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Von Überlebenden und Systemen

Das vorliegende Buch entwickelt eine Theorie des Genossen als Chiffre für das politische Verhältnis zwischen Menschen, die auf derselben Seite stehen. Diese hebt sich von den beiden widerstreitenden Strömungen ab, die heute in Theorie und Praxis der Linken den Ton angeben und entweder die Überlebenden oder die Systeme in den Mittelpunkt stellen: Der Überlebenden-Diskurs ist in sozialen Medien, akademischen Zusammenhängen und einigen politischen Gruppen präsent. Seinen Ausdruck findet er in einem engen Identitätsbezug und in Rufen nach ausgesuchter Unterstützung (allyship), wie ich unten darlege. Der System-Diskurs überwiegt in ästhetischkonzeptkünstlerischen Gefilden in Form einer posthumanistischen Auseinandersetzung mit Geologie, Gattungssterben, Algorithmen, »Hyperobjekten«, Biosystemen und der Erschöpfung des Planeten.25 Einerseits haben wir also die Überlebenden, die sich nur noch an ihrer Identität festhalten können; eine Identität, die oftmals vom Kampf ums Überleben geprägt sowie an Schmerzen und Traumata gebunden ist.26 Andererseits haben wir Systeme und Prozesse, die in einem so großen, so komplexen Maßstab ablaufen, dass wir sie gedanklich kaum fassen, geschweige denn beeinflussen können.27 Dieses Buch bietet zu beiden eine Alternative.

Beide Strömungen spiegeln den neoliberal-kapitalistischen Rückbau öffentlicher Institutionen und die Intensivierung des Kapitalismus mittels der vernetzten und personalisierten digitalen Medien sowie der Informatisierung, die ich als »kommunikativen Kapitalismus« bezeichne.28 Immer mehr Menschen erleben immer mehr ökonomische Unwägbarkeit, Unsicherheit und Instabilität. Gute Arbeitsplätze sind immer schwerer zu finden und immer leichter zu verlieren. Immer weniger Menschen können mit langfristiger Beschäftigung rechnen oder darauf bauen, dass Leistungen wie eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung und eine angemessene Rentenvorsorge Lohnbestandteil sind. Die Gewerkschaften sind kleiner und schwächer. Die Löhne stagnieren. Die Wohnungen sind unbezahlbar und unzulänglich. Schulen und Universitäten kämpfen mit Haushalts- und Stellenkürzungen, mit wachsenden Studierendenzahlen, mit astronomisch ansteigenden Schulgeldern, höheren Schulden und geringerem Ansehen. Bereits angeschlagen von der Konkurrenz, der Schuldenlast und dem allgemeinen Abbau der kläglichen Überreste öffentlicher und infrastruktureller Ressourcen, brechen Familien auseinander. Die neoliberale Ideologie beschönigt die Lage: Die Individuen hätten eine größere Wahlfreiheit und mehr Chancen, ihre persönliche Verantwortung wahrzunehmen.

Carl Schmitt charakterisiert den Liberalismus bekanntermaßen als das Ersetzen der Politik durch Ethik und Wirtschaft.29 Vergleichen wir nun die Politikverdrängung, die dem Neoliberalismus eigen ist: Da wären individualisierte Selbstfindung, Selbstmanagement, Eigenständigkeit, Ichbezogenheit und – gleichzeitig – ausschlaggebende unpersönliche Prozesse, Kreisläufe und Systeme. Wir haben verantwortliche Individuen, die verantwortlich gemacht und als Zentren autonomer Entscheidung dargestellt werden; und wir haben Individuen, die mit ausweglosen Situationen konfrontiert sind, auf die sie keinerlei Einfluss haben. Die neoliberale Verdrängung der Politik manifestiert sich nicht in Ethik und Wirtschaft, sondern zwischen den Polen »Überlebende« und »Systeme«. Erstere kämpfen um ein Überleben in unwürdigen Verhältnissen, anstatt gegen diese Verhältnisse vorzugehen und sie umzugestalten. Bei Letzteren handelt es sich um Systeme und »Hyperobjekte« (oftmals Gegenstände einer gegenwärtigen oder künftigen Ästhetik), die uns einschränken – Dinge also, die wir sehen und darstellen, vorhersagen und wohl auch beklagen, aber nicht beeinflussen können.30

