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Mei­nem Va­ter war sein eig­ner Le­bens­gang bis da­hin ziem­lich nach Wunsch ge­lun­gen; ich soll­te den­sel­ben Weg ge­hen, aber be­que­mer und wei­ter. Er schätz­te mei­ne an­ge­bor­nen Ga­ben umso mehr, als sie ihm man­gel­ten: denn er hat­te al­les nur durch un­säg­li­chen Fleiß, An­halt­sam­keit und Wie­der­ho­lung er­wor­ben. Er ver­si­cher­te mir öf­ters, frü­her und spä­ter, im Ernst und Scherz, dass er mit mei­nen An­la­gen sich ganz an­ders wür­de be­nom­men und nicht so lie­der­lich da­mit wür­de ge­wirt­schaf­tet ha­ben.

Durch schnel­les Er­grei­fen, Ver­ar­bei­ten und Fest­hal­ten ent­wuchs ich sehr bald dem Un­ter­richt, den mir mein Va­ter und die üb­ri­gen Lehr­meis­ter ge­ben konn­ten, ohne dass ich doch in ir­gen­det­was be­grün­det ge­we­sen wäre. Die Gram­ma­tik miss­fiel mir, weil ich sie nur als ein will­kür­li­ches Ge­setz an­sah; die Re­geln schie­nen mir lä­cher­lich, weil sie durch so vie­le Aus­nah­men auf­ge­ho­ben wur­den, die ich alle wie­der be­son­ders ler­nen soll­te. Und wäre nicht der ge­reim­te an­ge­hen­de La­tei­ner ge­we­sen, so hät­te es schlimm mit mir aus­ge­se­hen; doch die­sen trom­mel­te und sang ich mir gern vor. So hat­ten wir auch eine Geo­gra­fie in sol­chen Ge­dächt­nis­ver­sen, wo uns die ab­ge­schmack­tes­ten Rei­me das zu Be­hal­ten­de am bes­ten ein­präg­ten, z. B.:

Ober-Ys­sel; viel Mo­rast

Macht das gute Land ver­hasst.

Die Sprach­for­men und -wen­dun­gen fass­te ich leicht; so auch ent­wi­ckel­te ich mir schnell, was in dem Be­griff ei­ner Sa­che lag. In rhe­to­ri­schen Din­gen, Chri­en und der­glei­chen tat es mir nie­mand zu­vor, ob ich schon we­gen Sprach­feh­ler oft hint­an­ste­hen muss­te. Sol­che Auf­sät­ze wa­ren es je­doch, die mei­nem Va­ter be­son­de­re Freu­de mach­ten, und we­gen de­ren er mich mit man­chem, für einen Kna­ben be­deu­ten­den Geld­ge­schenk be­lohn­te.

Mein Va­ter lehr­te die Schwes­ter in dem­sel­ben Zim­mer Ita­liä­nisch, wo ich den Cel­la­ri­us aus­wen­dig zu ler­nen hat­te. In­dem ich nun mit mei­nem Pen­sum bald fer­tig war und doch still sit­zen soll­te, horch­te ich über das Buch weg und fass­te das Ita­liä­ni­sche, das mir als eine lus­ti­ge Ab­wei­chung des La­tei­ni­schen auf­fiel, sehr be­hän­de.

An­de­re Früh­zei­tig­kei­ten in Ab­sicht auf Ge­dächt­nis und Kom­bi­na­ti­on hat­te ich mit je­nen Kin­dern ge­mein, die da­durch einen frü­hen Ruf er­langt ha­ben. Des­halb konn­te mein Va­ter kaum er­war­ten, bis ich auf Aka­de­mie ge­hen wür­de. Sehr bald er­klär­te er, dass ich in Leip­zig, für wel­ches er eine große Vor­lie­be be­hal­ten, gleich­falls Jura stu­die­ren, als­dann noch eine an­de­re Uni­ver­si­tät be­su­chen und pro­mo­vie­ren soll­te. Was die­se zwei­te be­traf, war es ihm gleich­gül­tig, wel­che ich wäh­len wür­de; nur ge­gen Göt­tin­gen hat­te er, ich weiß nicht warum, ei­ni­ge Ab­nei­gung, zu mei­nem Leid­we­sen: denn ich hat­te ge­ra­de auf die­se viel Zu­trau­en und große Hoff­nun­gen ge­setzt.

Fer­ner er­zähl­te er mir, dass ich nach Wetz­lar und Re­gens­burg, nicht we­ni­ger nach Wien und von da nach Ita­li­en ge­hen soll­te; ob er gleich wie­der­holt be­haup­te­te, man müs­se Pa­ris vor­aus se­hen, weil man aus Ita­li­en kom­mend sich an nichts mehr er­get­ze.

Die­ses Mär­chen mei­nes künf­ti­gen Ju­gend­gan­ges ließ ich mir gern wie­der­ho­len, be­son­ders da es in eine Er­zäh­lung von Ita­li­en und zu­letzt in eine Be­schrei­bung von Nea­pel aus­lief. Sein sons­ti­ger Ernst und sei­ne Tro­cken­heit schie­nen sich je­der­zeit auf­zu­lö­sen und zu be­le­ben, und so er­zeug­te sich in uns Kin­dern der lei­den­schaft­li­che Wunsch, auch die­ser Pa­ra­die­se teil­haft zu wer­den.

