vermittelbar war. Als der aggressive rhetorische Stil mit dem Maoismus der Zeit verschmolz, traten die verwirrenden Wahrnehmungstricks der SI, ebenso wie der Anarchismus, zunächst in den Hintergrund – bis sie durch entsprechend veränderte Bedingungen wieder reaktiviert wurden.

Wie Michèle Bernstein 1964 schrieb: »Die Situationistische Internationale wurde 1957 auf einer Konferenz in Italien von Künstlern aus verschiedenen europäischen Ländern gegründet. Einige kamen aus den um 1950 entstandenen Avantgarde-Bewegungen, die damals aber noch völlig unbekannt waren: COBRA in Nordeuropa und der Lettrismus in Paris. Zu Beginn bestand das Ziel darin, über die künstlerische Spezialisierung hinauszugehen – über die Kunst als getrennte Aktivität.«

»In der Anfangsphase«, schrieb Peter Wollen in Bitter Victory, »entwickelte die SI eine Reihe von Ideen, die ursprünglich aus der Lettristischen Internationale kamen, von denen die bedeutendsten der urbanisme unitaire, die Psychogeographie, das Spiel als freie und kreative Aktivität, das derive (Umherschweifen) und das detournement (Entwendung) sind. Künstler sollten die Trennung zwischen individuellen Kunstformen überwinden, um Situationen zu schaffen, konstruierte Begegnungen und kreativ gelebte Momente in urbanen Umgebungen, Augenblicke eines veränderten Alltagslebens.«

Dies war ein ehrgeiziges, aber dynamisches Projekt. Pinot Gallizios pittura industriale – mit Malmaschinen und Sprühpistolen nach dem Zufallsprinzip bearbeitete Papierrollen – konnten eine ganze Stadt bedecken und gleichzeitig einen bissigen Kommentar zur Industrialisierung der bildenden Kunst abgeben. 1959 stellte Asger Jorn seine Modifications aus, Kitschkunst, die auf Flohmärkten gekauft und übermalt wurde.

In den frühen 60er Jahren wurde die Situationistische Internationale zunehmend vom theoretischen und dogmatischen Guy Debord dominiert. 1967 veröffentlichte er Die Gesellschaft des Spektakels, ein Buch, das sich bei Philosophen wie Sartre, Lefebvre und Lukács, sowie Urbanisten wie Lewis Mumford bediente. Mittels dieser brillanten Collage aus avantgardistischer Kunst, marxistischer Theorie und existentialistischer Anstößigkeit gestaltete Debord eine Sprache, eine Art negatives Mantra, mit dem das Unbewusste bearbeitet wurde.

Das Buch bringt die Kritik des Alltagsleben auf den neuesten Stand und beschreibt die Nachkriegsbedingungen, durch die Menschen mittels gleichgeschalteter Medien – Fernsehen, Zeitungen, Popmusik und Kultur – versklavt werden. »Die durch und durch zur Ware gewordene Kultur«, schrieb Debord in These Nummer 193, »muss auch zur Star-Ware der spektakulären Gesellschaft werden. [...] In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts (wird die Kultur) die treibende Rolle in der Wirtschaftsentwicklung spielen, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts vom Automobil und in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von der Eisenbahn gespielt wurde.«

In den 60er Jahren dominierte Debords Persönlichkeit die SI, was sowohl die Dynamik der Bewegung beeinflusste – ablesbar an den Spaltungen und Ausschlüssen – als auch die Verbreitung der Produkte und Ideen der SI im Vereinigten Königreich forcierte. Bereits 1960 fand eine SI-Konferenz in Großbritannien statt, an der auch die britischen Mitglieder teilnahmen, wie der Maler Ralph Rumney und der schottische Dichter und Beat-Autor Alex Trocchi. Abgesehen von Trocchis utopischer »Sigma«-Bewegung übersprang Großbritannien größtenteils die erste, konventionell-künstlerische Phase der SI und rezipierte sie vor allem über die Flugschriften.

SI-Material kam nur sporadisch ins Land. Vieles an den Situationisten wurde in Großbritannien als Pop verstanden, als philosophische Neufassung der Pop Art. Denn wegen der Verbindung von Großbritannien zu Amerika wurde die Zukunft nicht in philosophischen Begriffen, sondern in Begriffen gesehen, die Richard Hamilton in seinem Manifest von 1956 umriss: »Populär, vergänglich, entbehrlich, massenproduziert, jung, geistreich, sexy, albern, glamourös, big business.« Ab 1966 wurde diese Zukunft von aggressiven Popgruppen wie den Beatles, den Kinks und den Rolling Stones in die Welt getragen.