Verwundbarkeit ist für Überlebende kein Abstraktum. Einige schätzen sie letztlich sogar und leiten ihr Selbstbild daraus ab, dass sie es trotz aller Widrigkeiten schaffen, zu überleben. Die Soziologin Jennifer Silva interviewte eine Reihe von Arbeiterjugendlichen in Massachusetts und Virginia.31 Viele betonten ihre Eigenständigkeit, auf die sie setzten, weil die Erfahrung sie lehrte, dass Andere sie wahrscheinlich immer wieder im Stich lassen oder hintergehen würden. Wenn es ums Überleben geht, könnten sie nur auf sich selbst zählen. Einige haben Krankheiten oder Drogenabhängigkeit erlebt, andere mussten zerrüttete Familien oder gewaltsame Beziehungen überwinden. In ihren Augen ist der Überlebenskampf das Kernmerkmal einer als würdevoll und heldenhaft imaginierten Identität, die sich nur selbst erschaffen kann.

Die Systemszenarien kommen in der Regel ganz ohne Überlebende aus.32 Menschenleben zählen nicht. Die Annahme, sie würden zählen, gilt als erkenntnistheoretischer Fehler oder ontologisches Verbrechen, die es wiedergutzumachen gelte. Bakterien und Steine, planetarische oder gar galaktische Prozesse gelte es zu betrachten, um letztlich das Denken von der anthropozentrischen Hybris, der Anmaßung des zum Zentrum erhobenen Menschen zu lösen. Wenn Menschen überhaupt vorkommen, dann als Problem, als Exzess des Planeten, den es zu begrenzen gelte, als amoklaufende zerstörerische Gattung, als Programmierfehler der Natur.

Der Gegensatz zwischen Überlebenden und Systemen beschert uns eine Linke, die ohne Politik auskommt. In beiden Strömungen gerät der Klassenkampf – der polarisierende Kampf um gesellschaftliche Verhältnisse im Zeichen einer emanzipatorisch-egalitären Zukunft – zur Unverständlichkeit. Anstelle des politischen Kampfes der Proletarisierten haben wir einerseits die parzellierende Behauptung des Besonderen, des Überlebens des Einzelnen, und andererseits eine Obsession mit der näher rückenden, unvermeidlichen Überlebensunmöglichkeit aller. Politik verschwindet in der Sackgasse individualisierter Überlebenschancen vor dem Hintergrund des generalisierten Nicht-Überlebens und Gattungssterbens.

