promo_banner

Реклама

Читать книгу: «Wie ich es sehe», страница 2

Шрифт:

No satisfaction

Ich hatte immer geglaubt, wenn du nicht zur Schule gehst und auf der Straße lebst, dann schläfst du jeden Tag, solange du magst, und musst den lieben langen Tag keinen Handschlag tun. Ich weiß auch nicht, wie ich auf diese Idee kam, denn Geld, Essen und Drogen fallen bekanntlich nicht vom Himmel. Gemütlich war es auch nicht. Alle Knochen taten mir weh, mein Mund war staubtrocken, und ich strengte mich an, nicht an mein schönes, breites Bett zu denken, meine weiche Decke, die warme Dusche und das Nutellabrötchen, das ich zu Hause in zwei Stunden wegknuspern würde. Es war erst sechs Uhr. Der Tag war hell und jung. Die Meisen und Spatzen im Baum über uns zwitscherten irre laut. Ich sah einen Fuchs, der den Weg querte und Richtung Rhein lief.

Axel hockte neben mir, schaute in seinen Taschenspiegel und kämmte seine blonden, langen Strähnen aus dem Gesicht.

„Guten Morgen, Prinzessin, ich muss los, arbeiten.“

Ich fragte mich, wo und was jemand arbeitete, der so roch und eine Ratte in seiner Jackentasche trug. Ich versuchte gegen die in mir aufsteigende Angst vor dem langen Tag anzukämpfen und hoffte Axel vor Einbruch der Dunkelheit wiederzusehen.

„Ich lauf jetzt runter zu den Wiesen und hol mir in der Oase einen Stapel Zeitungen“, redete er weiter. „Wenn es gut läuft, dann bin ich sie bis mittags los. Ich habe einen festen Platz vor dem Supermarkt. Die Leute kennen mich, ich habe da schon meine Abonnenten, könnte man sagen. Dann fahr ich zurück zur Oase, esse was, quatsche ein bisschen und hol mir einen weiteren Packen. Die verkauf ich in der Bahn. Nicht ganz so einfach.“

Axel hörte gar nicht mehr auf zu reden. In der Oase trafen sich die Penner und ich machte stets einen möglichst weiten Bogen um den Ort, weil sie stanken und einen anbettelten. Ich hatte das Gefühl, er war stolz auf sich und er vertraute mir.

„Irgendwann habe ich eine Wohnung, glaub mir, Prinzessin. Ich werde nicht auf der Straße verrecken. Ich hab ein Konto bei der Bank, da sind schon ein paar Tausend drauf.“

Dann sagte er mir tatsächlich, was ich seiner Meinung nach machen sollte. Der Junge hatte mich einfach adoptiert.

„Und du, ich möchte, dass du zur Schule gehst. Ich pass auf dich auf, versprochen. Heute Abend kannst du wieder herkommen, du kannst neben mir pennen, ich teil mein Essen mit dir, auch Wodka, wenn ich welchen habe, und dann erzähle ich dir meine Geschichte. Aber gleich bin ich weg hier, und du auch. Morgen früh bring ich dich hin. Heute gehst du alleine, versprichst du’s mir?“

Ich versprach es. Dabei wusste ich genau, ich würde mein Versprechen brechen. Ich konnte ja gar nicht zur Schule ohne meine Sachen. Ich musste erst nach Hause, und da konnte ich auf keinen Fall hin.

Mama kaufte Axels Zeitung auch manchmal, ohne sie zu lesen. Nur um zu unterstützen, dass die Leute etwas taten und ihre Würde bewahrten, wie sie das nannte.

Jetzt wurde auch Sina wach. Ich hörte, wie sie im Schlaf stöhnte und sich hin- und her wälzte. Ich hörte, wie sie vor sich hin schimpfte, sie wisse nicht, wie sie diesen verdammten grausamen Tag überstehen solle und sie brauche unbedingt Stoff, um überhaupt aufstehen zu können. Sie wisse sonst nicht, wie sie das Futter für Balou kaufen sollte, dass sie ja nicht immer klauen könnte, wo sie neulich schon wieder erwischt worden sei. Auf Polizei und Knast habe sie nun gar keinen Bock mehr. Also hieß es auftreten am Dom. Oder gammeln gehen, aber das sei noch schlimmer. Das mache sie nur, wenn sie sich verletzt hätte oder aus sonst welchen Gründen zu nichts mehr in der Lage sei. Für ne Linie Speed würde sie jetzt alles geben, nur hätte sie nichts mehr.