Pri­vat­stun­den, wel­che sich nach und nach ver­mehr­ten, teil­te ich mit Nach­bars­kin­dern. Die­ser ge­mein­sa­me Un­ter­richt för­der­te mich nicht; die Leh­rer gin­gen ih­ren Schlen­dri­an, und die Un­ar­ten, ja manch­mal die Bös­ar­tig­kei­ten mei­ner Ge­sel­len brach­ten Un­ruh, Ver­druss und Stö­rung in die kärg­li­chen Lehr­stun­den. Chre­sto­ma­thi­en, wo­durch die Be­leh­rung hei­ter und man­nig­fal­tig wird, wa­ren noch nicht bis zu uns ge­kom­men. Der für jun­ge Leu­te so star­re Cor­ne­li­us Nepos, das all­zu leich­te und durch Pre­dig­ten und Re­li­gi­ons­un­ter­richt so­gar tri­vi­al ge­w­ord­ne Neue Te­sta­ment, Cel­la­ri­us und Pa­sor konn­ten uns kein In­ter­es­se ge­ben; da­ge­gen hat­te sich eine ge­wis­se Reim- und Ver­se­wut, durch Le­sung der da­ma­li­gen deut­schen Dich­ter, un­ser be­mäch­tigt. Mich hat­te sie schon frü­her er­grif­fen, als ich es lus­tig fand, von der rhe­to­ri­schen Be­hand­lung der Auf­ga­ben zu der poe­ti­schen über­zu­ge­hen.

Wir Kna­ben hat­ten eine sonn­täg­li­che Zu­sam­men­kunft, wo je­der von ihm selbst ver­fer­tig­te Ver­se pro­du­zie­ren soll­te. Und hier be­geg­ne­te mir et­was Wun­der­ba­res, was mich sehr lan­ge in Un­ruh setz­te. Mei­ne Ge­dich­te, wie sie auch sein moch­ten, muss­te ich im­mer für die bes­sern hal­ten. Al­lein ich be­merk­te bald, dass mei­ne Mit­wer­ber, wel­che sehr lah­me Din­ge vor­brach­ten, in dem glei­chen Fal­le wa­ren und sich nicht we­ni­ger dünk­ten; ja was mir noch be­denk­li­cher schi­en, ein gu­ter, ob­gleich zu sol­chen Ar­bei­ten völ­lig un­fä­hi­ger Kna­be, dem ich üb­ri­gens ge­wo­gen war, der aber sei­ne Rei­me sich vom Hof­meis­ter ma­chen ließ, hielt die­se nicht al­lein für die al­ler­bes­ten, son­dern war völ­lig über­zeugt, er habe sie selbst ge­macht; wie er mir, in dem ver­trau­te­ren Ver­hält­nis, worin ich mir ihm stand, je­der­zeit auf­rich­tig be­haup­te­te. Da ich nun sol­chen Irr­tum und Wahn­sinn of­fen­bar vor mir sah, fiel es mir ei­nes Ta­ges aufs Herz, ob ich mich viel­leicht selbst in dem Fal­le be­fän­de, ob nicht jene Ge­dich­te wirk­lich bes­ser sei­en als die mei­ni­gen, und ob ich nicht mit Recht je­nen Kna­ben eben so toll als sie mir vor­kom­men möch­te? Die­ses be­un­ru­hig­te mich sehr und lan­ge Zeit: denn es war mir durch­aus un­mög­lich, ein äu­ße­res Kenn­zei­chen der Wahr­heit zu fin­den; ja ich stock­te so­gar in mei­nen Her­vor­brin­gun­gen, bis mich end­lich Leicht­sinn und Selbst­ge­fühl und zu­letzt eine Pro­be­ar­beit be­ru­hig­ten, die uns Leh­rer und El­tern, wel­che auf un­se­re Scher­ze auf­merk­sam ge­wor­den, aus dem Steg­reif auf­ga­ben, wo­bei ich gut be­stand und all­ge­mei­nes Lob da­von­trug.

Man hat­te zu der Zeit noch kei­ne Biblio­the­ken für Kin­der ver­an­stal­tet. Die Al­ten hat­ten selbst noch kind­li­che Ge­sin­nun­gen und fan­den es be­quem, ihre ei­ge­ne Bil­dung der Nach­kom­men­schaft mit­zu­tei­len. Au­ßer dem »Or­bis pic­tus« des Amos Co­me­ni­us kam uns kein Buch die­ser Art in die Hän­de; aber die große Fo­lio­bi­bel, mit Kup­fern von Me­ri­an, ward häu­fig von uns durch­blät­tert; Gott­frieds »Chro­nik«, mit Kup­fern des­sel­ben Meis­ters, be­lehr­te uns von den merk­wür­digs­ten Fäl­len der Welt­ge­schich­te; die »A­cer­ra phi­lo­lo­gi­ca« tat noch al­ler­lei Fa­beln, My­tho­lo­gi­en und Selt­sam­kei­ten hin­zu; und da ich gar bald die Ovi­di­schen »Ver­wand­lun­gen« ge­wahr wur­de und be­son­ders die ers­ten Bü­cher flei­ßig stu­dier­te, so war mein jun­ges Ge­hirn schnell ge­nug mit ei­ner Mas­se von Bil­dern und Be­ge­ben­hei­ten, von be­deu­ten­den und wun­der­ba­ren Ge­stal­ten und Er­eig­nis­sen an­ge­füllt, und ich konn­te nie­mals lan­ge Wei­le ha­ben, in­dem ich mich im­mer­fort be­schäf­tig­te, die­sen Er­werb zu ver­ar­bei­ten, zu wie­der­ho­len, wie­der her­vor­zu­brin­gen.