Die englische Reaktion auf die SI bestand in einer Zeitschrift, Heatwave, deren erste Ausgabe (Juli 1966) Material von den Amsterdamer Provos und aus amerikanischen anarchistischen Veröffentlichungen wie dem Rebel Worker enthielt und das alles zu einer Collage verarbeitete. Die programmatischen Bestandteile handelten von britischer Popkultur: John O’Connor schrieb eine Kritik über den ersten »Teen Take-Over«-Roman, Only Lovers Left Alive von Dave Wallis, der die nahe Zukunft beschreibt, in der »die Erwachsenen mit ›Drückeberger‹-Pillen Selbstmord begingen und die Teenager die Macht übernahmen.«

In Die Saat der Zerstörung legte Charles Radcliffe die Grundlagen für die kommenden zwanzig Jahre subkultureller Theorie. Radcliffe griff sechs »inoffizielle Jugendbewegungen« – die »Teddy Boys«, »The Ton-up Kids« (Biker), die »Raver« etc. – heraus, die gleichermaßen Symptom und Kritik des Nachkriegskapitalismus sind. »Die Tatsachen künden davon«, schlussfolgerte er, »dass die revoltierende Jugend eine bleibende Wirkung auf diese Gesellschaft hat, da sie deren Voraussetzungen und ihren Status hinterfragt und bereit ist, den eigenen Abscheu auf die Straße zu kotzen. Sie hat ihre ersten unsicheren politischen Gesten mit einer Unmittelbarkeit vorgebracht, die Revolutionäre nicht bestreiten, sondern beneiden sollten.«

Die zweite Ausgabe von Heatwave reproduzierte Material der SI, das Radcliffe, Mit-Herausgeber Christopher Gray, Timothy Clark und Donald Nicholson-Smith in der zweiten Jahreshälfte 1966 zusammengetragen hatten. SI-Texte wurden verbreitet: »Ten Days that shook the University wurde großzügig unter den Studenten, die sich für aktuelle radikale Aktivitäten interessierten, verteilt«, erzählt Paul Sieveking, ein Student in Cambridge, der die erste Übersetzung von Raoul Vaneigems Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen ins Englische anfertigte. »Es war eine Entdeckung: es verschaffte einem einen gewissen Vorteil vor Leuten, die nichts davon wussten. Danach kam Vaneigems Basisbanalitäten heraus, in einem dunkelblauen Umschlag, das von einem komischen Typen verkauft wurde, Martin Housden, der damit durchs Land reiste. Heatwave war nicht besonders weit verbreitet, nur in London, würde ich sagen. Man konnte dieses Zeug im Wooden Shoe Bookshop in der Old Compton Street und anarchistischen Stützpunkten wie Freedom bekommen. Der Keller von Better Books war vollgestopft mit Samisdats, Phrasendreschereien und Manifesten. Der ursprüngliche Einfluss der SI lag weniger auf der urbanistischen Seite: Ich glaube der Begriff war ›hermetischer Terrorismus‹.«

Im Dezember 1967 fielen Gray, Radcliffe, Clark und Nicholson-Smith der Dynamik der SI zum Opfer: Ausschluss »wegen irrer Exzesse«. »Man hielt ihre Unterstützung dieser ziemlich nebulösen Straßengang Motherfuckers für einigermaßen unkritisch«, sagt Sieveking.

»Vaneigem ging rüber in die Vereinigten Staaten und traf einen Typen namens Hoffman, der auf Tarot-Karten stand. Als sich Gray und Smith weigerten, abzuschwören, wurden sie ausgeschlossen.«

In Großbritannien gründeten einige Ex-Situationisten eine SI/Motherfucker-Mutation King Mob und erklärten sich selbst und ihre Politik in ihrer Zeitschrift King Mob Echo. Auf dem Titelblatt der ersten Ausgabe im April 1968 war ein maskierter blouson noir mit einem Molotow-Cocktail und einem Zitat von Marx zu sehen: »Ich bin nichts, und ich müsste alles sein«, während sich im Innenteil Aphorismen fanden, die Marx, Hegel und Emerson auf »poetische« Weise verbanden: »Meine Utopie«, wurde deklamiert, »ist eine Umwelt, die so gut funktioniert, dass man darin durchdrehen kann.«

Der Name King Mob stammte aus Christopher Hibberts Buch von 1958, damals das einzig verfügbare über die Gordon Riots im Juni 1780, die John Nicholson den »großen Freiheitsaufstand« nannte, der eine anarchische Woche lang dauerte und der französischen Revolution wenige Jahre später ähnelte. Indem sie diesen unbekannten Moment in der britischen Geschichte bejubelten, versuchte die Gruppe ein ungeordnetes, anarchisches Großbritannien ins Licht der Aufmerksamkeit zu rücken, das bislang ignoriert worden war. Es war der Versuch, das unzufriedene Grollen, das noch vor den Ereignissen des folgenden Monats immer lauter wurde, in einen spezifisch britischen Zusammenhang zu stellen.