So stark die Überlebens- und Systemströmungen in der heutigen Linken auch sind, bietet unsere aktuelle Lage doch weiterhin Breschen für die Politik. Vier seien genannt: Erstens, den kommunikativen Kapitalismus kennzeichnet die Macht der Vielen, des Numerischen. Die Kapital- und Staatsgewalt setzt auf Big Data und auf die Erkenntnisse, die sich durch Korrelationen aus enormen Datensätzen generieren lassen. Der Treibstoff der sozialen Medien ist die Macht der Zahlen: die Anzahl der Freunde und Follower, die Anzahl der Likes und Retweets. Auf der Straße und in Bewegungen beobachten wir einen abermaligen Fokus auf das Numerische – die Vielen, die aufbegehren, demonstrieren, besetzen und blockieren. Wie mehr als ein Jahrhundert von Arbeiterkämpfen unter Beweis gestellt hat, liegt die Macht des Volkes in der Behauptung der Macht der Vielen über die Wenigen – falls das Volk sich hinreichend organisieren und zusammenschließen kann, um den Kampf aufzunehmen. Eine zweite Bresche besteht darin, dass Identität in abnehmendem Maße als Grundlage linker Politik dienen kann. Aus der Behauptung einer bestimmten Identität ergeben sich noch keine politischen Schlussfolgerungen. Identitätszuschreibungen werden in der Linken umgehend problematisiert, kritisiert und gar zurückgewiesen, wenn Aktivisten in Protesten übergreifende Gemeinsamkeiten schaffen. Der weltweit vordringende Nationalismus lässt vermuten, die Anrufung der Identität erfolge heutzutage tendenziell von rechter Seite. Einmal mehr wendet die Rechte ihre uralte Taktik an und stiehlt linke Themen und Forderungen, indem sie Identitätspolitik nun ihrerseits in den Vordergrund stellt: Der weiße Suprematismus in den Vereinigten Staaten, der Brexit in Großbritannien, der Hindu-Nationalismus in Indien und das Gesetz, mit dem sich Israel zum Nationalstaat des jüdischen Volkes erklärt,33 sind dafür nur einige wenige Beispiele. Die dritte Bresche steht in Verbindung mit der astronomisch anwachsenden Beanspruchung unserer Aufmerksamkeit im kommunikativen Kapitalismus, für die eine Reihe kommunikativer Kurzformen entstanden ist: Hashtags, Meme, Emoticons und bewegte .gifs sowie ein suchmaschinenoptimierter Sprachstil (Listen, FAQs, Keywords, Teaser und Linkbaits).34 Diese Kurzformen verweisen auf die herausgehobene Stellung generischer Marker, also gemeinsamer Bilder und Symbole, die den Kommunikationsfluss fördern und die Zirkulation am Laufen halten. Müssten wir alles lesen oder gar durchdenken, was wir online teilen, würden unsere Social-Media-Netzwerke erlahmen und verstopfen. In dieser Gemengelage dient das Generische als Behälter für eine Vielzahl unkommunizierbarer Inhalte. Durch gemeinsame Symbole entstehen neue Verbindungen zwischen den Protesten, und mit gemeinsamen Bezeichnungen begreifen die Menschen ihre lokalen Probleme als Partikularfälle von etwas Größerem, etwas Weltumspannendem. In der vierten Bresche stoßen die Bewegungen selbst an die Grenzen der Horizontalität, Individualität und Unterstützerrhetorik, die feste Identitäten und Interessen unterstellen. Die Folge ist ein neues Interesse an Parteipolitik und an Fragen der Parteiform – ein verstärkter Diskurs zur Organisierung der proletarisierten Vielen. Das Durchbrechen und Überbrücken der Sackgasse mit der Aufschrift »Überlebende« und »Systeme« ist möglich, durch eine neue Hinwendung zu den Strategien der Vielen, den Institutionen der Allmende und den Kämpfen der Ausgebeuteten.35

Vor diesem Hintergrund lege ich eine Theorie des Genossen vor. Der Genosse steht für ein politisches Verhältnis, in dem wir uns nicht mehr aufhalten mit den Konzepten von Überlebenden oder Systemen und mit den Hypothesen einer unverwechselbaren Besonderheit des Einzelnen oder einer Unmöglichkeit der Politik – in dem wir uns stattdessen annähern an die Gleichheit derer, die auf derselben Seite kämpfen. »Genosse« umreißt die Anforderungen an die sowie die Erwartungen der Menschen, die sich in den emanzipatorisch-egalitären politischen Kampf einbringen. Genossenschaftlichkeit erzeugt Disziplin, Freude, Mut und Begeisterung; das erläutere ich eingehend in Kapitel drei. Wenn die Linke einen radikalen Wandel will, und das ist ihr erklärtes Ziel, dann müssen wir Genossen sein.