Ei­nen fröm­mern, sitt­li­chern Ef­fekt, als jene mit­un­ter ro­hen und ge­fähr­li­chen Al­ter­tüm­lich­kei­ten, mach­te Fe­ne­lons »Te­le­mach«, den ich erst nur in der Neu­kirchi­schen Über­set­zung ken­nen lern­te und der, auch so un­voll­kom­men über­lie­fert, eine gar süße und wohl­tä­ti­ge Wir­kung auf mein Ge­müt äu­ßer­te. Dass »Ro­bin­son Cru­soe« sich zei­tig an­ge­schlos­sen, liegt wohl in der Na­tur der Sa­che; dass »die In­sel Fel­sen­burg« nicht ge­fehlt habe, lässt sich den­ken. Lord An­sons »Rei­se um die Welt« ver­band das Wür­di­ge der Wahr­heit mit dem Fan­ta­sie­rei­chen des Mär­chens, und in­dem wir die­sen treff­li­chen See­mann mit den Ge­dan­ken be­glei­te­ten, wur­den wir weit in alle Welt hin­aus­ge­führt und ver­such­ten, ihm mit un­sern Fin­gern auf dem Glo­bus zu fol­gen. Nun soll­te mir auch noch eine reich­li­che­re Ern­te be­vor­stehn, in­dem ich an eine Mas­se Schrif­ten ge­riet, die zwar in ih­rer ge­gen­wär­ti­gen Ge­stalt nicht vor­treff­lich ge­nannt wer­den kön­nen, de­ren In­halt je­doch uns man­ches Ver­dienst vo­ri­ger Zei­ten in ei­ner un­schul­di­gen Wei­se nä­her bringt.

Der Ver­lag oder viel­mehr die Fa­brik je­ner Bü­cher, wel­che in der fol­gen­den Zeit un­ter dem Ti­tel Volks­schrif­ten, Volks­bü­cher, be­kannt und so­gar be­rühmt ge­wor­den, war in Frank­furt selbst, und sie wur­den, we­gen des großen Ab­gangs, mit ste­hen­den Let­tern auf das schreck­lichs­te Lösch­pa­pier fast un­le­ser­lich ge­druckt. Wir Kin­der hat­ten also das Glück, die­se schätz­ba­ren Über­res­te der Mit­tel­zeit auf ei­nem Tisch­chen vor der Hau­stü­re ei­nes Bü­cher­tröd­lers täg­lich zu fin­den und sie uns für ein paar Kreu­zer zu­zu­eig­nen. Der »Eu­len­spie­gel«, »Die vier Hai­mons­kin­der«, »Die schö­ne Me­lu­si­ne«, »Der Kai­ser Ok­ta­vi­an«, »Die schö­ne Ma­ge­lo­ne«, »For­tu­na­tus«, mit der gan­zen Sipp­schaft bis auf den »Ewi­gen Ju­den«, al­les stand uns zu Diens­ten, so­bald uns ge­lüs­te­te, nach die­sen Wer­ken an­statt nach ir­gend ei­ner Nä­sche­rei zu grei­fen. Der größ­te Vor­teil da­bei war, dass, wenn wir ein sol­ches Heft zer­le­sen oder sonst be­schä­digt hat­ten, es bald wie­der an­ge­schafft und aufs neue ver­schlun­gen wer­den konn­te.

Wie eine Fa­mi­li­en­spa­zier­fahrt im Som­mer durch ein plötz­li­ches Ge­wit­ter auf eine höchst ver­drieß­li­che Wei­se ge­stört und ein fro­her Zu­stand in den wi­der­wär­tigs­ten ver­wan­delt wird, so fal­len auch die Kin­der­krank­hei­ten un­er­war­tet in die schöns­te Jahrs­zeit des Früh­le­bens. Mir er­ging es auch nicht an­ders. Ich hat­te mir eben den »For­tu­na­tus« mit sei­nem Sä­ckel und Wünsch­hüt­lein ge­kauft, als mich ein Miss­be­ha­gen und ein Fie­ber über­fiel, wo­durch die Po­cken sich an­kün­dig­ten. Die Ein­imp­fung der­sel­ben ward bei uns noch im­mer für sehr pro­ble­ma­tisch an­ge­se­hen, und ob sie gleich po­pu­lä­re Schrift­stel­ler schon fass­lich und ein­dring­lich emp­foh­len, so zau­der­ten doch die deut­schen Ärz­te mit ei­ner Ope­ra­ti­on, wel­che der Na­tur vor­zu­grei­fen schi­en. Spe­ku­lie­ren­de Eng­län­der ka­men da­her aufs fes­te Land und impf­ten, ge­gen ein an­sehn­li­ches Ho­no­rar, die Kin­der sol­cher Per­so­nen, die sie wohl­ha­bend und frei von Vor­ur­teil fan­den. Die Mehr­zahl je­doch war noch im­mer dem al­ten Un­heil aus­ge­setzt; die Krank­heit wü­te­te durch die Fa­mi­li­en, tö­te­te und ent­stell­te vie­le Kin­der, und we­ni­ge El­tern wag­ten es, nach ei­nem Mit­tel zu grei­fen, des­sen wahr­schein­li­che Hil­fe doch schon durch den Er­folg man­nig­fal­tig be­stä­tigt war. Das Übel be­traf nun auch un­ser Haus und über­fiel mich mit ganz be­son­de­rer Hef­tig­keit. Der gan­ze Kör­per war mit Blat­tern über­sä­et, das Ge­sicht zu­ge­deckt, und ich lag meh­re­re Tage blind und in großen Lei­den. Man such­te die mög­lichs­te Lin­de­rung und ver­sprach mir gol­de­ne Ber­ge, wenn ich mich ru­hig ver­hal­ten und das Übel nicht durch Rei­ben und Krat­zen ver­meh­ren woll­te. Ich ge­wann es über mich; in­des­sen hielt man uns, nach herr­schen­dem Vor­ur­teil, so warm als mög­lich und schärf­te da­durch nur das Übel. End­lich, nach trau­rig ver­flos­se­ner Zeit, fiel es mir wie eine Mas­ke vom Ge­sicht, ohne dass die Blat­tern eine sicht­ba­re Spur auf der Haut zu­rück­ge­las­sen; aber die Bil­dung war merk­lich ver­än­dert. Ich selbst war zu­frie­den, nur wie­der das Ta­ges­licht zu se­hen und nach und nach die fle­cki­ge Haut zu ver­lie­ren; aber an­de­re wa­ren un­barm­her­zig ge­nug, mich öf­ters an den vo­ri­gen Zu­stand zu er­in­nern; be­son­ders eine sehr leb­haf­te Tan­te, die frü­her Ab­göt­te­rei mit mir ge­trie­ben hat­te, konn­te mich, selbst noch in spä­tem Jah­ren, sel­ten an­se­hen, ohne aus­zu­ru­fen: »Pfui Teu­fel! Vet­ter, wie gars­tig ist Er ge­wor­den!« Dann er­zähl­te sie mir um­ständ­lich, wie sie sich sonst an mir er­geht, wel­ches Auf­se­hen sie er­regt, wenn sie mich um­her­ge­tra­gen; und so er­fuhr ich früh­zei­tig, dass uns die Men­schen für das Ver­gnü­gen, das wir ih­nen ge­währt ha­ben, sehr oft emp­find­lich bü­ßen las­sen.