Außer mir hatte das auch der Typ gehört, der auf einer Bank in der Nähe seinen Rausch ausschlief. Ich schätzte ihn auf 25, mit Glatze und Knasttätowierungen an Schultern und Armen. Er schälte sich aus seinem Schlafsack und kam zu uns rüber. Er sah sie nur mit einem dreckigen Grinsen an, und Sina war sofort auf den Beinen, hängte sich an seinen Arm und verschwand mit ihm in den Büschen. Nach zehn Minuten war sie wieder da und machte sich über ein Tütchen weißen Pulvers her.

Jedenfalls konnte ich an diesem Tag nicht in die Schule. Ich hatte nichts zu tun und da konnte ich den Tag genauso gut mit Sina verbringen. Sina interessierte mich einfach viel mehr als die von Jungs, Beauty und Klamotten besessenen Tussen aus meiner Klasse. Für manche von denen war es das Größte, wenn sie ins Einkaufszentrum fahren und im parfümierten Shop der angesagten Tussenmarke, wo die extrem scharf aussehenden Verkäufer oben ohne ihre Kundschaft bedienten, eines der Shirts kaufen konnten, die sich nur durch den aufgedruckten Namen von anderen unterschieden. Das war ihr Ding, aber mir gab das rein gar nichts. No satisfaction.

Ich war ganz sicher, tief in Sinas Innern würde sich ein kostbares Geheimnis verbergen wie ein leuchtender Edelstein im Innern der Erde. Die Leute hier draußen mussten frei sein und mehr sie selbst als die, die brav zur Schule und in ihre öden Ausbildungen gingen, die sie auf vierzig Jahre Ausbeutung und Routine vorbereiteten.

Sinas Augen leuchteten warm und dunkel unter ihrem New-York-Yankees-Basecap, das irgendein Tourist im Park verloren hatte und nun ihren Kopf vor Sonne schützte. Sie glühte vor künstlich erzeugter Energie und spielte fröhlich mit Balou. Sie holte ihm frisches Wasser von der automatischen Bewässerung der Blumenbeete im Park, die im Sommer jeden Morgen angestellt wurde. Ihr Gang war kraftvoll und anmutig.

Ich war todmüde. Das grelle Sonnenlicht schmerzte in den Augen, die Glieder taten mir weh von der Nacht auf hartem Boden und ich ahnte, dass dieses Leben ganz schön anstrengend werden würde.

Dann lief ich mit Sina über die Brücke zum Dom hinüber. Sina hatte ihr Seil dabei, den wie sie sagte, wichtigsten Gegenstand in ihrem Leben. Sie hatte das Seil geklaut, in einem Laden, wo es alles für Schiffe und Seefahrer gab – hier am Fluss träumten ein paar reiche Leute von den sieben Weltmeeren, während sie mit ihren Booten im sicheren Hafen der Stadt vor Anker lagen.

Balou lief fröhlich neben uns her. Wie jedes Mal, wenn ich über die Brücke ging, genoss ich den Anblick des Flusses, der Wolken, des Lichtes, das er reflektierte. Das Leben strömte dann frei und stark durch mich hindurch, nichts konnte dieses Gefühl zerstören.

Sina erzählte mir von ihrer Mutter und ihrem Vater, die putzen gingen, beide für dieselbe Firma. Immer waren sie müde, zu müde zum Spielen als sie klein war, zu müde zum Reden, zu müde zum Kochen. Obwohl beide arbeiteten, reichte das Geld nicht und oft gab es ab der Monatsmitte kaum noch was zum Essen. Ihre Alten wohnten in einer Stadt im Süden, Sina hatte seit zwei Jahren nichts mehr von ihnen gehört und wollte auch nie wieder etwas von ihnen hören. Mit 13 beschlossen sie und ihre Schwester, abzuhauen. Hänsel und Gretel, nur dass im Märchen die Eltern ihre Kinder in den Wald schicken und am Ende alles gut wird.