King Mob waren nicht die einzigen – eine weitere Pro-Situ-Gruppe, der Kim Philby Dining Club, wurde im Oktober 1968 in Cambridge gegründet –, sie waren Teil eines Prozesses. Wie es der Kopf von King Mob, Christopher Gray, ausdrückte: »Der Geist ist wichtiger als die Fakten.« Das Ausmaß von McLarens Beteiligung an King Mob wurde in späteren Pro-Situ-Flugschriften debattiert: Christopher Gray erinnert sich an McLaren als »einen großäugigen Kunststudenten, der nicht besonders involviert war.«

Die einzige Aktion, an der McLaren beteiligt war, fand im Dezember 1968 statt, als fünfundzwanzig Leute von King Mob, einer davon als Nikolaus verkleidet, in die Spielzeugabteilung bei Selfridges platzten und vorbeilaufenden Kindern und deren verdutzten Eltern Spielzeug schenkten. Diese Aktion wurde begleitet von einer anonymen Flugschrift: »Weihnachten: Es sollte toll werden, aber es ist schrecklich«, lautete die Überschrift. »Nieder mit dem Betrug. Zündet die Oxford Street an, tanzt um das Feuer.«

McLaren war einer der fünfundzwanzig: »Wir verteilten das Spielzeug und die Kinder rannten davon. Die Kaufhausdetektive und die Polizisten stürzten sich auf uns. Ich rannte in den Fahrstuhl. Da war nur ich und eine alte Dame: die Türen öffneten sich und ich sah die ganzen Polizisten. Ich schnappte mir die alte Dame und tat so, als würde ich ihr helfen. Sobald wir aus dem Kaufhaus raus waren, machte ich mich aus dem Staub.«

Malcolm beobachtete genau. King Mob hatte ebensoviel mit angloamerikanischer Poprevolte zu tun wie mit französischer Theorie und versuchte, Kontakte mit »Straftätern« zwischen »fünfzehn und fünfundzwanzig oder mit Verrückten« herzustellen. Fußball-Hooligans waren für King Mob die »Avantgarde der britischen Arbeiterklasse«. Es gab Graffiti-Feldzüge in und um Notting Hill Gate herum, wo Slogans wie »Die Straße des Exzesses führt zum Palace of Willesden« einen geheimnisvollen, flüchtigen Monolog führten. Auf der Suche nach utopischen Metaphern fetischisierte King Mob sowohl revolutionäre Gewalt als auch Popkultur. Man feierte Valerie Solanas, Autorin des präfeministischen Traktats Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer (SCUM Manifest), die 1968 auf Andy Warhol schoss und damit Theorie in Praxis umsetzte.

Aus der Verklammerung von revolutionärer Rhetorik und Popkultur entstand wenig. Das lag zum einen an den revolutionären Prioritäten – terroristische Gruppen wie die Weathermen in den USA, Baader/Meinhof in Deutschland und die Angry Brigade im Vereinigten Königreich bewegten sich auf einen bewaffneten Kampf zu – und zum anderen an der Marginalität von Gruppen wie King Mob. Ende der 60er Jahre war Popkultur monolithisch. Die Beatles und die Rolling Stones mit ihren unkonventionellen, wenn nicht gar revolutionären, Haltungen und zweideutigen Äußerungen über die Ereignisse von 1968, wurden von multinationalen Unternehmen finanziert.

Von den Popradikalen stellte sich damals niemand diesem zentralen Widerspruch, dass ihre radikalen Ausdrucksformen von einer mächtigen anglo-amerikanischen Musikindustrie transportiert wurden, die es sich in den späten 60er Jahren leisten konnte, Schwierigkeiten mit enormen Honorarvorschüssen zu ersticken. Niemand verfügte über eine Sprache, um diese Kritik zu formulieren, abgesehen von obskuren Veröffentlichungen wie Raoul Vaneigems Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen. »Der Begriff des ›Teenagers‹«, schrieb er, »führt bereits auf den Weg dazu, den Käufer dem gekauften Produkt anzugleichen.«

Der Versuch von King Mob, die Kluft zwischen Popkultur und revolutionärer Theorie zu überbrücken, schlug fehl. In den späten 60er Jahren war der Traum von der »Jugendkultur« noch zu mächtig. Die libertären Strömungen der späten 60er Jahre prägten das Leben vieler. Für Malcolm McLaren und seine Weggefährten Fred Vermorel und Jamie Reid würde das Leben niemals mehr so sein wie zuvor. In jenen Strömungen konnten sie schwimmen, eine Sprache für ihre Wut finden, ihren Groll und ihre Ideale. Sie fanden hauptsächlich durch den Einfluss der SI Geschmack an der neuen Medienpraxis – Manifeste, Flugschriften, Montagetechnik, Streiche und Fehlinformationen –, die ihrem Gefühl, die Dinge würden sich bewegen und am Ende gar verändern lassen, Gestalt verlieh.


Foto aus dem »Oxford Street«-Film, 1970 (© Malcolm McLaren)

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