We­der von Ma­sern noch Wind­blat­tern, und wie die Quäl­geis­ter der Ju­gend hei­ßen mö­gen, blieb ich ver­schont, und je­des Mal ver­si­cher­te man mir, es wäre ein Glück, dass die­ses Übel nun für im­mer vor­über sei; aber lei­der droh­te schon wie­der ein andres im Hin­ter­grund und rück­te her­an. Alle die­se Din­ge ver­mehr­ten mei­nen Hang zum Nach­den­ken, und da ich, um das Pein­li­che der Un­ge­duld von mir zu ent­fer­nen, mich schon öf­ter im Aus­dau­ern ge­übt hat­te, so schie­nen mir die Tu­gen­den, wel­che ich an den Stoi­kern hat­te rüh­men hö­ren, höchst nach­ah­mens­wert, umso mehr, als durch die christ­li­che Dul­dungs­leh­re ein Ähn­li­ches emp­foh­len wur­de.

Bei Ge­le­gen­heit die­ses Fa­mi­li­en­lei­dens will ich auch noch ei­nes Bru­ders ge­den­ken, wel­cher, um drei Jahr jün­ger als ich, gleich­falls von je­ner An­ste­ckung er­grif­fen wur­de und nicht we­nig da­von litt. Er war von zar­ter Na­tur, still und ei­gen­sin­nig, und wir hat­ten nie­mals ein ei­gent­li­ches Ver­hält­nis zu­sam­men. Auch über­leb­te er kaum die Kin­der­jah­re. Un­ter meh­rern nach­ge­bor­nen Ge­schwis­tern, die gleich­falls nicht lan­ge am Le­ben blie­ben, er­in­ne­re ich mich nur ei­nes sehr schö­nen und an­ge­neh­men Mäd­chens, die aber auch bald ver­schwand, da wir denn nach Ver­lauf ei­ni­ger Jah­re, ich und mei­ne Schwes­ter, uns al­lein üb­rig sa­hen und nur umso in­ni­ger und lie­be­vol­ler ver­ban­den.

Jene Krank­hei­ten und an­de­re un­an­ge­neh­me Stö­run­gen wur­den in ih­ren Fol­gen dop­pelt läs­tig: denn mein Va­ter, der sich einen ge­wis­sen Er­zie­hungs- und Un­ter­richts­ka­len­der ge­macht zu ha­ben schi­en, woll­te je­des Ver­säum­nis un­mit­tel­bar wie­der ein­brin­gen und be­leg­te die Ge­ne­sen­den mit dop­pel­ten Lek­tio­nen, wel­che zu leis­ten mir zwar nicht schwer, aber in­so­fern be­schwer­lich fiel, als es mei­ne in­ne­re Ent­wick­lung, die eine ent­schie­de­ne Rich­tung ge­nom­men hat­te, auf­hielt und ge­wis­ser­ma­ßen zu­rück­dräng­te.

Vor die­sen di­dak­ti­schen und päd­ago­gi­schen Be­dräng­nis­sen flüch­te­ten wir ge­wöhn­lich zu den Gro­ß­el­tern. Ihre Woh­nung lag auf der Fried­ber­ger Gas­se und schi­en eh­mals eine Burg ge­we­sen zu sein: denn wenn man her­an­kam, sah man nichts als ein großes Tor mit Zin­nen, wel­ches zu bei­den Zei­ten an zwei Nach­bar­häu­ser stieß. Trat man hin­ein, so ge­lang­te man durch einen schma­len Gang end­lich in einen ziem­lich brei­ten Hof, um­ge­ben von un­glei­chen Ge­bäu­den, wel­che nun­mehr alle zu ei­ner Woh­nung ver­ei­nigt wa­ren. Ge­wöhn­lich eil­ten wir so­gleich in den Gar­ten, der sich an­sehn­lich lang und breit hin­ter den Ge­bäu­den hin er­streck­te und sehr gut un­ter­hal­ten war, die Gän­ge meis­tens mit Reb­ge­län­der ein­ge­fasst, ein Teil des Raums den Kü­chen­ge­wäch­sen, ein an­de­rer den Blu­men ge­wid­met, die vom Früh­jahr bis in den Herbst in reich­li­cher Ab­wechs­lung die Ra­bat­ten so wie die Bee­te schmück­ten. Die lan­ge, ge­gen Mit­tag ge­rich­te­te Mau­er war zu wohl ge­zo­ge­nen Spa­lier-Pfir­sich­bäu­men genützt, von de­nen uns die ver­bo­te­nen Früch­te den Som­mer über gar ap­pe­tit­lich ent­ge­gen­reif­ten. Doch ver­mie­den wir lie­ber die­se Sei­te, weil wir un­se­re Genä­schig­keit hier nicht be­frie­di­gen durf­ten, und wand­ten uns zu der ent­ge­gen­ge­setz­ten, wo eine un­ab­seh­ba­re Rei­he Jo­han­nis- und Sta­chel­beer­bü­sche un­se­rer Gie­rig­keit eine Fol­ge von Ern­ten bis in den Herbst er­öff­ne­te. Nicht we­ni­ger war uns ein al­ter, ho­her, weit­ver­brei­te­ter Maul­beer­baum be­deu­tend, so­wohl we­gen sei­ner Früch­te, als auch weil man uns er­zähl­te, dass von sei­nen Blät­tern die Sei­den­wür­mer sich er­nähr­ten. In die­sem fried­li­chen Re­vier fand man je­den Abend den Groß­va­ter mit be­hag­li­cher Ge­schäf­tig­keit ei­gen­hän­dig die fei­ne­re Obst- und Blu­men­zucht be­sor­gend, in­des ein Gärt­ner die grö­be­re Ar­beit ver­rich­te­te. Die viel­fa­chen Be­mü­hun­gen, wel­che nö­tig sind, um einen schö­nen Nel­ken­flor zu er­hal­ten und zu ver­meh­ren, ließ er sich nie­mals ver­drie­ßen. Er selbst band sorg­fäl­tig die Zwei­ge der Pfir­sich­bäu­me fä­cher­ar­tig an die Spa­lie­re, um einen reich­li­chen und be­que­men Wachs­tum der Früch­te zu be­för­dern. Das Sor­tie­ren der Zwie­beln von Tul­pen, Hya­zin­then und ver­wand­ter Ge­wäch­se, so wie die Sor­ge für Auf­be­wah­rung der­sel­ben über­ließ er nie­man­den; und noch er­in­ne­re ich mich gern, wie em­sig er sich mit dem Oku­lie­ren1 der ver­schie­de­nen Ro­sen­ar­ten be­schäf­tig­te. Da­bei zog er, um sich vor den Dor­nen zu schüt­zen, jene al­ter­tüm­li­chen le­der­nen Hand­schu­he an, die ihm beim Pfei­fer­ge­richt jähr­lich in Tri­plo über­reicht wur­den, wor­an es ihm des­halb nie­mals man­gel­te. So trug er auch im­mer einen talar­ähn­li­chen Schlaf­rock und auf dem Haupt eine fal­ti­ge schwar­ze Samt­müt­ze, so­dass er eine mitt­le­re Per­son zwi­schen Al­ki­nous und Laer­tes hät­te vor­stel­len kön­nen.