Anfangs war es für sie und ihre Schwester noch okay, da sie viele Leute kannten, die sie mochten und bei denen sie pennen konnten, aber auf die Dauer war es elend zu gammeln und bei sogenannten Freunden zu schlafen. Irgendwann wussten die beiden dann nicht mehr, wo sie abends hingehen sollten. Sie übernachteten in Schrebergärten. In einem Garten, in dem sie nie jemand sahen, stand ein Auto mit kaputter Scheibe. Darin haben sie ab dann geschlafen. Und Hunger hatten sie andauernd. Sie fingen an, Roller und Fahrräder zu klauen und zu verticken. Eines nachts lösten sich ihre Probleme scheinbar in Luft auf. Die Schwestern hatten die warme Nacht im Stadtpark verbracht, Wodka getrunken, in der Nähe die Bars und die feiernden Leute bis in den frühen Morgen. Direkt auf der Ecke zum Park gab es einen Kiosk, ein ganz enges Büdchen, bis hoch an die Decke stapelten sich in Wandregalen Alkohol, Süßigkeiten, Zigaretten. Sie kauften Tabak und fragten den freundlichen, alten Mann, der sich im Innern gerade eben zur Wand mit den Waren umdrehen konnte, wie man von so einem Geschäft überhaupt leben konnte. Der bat sie hinein in das Räumchen, öffnete eine Tür im Boden und ließ sie auf der Leiter voraus gehen in einen Verschlag im Keller, wo er ihnen eine Babybadewanne aus Plastik voll mit Geldscheinen zeigte. Als der freundliche alte Mann versuchte sie anzufassen, schoben sie ihn einfach zur Seite, drückten ihn auf den Boden, wo er so schnell nicht wieder auf die Füße kam, und kletterten aus dem Kellerloch hinaus ins Dunkel der Nacht, die Hosentaschen voller Scheine, die sie aus der Wanne gefischt hatten. Die Nacht darauf brachen sie durch den Hausflur, der offen stand, in den Keller ein und stopften den verbliebenen Inhalt der Wanne in zwei Plastiktüten. Statt in den Süden abzuhauen, verbrachten sie den Rest des Sommers in der Gartenkolonie. Sie hatten genug Geld, um jeden Tag ins Schwimmbad zu gehen und Pizza zu holen, wann immer sie Hunger hatten. Der Garten mit dem alten Auto interessierte keinen, dachten sie. Es gab da nur eine hagere Frau in den Fünfzigern mit Kurzhaarfrisur, die es störte, dass die sich in dem Garten mit dem alten Auto anhäufenden Pizzakartons zu stinken begannen. Schließlich kamen die Bullen und nahmen sie mit. Im Knast wollten sie Sina helfen und ließen sie eine Schneiderlehre machen. Nur gibt dir nachher keiner einen Job mit einer Ausbildung, die du im beschissenen Knast gemacht hast. Also hing Sina wieder auf der Straße. Und jetzt war sie hier. Im Sommer läuft es ganz gut. Manchmal stellt sie sich mit dem spanischen Studenten an die große Durchgangsstraße am Autobahnzubringer. Es gibt da einen im blauweiß geblümten Hemd, mit schwarzen Locken, dunkler Haut – mit dem läuft es gut. Er jongliert mit gelben, grünen und blauen Plastikkugeln. Sie wechseln sich ab. Wenn er dran ist, wartet sie unter dem Baum auf der Verkehrsinsel. Dann kommt sie mit ihrem Einrad herausgefahren und jongliert dabei mit Tellern. Bevor die Ampel auf Grün schaltet, haben sie zehn Sekunden, um vor den Fenstern Geld zu sammeln. Manchmal träumt sie davon, dass sie entdeckt wird. Ringling Brothers and Barnum Bailey zum Beispiel: Zirkusdirektor Jim Ragona will sich den Dom ansehen wie die ganzen anderen Touristen. Dann sieht er Sina und vergisst den Dom. Er findet ihre Show so großartig, dass er sie auf der Stelle anheuert. Sie muss sich beeilen und schnell von allen verabschieden, weil sie am nächsten Tag nach New York fliegen. Dort startet der Zirkuszug zur großen USA-Tournee und sie ist der Höhepunkt der Show.