Alle die­se Gar­ten­ar­bei­ten be­trieb er eben so re­gel­mä­ßig und ge­nau als sei­ne Amts­ge­schäf­te: denn eh’ er her­un­ter­kam, hat­te er im­mer die Re­gis­tran­de sei­ner Pro­po­nen­den für den an­de­ren Tag in Ord­nung ge­bracht und die Ak­ten ge­le­sen. Eben so fuhr er mor­gens aufs Rat­haus, speis­te nach sei­ner Rück­kehr, nick­te hier­auf in sei­nem Groß­stuhl, und so ging al­les einen Tag wie den an­de­ren. Er sprach we­nig, zeig­te kei­ne Spur von Hef­tig­keit; ich er­in­ne­re mich nicht, ihn zor­nig ge­se­hen zu ha­ben. Al­les, was ihn um­gab, war al­ter­tüm­lich. In sei­ner ge­tä­fel­ten Stu­be habe ich nie­mals ir­gend eine Neue­rung wahr­ge­nom­men. Sei­ne Biblio­thek ent­hielt au­ßer ju­ris­ti­schen Wer­ken nur die ers­ten Rei­se­be­schrei­bun­gen, See­fahr­ten und Län­der-Ent­de­ckun­gen. Über­haupt er­in­ne­re ich mich kei­nes Zu­stan­des, der so wie die­ser das Ge­fühl ei­nes un­ver­brüch­li­chen Frie­dens und ei­ner ewi­gen Dau­er ge­ge­ben hät­te.

Was je­doch die Ehr­furcht, die wir für die­sen wür­di­gen Greis emp­fan­den, bis zum Höchs­ten stei­ger­te, war die Über­zeu­gung, dass der­sel­be die Gabe der Weis­sa­gung be­sit­ze, be­son­ders in Din­gen, die ihn selbst und sein Schick­sal be­tra­fen. Zwar ließ er sich ge­gen nie­mand als ge­gen die Groß­mut­ter ent­schie­den und um­ständ­lich her­aus; aber wir alle wuss­ten doch, dass er durch be­deu­ten­de Träu­me von dem, was sich er­eig­nen soll­te, un­ter­rich­tet wer­de. So ver­si­cher­te er z. B. sei­ner Gat­tin, zur­zeit als er noch un­ter die jün­gern Rats­her­ren ge­hör­te, dass er bei der nächs­ten Va­kanz auf der Schöf­fen­bank zu der er­le­dig­ten Stel­le ge­lan­gen wür­de. Und als wirk­lich bald dar­auf ei­ner der Schöf­fen vom Schla­ge ge­rührt starb, ver­ord­ne­te er am Tage der Wahl und Ku­ge­lung, dass zu Hau­se im Stil­len al­les zum Empfang der Gäs­te und Gra­tu­lan­ten sol­le ein­ge­rich­tet wer­den, und die ent­schei­den­de gold­ne Ku­gel ward wirk­lich für ihn ge­zo­gen. Den ein­fa­chen Traum, der ihn hie­von be­lehrt, ver­trau­te er sei­ner Gat­tin fol­gen­der­ma­ßen: Er habe sich in vol­ler ge­wöhn­li­cher Rats­ver­samm­lung ge­se­hen, wo al­les nach her­ge­brach­ter Wei­se vor­ge­gan­gen; auf ein­mal habe sich der nun ver­stor­be­ne Schöff von sei­nem Sit­ze er­ho­ben, sei her­ab­ge­stie­gen und habe ihm auf eine ver­bind­li­che Wei­se das Kom­pli­ment ge­macht: er möge den ver­las­se­nen Platz ein­neh­men, und sei dar­auf zur Türe hin­aus­ge­gan­gen.

Et­was Ähn­li­ches be­geg­ne­te, als der Schult­heiß mit Tode ab­ging. Man zau­dert in sol­chem Fal­le nicht lan­ge mit Be­set­zung die­ser Stel­le, weil man im­mer zu fürch­ten hat, der Kai­ser wer­de sein al­tes Recht, einen Schult­hei­ßen zu be­stel­len, ir­gend ein­mal wie­der her­vor­ru­fen. Dies­mal ward um Mit­ter­nacht eine au­ßer­or­dent­li­che Sit­zung auf den an­de­ren Mor­gen durch den Ge­richts­bo­ten an­ge­sagt. Weil die­sem nun das Licht in der La­ter­ne ver­lö­schen woll­te, so er­bat er sich ein Stümpf­chen, um sei­nen Weg wei­ter fort­set­zen zu kön­nen. »Gebt ihm ein gan­zes«, sag­te der Groß­va­ter zu den Frau­en: »er hat ja doch die Mühe um mei­net­wil­len.« Die­ser Äu­ße­rung ent­sprach auch der Er­folg: er wur­de wirk­lich Schult­heiß; wo­bei der Um­stand noch be­son­ders merk­wür­dig war, dass, ob­gleich sein Re­prä­sen­tant bei der Ku­ge­lung an der drit­ten und letz­ten Stel­le zu zie­hen hat­te, die zwei sil­ber­nen Ku­geln zu­erst her­aus­ka­men und also die gold­ne für ihn auf dem Grun­de des Beu­tels lie­gen blieb.

Völ­lig pro­sa­isch, ein­fach und ohne Spur von Fan­tas­ti­schem oder Wun­der­sa­mem wa­ren auch die üb­ri­gen der uns be­kannt ge­w­ord­nen Träu­me. Fer­ner er­in­ne­re ich mich, dass ich als Kna­be un­ter sei­nen Bü­chern und Schreib­ka­len­dern ge­stört und dar­in un­ter an­de­ren auf Gärt­ne­rei be­züg­li­chen An­mer­kun­gen aus­ge­zeich­net ge­fun­den: »Heu­te Nacht kam N. N. zu mir und sag­te … . .« Name und Of­fen­ba­rung wa­ren in Chif­fern ge­schrie­ben. Oder es stand auf glei­che Wei­se: »Heu­te Nacht sah ich … .« Das üb­ri­ge war wie­der in Chif­fern, bis auf die Ver­bin­dungs- und an­de­re Wor­te, aus de­nen sich nichts ab­neh­men ließ.

Be­mer­kens­wert bleibt es hie­bei, dass Per­so­nen, wel­che sonst kei­ne Spur von Ah­nungs­ver­mö­gen zeig­ten, in sei­ner Sphä­re für den Au­gen­blick die Fä­hig­keit er­lang­ten, dass sie von ge­wis­sen gleich­zei­ti­gen, ob­wohl in der Ent­fer­nung vor­ge­hen­den Krank­heits- und To­de­ser­eig­nis­sen durch sinn­li­che Wahr­zei­chen eine Vor­emp­fin­dung hat­ten. Aber auf kei­nes sei­ner Kin­der und En­kel hat eine sol­che Gabe fort­ge­erbt; viel­mehr wa­ren sie meis­ten­teils rüs­ti­ge Per­so­nen, le­bens­froh und nur aufs Wirk­li­che ge­stellt.

Bei die­ser Ge­le­gen­heit ge­denk’ ich der­sel­ben mit Dank­bar­keit für vie­les Gute, das ich von ih­nen in mei­ner Ju­gend emp­fan­gen. So wa­ren wir z. B. auf gar man­nig­fal­ti­ge Wei­se be­schäf­tigt und un­ter­hal­ten, wenn wir die an einen Ma­te­ri­al­händ­ler Mel­ber ver­hei­ra­te­te zwei­te Toch­ter be­such­ten, de­ren Woh­nung und La­den mit­ten im leb­haf­tes­ten, ge­dräng­tes­ten Tei­le der Stadt an dem Mark­te lag. Hier sa­hen wir nun dem Ge­wühl und Ge­drän­ge, in wel­ches wir uns scheu­ten zu ver­lie­ren, sehr ver­gnüg­lich aus den Fens­tern zu; und wenn uns im La­den un­ter so vie­ler­lei Wa­ren an­fäng­lich nur das Süß­holz und die dar­aus be­rei­te­ten brau­nen ge­stem­pel­ten Zelt­lein vor­züg­lich in­ter­es­sier­ten, so wur­den wir doch all­mäh­lich mit der großen Men­ge von Ge­gen­stän­den be­kannt, wel­che bei ei­ner sol­chen Hand­lung aus- und ein­flie­ßen. Die­se Tan­te war un­ter den Ge­schwis­tern die leb­haf­tes­te. Wenn mei­ne Mut­ter, in jün­gern Jah­ren, sich in rein­li­cher Klei­dung bei ei­ner zier­li­chen weib­li­chen Ar­beit oder im Le­sen ei­nes Bu­ches ge­fiel, so fuhr jene in der Nach­bar­schaft um­her, um sich dort ver­säum­ter Kin­der an­zu­neh­men, sie zu war­ten, zu käm­men und her­um­zu­tra­gen, wie sie es denn auch mit mir eine gute Wei­le so ge­trie­ben. Zur­zeit öf­fent­li­cher Fei­er­lich­kei­ten, wie bei Krö­nun­gen, war sie nicht zu Hau­se zu hal­ten. Als klei­nes Kind schon hat­te sie nach dem bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten aus­ge­wor­fe­nen Gel­de ge­hascht, und man er­zähl­te sich: wie sie ein­mal eine gute Par­tie bei­sam­men ge­habt und sol­ches ver­gnüg­lich in der fla­chen Hand be­schaut, habe ihr ei­ner da­ge­gen ge­schla­gen, wo­durch denn die wohl­er­wor­be­ne Beu­te auf ein­mal ver­lo­ren ge­gan­gen. Nicht we­ni­ger wuss­te sie sich viel da­mit, dass sie dem vor­bei­fah­ren­den Kai­ser Karl dem Sie­ben­ten, wäh­rend ei­nes Au­gen­blicks, da al­les Volk schwieg, auf ei­nem Prall­stei­ne ste­hend, ein hef­ti­ges Vi­vat in die Kut­sche ge­ru­fen und ihn ver­an­lasst habe, den Hut vor ihr ab­zu­zie­hen und für die­se ke­cke Auf­merk­sam­keit gar gnä­dig zu dan­ken.