Eines Tages wird jeder Mensch für fünfzehn Minuten berühmt sein, sagt ein berühmter Künstler aus Amerika.

Von ihrer Schwester sprach sie nie mehr. Man hatte sie voneinander getrennt und die Kleine in ein Heim gesteckt. Sie wollte nichts mehr mit Sina zu tun haben, gab ihr die Schuld an der Misere.

Ihr hättet Sina mal sehen sollen, sie war wirklich beeindruckend in ihrem Flitterröckchen auf dem Seil. Jetzt hier vor dem Dom spannte sie das Seil in Hüfthöhe zwischen zwei Laternenmasten. Sie begann mit ein paar kleinen Sprüngen, ließ sich auf den Hintern fallen und federte von dort in den Stand. Sie konnte in der Mitte in die Knie gehen, sich umdrehen und einige kleine, federnde Sprünge vollführen. Das war die Vorbereitung für den Spagat, in den sie sich mühelos fallen ließ. Sie drehte sich dann im Sprung um ihre eigene Achse und ließ als Höhepunkt drei Saltos folgen. Aus dem letzten Salto sprang sie auf den Boden und schlug fünf Räder hintereinander auf dem Straßenpflaster.

Ich sah eine große Artistin und konnte kaum glauben, dass dies dieselbe Sina war, die heute Morgen für eine Linie Speed mit der Glatze hinterm Busch verschwunden war.

Die Leute applaudierten und als ich Geld in ihrem Basecap einsammelte, kam einiges zusammen. Ich dachte die ganze Zeit darüber nach, wie ich ihr helfen könnte. Dass ein berühmter Zirkusdirektor hier vorbeikommen würde, war eher unwahrscheinlich. Aber die Sina, die hier und heute auf dem Seil vibrierte, die war unfassbar da und lebendig.

Ganz im Gegensatz zu mir. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was das für ein mulmiges Gefühl war, mit Balou an meiner Seite unter der Laterne zu hocken und zu wissen, ich musste gleich mit dem Hut rumgehen. Und das mitten auf der Domplatte, wo mich jederzeit eine Freundin meiner Mutter oder jemand aus meiner Schule erkennen könnte.

Am Ende war ich aber froh, dass wir das Geld hatten und Sina mir einen kleinen Teil davon für meine Dienste abgab. Wir gingen gleich rüber zu Mäckes und holten uns Cheeseburger, Pommes und Cola. Ich nahm nur die Pommes, denn ich aß schon lange keine toten Tiere mehr. Und danach ging es mir etwas besser.

Sina wollte dann unbedingt noch in den Bahnhof. Wir hockten in der Ecke zwischen Parfümerie und Aufzug auf dem Boden, schauten uns die Passanten von unten an und hofften, die Bullen würden nicht so schnell vorbeikommen. Sina musste nicht lange warten. Ein ziemlich alter Typ, vielleicht so um die fünfunddreißig, der übliche Ohrring, unauffälliges T-Shirt, schmuddelige Jeans, schlechte Haut und glasige Augen kam von der Bäckerei zu uns rüber, beugte sich zu uns runter, flüsterte, ob wir lecker Speed haben wollten und versprach uns drei Tage Film.

Sina sah mich an: „Komm schon Prinzessin, kleine Belohnung für deine Hilfe. Wenn du bei uns bleibst, kommst du früher oder später sowieso drauf. Und einmal ist kein Mal. Du bist doch ein kluges, starkes Mädchen, kannst mir ruhig Gesellschaft leisten.“

Wie aus weiter Ferne hörte ich sie so reden. Mir schwindelte ein bisschen und Angst stieg in mir auf, die Angst, es könne für Sina niemals gut werden. Außer vielleicht jemand Anständiges würde sich schrecklich in sie verlieben und sie retten. Das Bild des spanischen Studenten an der Straße, der sie eines Tages mit in den Süden nehmen würde, leuchtete in mir auf und verschwand gleich wieder. An ihren Traum vom Zirkusleben konnte ich jetzt ebenso wenig glauben wie sie. Das zog mich vollkommen runter. Weil ich jetzt kein Spielverderber sein wollte, ging ich mit Sina runter ins Bahnhofsklo. Die fünfzig Pfennig, die sie fürs Pinkeln nahmen, konnten wir uns heute leisten. Im Klo packte Sina ihr Besteck aus, Spiegel, Röhrchen, Klinge, und zog zwei feine Linien auf dem Spiegel. Mann, als ich das sah, wurde ich so neugierig, ich musste es einfach ausprobieren. Und als ich das Zeug durch meine Nase einzog, war es, als flösse reine Energie durch meinen Körper und würde mich aufladen. Ich fühlte mich, als könne mir rein gar nichts mehr jemals passieren, und für ein paar Stunden verließ mich die Angst vor der kommenden Nacht.

Ich hatte mich jetzt zwei Tage nicht gewaschen, und das war ich nicht gewohnt. Eben hatte ich mein Gesicht unter den Wasserhahn gehängt und meine Arme und Achseln gewaschen. Ich hatte mich nicht getraut, mich zwischen den Beinen zu waschen wie Sina am Becken neben mir. Ihr hättet mal sehen sollen, wie die Tussen, die hier aufs Klo gingen, sie anstarrten. Und dann flogen wir auch schon raus. Das wurde hier unten nicht geduldet, dass sich Straßenkinder zwischen Ladys mit Rollkoffern der Körperpflege widmeten. So etwas wie uns durfte es eigentlich gar nicht geben, ihr hättet die mal hören sollen. Meine Klamotten rochen schon ein bisschen komisch. So konnte ich jedenfalls nicht zur Schule gehen, und das hatte ich Axel versprochen.

Jedenfalls überlegte ich die ganze Zeit, wie ich mal nach Hause könnte in mein Zimmer und meine Sachen für die Schule holen, frische Klamotten und Geld, denn das hier wurde doch allmählich schwierig. Also, wenn ich Mama anrief, gäbe es Geld, das glaubte ich wenigstens.

Meine Mutter musste mir helfen. Sie musste doch ein schlechtes Gewissen haben, weil sie mich rausgeworfen hatte. Sie musste doch Angst haben, ich könnte hier verhungern.

Ich lief quer durch den Bahnhof zu den Telefonzellen am Haupteingang und rief sie an. Die Lautsprecheransagen über ein- und abfahrende Züge zerschnitten die Stimme meiner Mutter.

„Hallo, Rose“.

Ich spürte, wie sie sich anstrenge, ihrer Stimme einen fröhlichen und liebevollen Klang zu verleihen.

„Was machst du denn am Bahnhof, wie geht es dir?“.

„Dir ist es doch eh egal, wo ich bin und wie es mir geht, Mama! Ich brauche meine Schulsachen und Geld.“

„Du kannst sie dir abholen kommen und du kannst auch zu Hause bleiben, wenn du aufhörst mich anzubrüllen und mir sagst, wo du dich aufhältst.“

„Mama, du hast mich rausgeworfen. Ich komme nicht mehr nach Hause.“

„Gut, dann komm morgen Nachmittag ins Café um die Ecke vom Atelier. Ich bring dir deine Sachen mit.“

Mama tat so, als wäre alles richtig, wie es war. Ich wünschte mir nur, dass sie mich bat nach Hause zu kommen. Und sie sollte sich bei mir entschuldigen.

Wiedersehen mit Mama

Mama strahlte mich an, als ich ins Café kam.

„Rose, wie geht es dir? Es ist so schön, dich zu sehen.“

„Hallo“, mehr brachte ich nicht raus. Wut stieg in mir auf. Ich stand mal wieder voll unter Strom. Ich wollte mich unbedingt zusammenreißen und es gelang mir tatsächlich, nicht gleich auf sie loszugehen und mit Fäusten auf sie einzuschlagen.

„Rose, möchtest du dir etwas bestellen. Die haben hier guten Kuchen.“

Das war mir bekannt, denn in besseren Zeiten hatten wir hier regelmäßig mit meiner Schwester gesessen und die Kuchen durchprobiert. Es nervte mich, dass Mama so fremd tat, und ich bekam Angst, jeden Moment würde auch noch meine Schwester auftauchen. Die suchte nämlich gelegentlich nach mir und versuchte mich zu retten. Sie hatte sogar ihre ganzen Freunde angestiftet. Bald konnte ich mich kaum mehr irgendwo blicken lassen, ohne dass mich jemand von denen anquatschte.