Auch in ih­rem Hau­se war um sie her al­les be­wegt, le­bens­lus­tig und mun­ter, und wir Kin­der sind ihr man­che fro­he Stun­de schul­dig ge­wor­den.

In ei­nem ru­hi­gern, aber auch ih­rer Na­tur an­ge­mes­se­nen Zu­stan­de be­fand sich eine zwei­te Tan­te, wel­che mit dem bei der St. Ka­tha­ri­nen-Kir­che an­ge­stell­ten Pfar­rer Starck ver­hei­ra­tet war. Er leb­te sei­ner Ge­sin­nung und sei­nem Stan­de ge­mäß sehr ein­sam und be­saß eine schö­ne Biblio­thek. Hier lern­te ich zu­erst den Ho­mer ken­nen, und zwar in ei­ner pro­sa­i­schen Über­set­zung, wie sie im sie­ben­ten Teil der durch Herrn von Loen be­sorg­ten »Neu­en Samm­lung der merk­wür­digs­ten Rei­se­ge­schich­ten«, un­ter dem Ti­tel: »Ho­mers Be­schrei­bung der Erobe­rung des tro­ja­ni­schen Reichs«, zu fin­den ist, mit Kup­fern im fran­zö­si­schen Thea­ter­sin­ne ge­ziert. Die­se Bil­der verd­ar­ben mir der­ma­ßen die Ein­bil­dungs­kraft, dass ich lan­ge Zeit die Ho­me­ri­schen Hel­den mir nur un­ter die­sen Ge­stal­ten ver­ge­gen­wär­ti­gen konn­te. Die Be­ge­ben­hei­ten selbst ge­fie­len mir un­säg­lich; nur hat­te ich an dem Wer­ke sehr aus­zu­set­zen, dass es uns von der Erobe­rung Tro­jas kei­ne Nach­richt gebe und so stumpf mit dem Tode Hek­tars en­di­ge. Mein Oheim,2 ge­gen den ich die­sen Ta­del äu­ßer­te, ver­wies mich auf den Vir­gil, wel­cher denn mei­ner For­de­rung voll­kom­men Ge­nü­ge tat.

Es ver­steht sich von selbst, dass wir Kin­der, ne­ben den üb­ri­gen Lehr­stun­den, auch ei­nes fort­wäh­ren­den und fort­schrei­ten­den Re­li­gi­ons­un­ter­richts ge­nos­sen. Doch war der kirch­li­che Pro­tes­tan­tis­mus, den man uns über­lie­fer­te, ei­gent­lich nur eine Art von trock­ner Moral: an einen geist­rei­chen Vor­trag ward nicht ge­dacht, und die Leh­re konn­te we­der der See­le noch dem Her­zen zu­sa­gen. Des­we­gen er­ga­ben sich gar man­cher­lei Ab­son­de­run­gen von der ge­setz­li­chen Kir­che. Es ent­stan­den die Se­pa­ra­tis­ten, Pie­tis­ten, Herrn­hu­ter, die Stil­len im Lan­de, und wie man sie sonst zu nen­nen und zu be­zeich­nen pfleg­te, die aber alle bloß die Ab­sicht hat­ten, sich der Gott­heit, be­son­ders durch Chris­tum, mehr zu nä­hern, als es ih­nen un­ter der Form der öf­fent­li­chen Re­li­gi­on mög­lich zu sein schi­en.

Der Kna­be hör­te von die­sen Mei­nun­gen und Ge­sin­nun­gen un­auf­hör­lich spre­chen: denn die Geist­lich­keit so­wohl als die Lai­en teil­ten sich in das Für und Wi­der. Die mehr oder we­ni­ger Ab­ge­son­der­ten wa­ren im­mer die Min­der­zahl, aber ihre Sin­nes­wei­se zog an durch Ori­gi­na­li­tät, Herz­lich­keit, Be­har­ren und Selbst­stän­dig­keit. Man er­zähl­te von die­sen Tu­gen­den und ih­ren Än­de­run­gen al­ler­lei Ge­schich­ten. Be­son­ders ward die Ant­wort ei­nes from­men Klemp­ner­meis­ters be­kannt, den ei­ner sei­ner Zunft­ge­nos­sen durch die Fra­ge zu be­schä­men ge­dach­te: wer denn ei­gent­lich sein Beicht­va­ter sei? Mit Hei­ter­keit und Ver­trau­en auf sei­ne gute Sa­che er­wi­der­te je­ner: Ich habe einen sehr vor­neh­men; es ist nie­mand Ge­rin­ge­res als der Beicht­va­ter des Kö­nigs Da­vid.

Die­ses und der­glei­chen mag wohl Ein­druck auf den Kna­ben ge­macht und ihn zu ähn­li­chen Ge­sin­nun­gen auf­ge­for­dert ha­ben. Ge­nug, er kam auf den Ge­dan­ken, sich dem großen Got­te der Na­tur, dem Schöp­fer und Er­hal­ter Him­mels und der Er­den, des­sen frü­he­re Zorn­äu­ße­run­gen schon lan­ge über die Schön­heit der Welt und das man­nig­fal­ti­ge Gute, das uns dar­in zu teil wird, ver­ges­sen wa­ren, un­mit­tel­bar zu nä­hern; der Weg dazu aber war sehr son­der­bar.