Obwohl ich mir schon vorher fest vorgenommen hatte, Mamas vorhersehbare Einladung zu leckerem Kuchen und Cappuccino abzulehnen, um ja nicht irgendwelche guten alten Zeiten heraufzubeschwören, knickte ich angesichts der in der Vitrine ausgestellten Torten ein und bestellte Milchcafé mit Schokokuchen. Es war ein französisches Café. Die Gäste hockten an zierlichen Holztischen unter Kronleuchtern, lasen Zeitung, plauderten. Alle gut genährt, so zwischen zwanzig und dreißig, von der Uni, gesund und in hübschen, frisch gewaschenen Klamotten. Ich spürte meinen Körpergeruch und ihre Blicke auf mir. Ich konnte noch so eben als übermüdeter, ungepflegter Teenager durchgehen, der offensichtlich Stress mit seiner Mutter hatte.

Meine Mutter reichte mir eine Papiertüte rüber, gefüllt mit einem Schreibblock, Bleistiften, Markern und einem teuren pinkfarbenen Kugelschreiber. Die feinen Sachen sollten mir wohl Lust machen, mich an einen aufgeräumten Schreibtisch zu setzen und französische Vokabeln fein säuberlich in ein dafür vorgesehenes Heftchen zu notieren. Ich stopfte sie in meinen Rucksack.

„Rose, komm mit mir nach Hause. Wir finden einen Weg.“

Sie suchte meinen Blick.

„Du hast mich rausgeworfen“.

Ich hielt die Augen starr auf meinen Teller gerichtet. Ich erwartete ihre Entschuldigung.

Jetzt redete sie auf mich ein. Angeblich hatte sie nicht gewusst, was sie sonst hätte tun sollen. Sie könne mich nicht entscheiden lassen, wann ich abends nach Hause käme, und schon gar nicht, wo ich die Nächte verbrächte. Was ich jetzt mache, dürfe sie sich auch nicht mehr lange ansehen. Wenn ich in den nächsten Tagen nicht nach Hause kommen und mich an Regeln halten wolle, müsse sie mich als vermisst melden und die Polizei würde mich schon irgendwann aufgreifen und heimbringen. Wenn ich nicht bei ihr leben wolle, würde sie das akzeptieren, aber ich könnte auf keinen Fall auf der Straße leben. Das würde sie nicht zulassen. Es gebe gute Internate, in denen Kinder, die es daheim bei ihren Eltern nicht aushielten, ihren Schulabschluss machen könnten.

Mit diesem Gelaber, das sie offenbar lange vorbereitet hatte, war sie entschieden zu weit gegangen. Erst warf sie mich raus und jetzt drohte sie mit der Polizei und wollte mich in ein Internat stecken. Ich nahm meine Sachen und schrie sie an, ich wolle sie nie mehr wiedersehen und sie sei nicht länger meine Mutter.

Sie versuchte mich zu beruhigen. Sie meinte, wir könnten über alles reden und dass ich doch ihr Kind sei und es immer bleiben würde.

Glücklicherweise saßen wir im Café und alle starrten uns an, sonst wäre ich mit Sicherheit auf sie losgegangen, hätte sie gebissen und ihre Arme zerkratzt. Ich schnappte meinen Rucksack und rannte auf die Straße, Kaffee und Kuchen musste ich leider stehen lassen.

Inzwischen war es später Nachmittag, Zeit mich auf den Weg zu Axel machen. Ich war froh über die Schulsachen in meinem Rucksack, denn sie konnten als Beweis dafür durchgehen, dass ich, wenn ich schon heute nicht dagewesen war, morgen in die Schule gehen würde. Mit meinen Sachen konnte ich mich in der Klasse wieder blicken lassen. Ich würde allen erzählen, wie es war. Die ganze Klasse sollte es wissen. Ich lebte jetzt auf der Straße, weil meine Mutter mich rausgeworfen hatte. Meine Mutter ließ mich von den Bullen suchen und wollte mich in ein Internat stecken, weit weg von Zuhause.

Бесплатный фрагмент закончился.

399
627,41 ₽