Der Kna­be hat­te sich über­haupt an den ers­ten Glau­bens­ar­ti­kel ge­hal­ten. Der Gott, der mit der Na­tur in un­mit­tel­ba­rer Ver­bin­dung ste­he, sie als sein Werk an­er­ken­ne und lie­be, die­ser schi­en ihm der ei­gent­li­che Gott, der ja­wohl auch mit dem Men­schen wie mit al­lem üb­ri­gen in ein ge­nau­e­res Ver­hält­nis tre­ten kön­ne und für den­sel­ben eben so wie für die Be­we­gung der Ster­ne, für Ta­ges- und Jahrs­zei­ten, für Pflan­zen und Tie­re Sor­ge tra­gen wer­de. Ei­ni­ge Stel­len des Evan­ge­li­ums be­sag­ten die­ses aus­drück­lich. Eine Ge­stalt konn­te der Kna­be die­sem We­sen nicht ver­lei­hen; er such­te ihn also in sei­nen Wer­ken auf und woll­te ihm auf gut alt­tes­ta­ment­li­che Wei­se einen Al­tar er­rich­ten. Na­tur­pro­duk­te soll­ten die Welt im Gleich­nis vor­stel­len, über die­sen soll­te eine Flam­me bren­nen und das zu sei­nem Schöp­fer sich auf­seh­nen­de Ge­müt des Men­schen be­deu­ten. Nun wur­den aus der vor­hand­nen und zu­fäl­lig ver­mehr­ten Na­tu­ra­li­en­samm­lung die bes­ten Stu­fen und Exem­pla­re her­aus­ge­sucht; al­lein, wie sol­che zu schich­ten und auf­zu­bau­en sein möch­ten, das war nun die Schwie­rig­keit. Der Va­ter hat­te einen schö­nen rot­la­ckier­ten gold­ge­blüm­ten Mu­sik­pult, in Ge­stalt ei­ner vier­sei­ti­gen Py­ra­mi­de mit ver­schie­de­nen Ab­stu­fun­gen, den man zu Quar­tet­ten sehr be­quem fand, ob er gleich in der letz­ten Zeit nur we­nig ge­braucht wur­de. Des­sen be­mäch­tig­te sich der Kna­be und bau­te nun stu­fen­wei­se die Ab­ge­ord­ne­ten der Na­tur über ein­an­der, so­dass es recht hei­ter und zu­gleich be­deu­tend ge­nug aus­sah. Nun soll­te bei ei­nem frü­hen Son­nen­auf­gang die ers­te Got­tes­ver­eh­rung an­ge­stellt wer­den; nur war der jun­ge Pries­ter nicht mit sich ei­nig, auf wel­che Wei­se er eine Flam­me her­vor­brin­gen soll­te, die doch auch zu glei­cher Zeit einen gu­ten Ge­ruch von sich ge­ben müs­se. End­lich ge­lang ihm ein Ein­fall, bei­des zu ver­bin­den, in­dem er Räu­cher­kerz­chen be­saß, wel­che, wo nicht flam­mend, doch glim­mend den an­ge­nehms­ten Ge­ruch ver­brei­te­ten. Ja die­ses ge­lin­de Ver­bren­nen und Ver­damp­fen schi­en noch mehr das, was im Ge­mü­te vor­geht, aus­zu­drücken als eine of­fe­ne Flam­me. Die Son­ne war schon längst auf­ge­gan­gen, aber Nach­bar­häu­ser ver­deck­ten den Os­ten. End­lich er­schi­en sie über den Dä­chern; so­gleich ward ein Brenn­glas zur Hand ge­nom­men und die in ei­ner schö­nen Por­zel­lan­scha­le auf dem Gip­fel ste­hen­den Räu­cher­ker­zen an­ge­zün­det. Al­les ge­lang nach Wunsch, und die An­dacht war voll­kom­men. Der Al­tar blieb als eine be­sond­re Zier­de des Zim­mers, das man ihm im neu­en Hau­se ein­ge­räumt hat­te, ste­hen. Je­der­mann sah dar­in nur eine wohl auf­ge­putz­te Na­tu­ra­li­en­samm­lung; der Kna­be hin­ge­gen wuss­te bes­ser, was er ver­schwieg. Er sehn­te sich nach der Wie­der­ho­lung je­ner Fei­er­lich­keit. Un­glück­li­cher­wei­se war eben, als die ge­le­gens­te Son­ne her­vor­stieg, die Por­zel­lan­tas­se nicht bei der Hand: er stell­te die Räu­cher­kerz­chen un­mit­tel­bar auf die obe­re Flä­che des Mu­sik­pul­tes; sie wur­den an­ge­zün­det, und die An­dacht war so groß, dass der Pries­ter nicht merk­te, wel­chen Scha­den sein Op­fer an­rich­te­te, als bis ihm nicht mehr ab­zu­hel­fen war. Die Ker­zen hat­ten sich näm­lich in den ro­ten Lack und in die schö­nen gold­nen Blu­men auf eine schmäh­li­che Wei­se ein­ge­brannt und, gleich als wäre ein bö­ser Geist ver­schwun­den, ihre schwar­zen, un­aus­lösch­li­chen Fuß­stap­fen zu­rück­ge­las­sen. Hier­über kam der jun­ge Pries­ter in die äu­ßers­te Ver­le­gen­heit. Zwar wuss­te er den Scha­den durch die größ­ten Pracht­stu­fen zu be­de­cken, al­lein der Mut zu neu­en Op­fern war ihm ver­gan­gen; und fast möch­te man die­sen Zu­fall als eine An­deu­tung und War­nung be­trach­ten, wie ge­fähr­lich es über­haupt sei, sich Gott auf der­glei­chen We­gen nä­hern zu wol­len.

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1161 стр. 2 иллюстрации
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9783962818869
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