Wie aus Unterstützern Genossen werden

Einigen Lesern erscheint »Genosse« als Form der Anrede heute vielleicht unangenehm und deplatziert. Das Wort ist der politischen Kultur in den Vereinigten Staaten wohl allzu fremd. In Europa hingegen gilt es womöglich als stalinistisch, altmodisch oder restriktiv. Ausdrücke wie »Kollege«, die weniger Verpflichtung bedeuten und sich einfacher in den kapitalistischen Rahmen der Europäischen Union fügen, werden häufiger verwendet und sind weniger anstößig. Ganz haltlos sind diese Vorbehalte nicht.

Die US-amerikanischen Berührungsängste verkennen allerdings die Geschichte des Sozialismus und Kommunismus in den Vereinigten Staaten. Und die allgemeineren Berührungsängste sind vor dem Hintergrund des Untergangs der Sowjetunion, der durchdringenden Neoliberalisierung und der Vergötterung individueller Identität durch die kapitalistische Ideologie zu sehen. In einem als »postpolitisch« und »postdemokratisch« analysierten Umfeld ist das Persönliche – die Erfahrungen, Gefühle und Gefährdungen des Einzelnen – zum bevorzugten Ort politischer Betätigung geworden. Eine Überraschung ist das angesichts der neoliberalen Unterwerfung öffentlicher und politischer Praktiken wie Institutionen unter die Marktmechanismen nicht. Doch was die Linke als Sieg verbuchen will, ist das Symptom ihrer Niederlage, nämlich die Erosion der politischen Arbeitermacht und der damit einhergehende Niedergang der Arbeiterparteien. Die Behauptung, das Wort »Genosse« klinge hölzern, ist also weniger deskriptiv als vielmehr symptomatisch. Sie steht für eine Situation, die nach Veränderung schreit, für ein Problem, das gelöst werden muss, und für eine Organisation, die aufzubauen ist.

Wenn nur noch die Identität übrig ist, kann es vernünftig sein, sich daran zu klammern. Zumindest – und allen Widrigkeiten zum Trotz – überlebt man. Wie Silva in ihren Interviews mit Jugendlichen aus dem Arbeitermilieu allerdings herausfand, können sich Menschen so sehr an ihre Identität als Überlebende binden, dass sie die Verhältnisse nicht mehr kritisieren und infrage stellen können, mit denen sie zu kämpfen haben. Weil diese Verhältnisse, meist Teil des rassifiziert-patriarchalen Kapitalismus, als gegeben hingenommen und entweder als kontingent oder als unabänderlich36 aufgefasst werden, erscheint das Überleben selbst als echte politische Errungenschaft.37 Trotzdem hat diese Identitätsbindung etwas Krankhaftes: Man ist hier der Fantasie einer Ganzheit oder Gewissheit verhaftet, der Illusion jenes reinen Ortes, mit der wir uns versichern, im Recht zu sein und auf Seiten der Engel zu stehen. Diese Einbildung versperrt die Sicht darauf, dass Identitäten selbst gespalten, umstritten und Orte des Klassenkampfes sind. Wer sich als Frau, als Schwarzer, als Transgender oder als Überlebender identifiziert, sagt damit noch nichts über das eigene Politikverständnis.

Identitäten sind eher Schauplätze als Grundlage oder Mittel des Kampfes; das wird offenkundig, sobald wir uns dem Konzept der Unterstützerschaft, der allyship, zuwenden. Der Begriff ally, also Unterstützer oder Bündnispartner, hat zuletzt in aktivistischen Kreisen der US-Linken an Bedeutung gewonnen – ungeachtet der mitschwingenden Assoziationen von souveränen Nationalstaaten, die sich in Kriegszeiten zu Bündnissen zusammenschließen. Seit mindestens fünf Jahren wird in den sozialen Medien und an den Universitäten, aber auch unter Stadtteilaktivisten eine intensive Debatte darüber geführt, was es bedeutet, Unterstützer zu sein, und wer Unterstützer sein kann. Unterstützer sind im Allgemeinen privilegierte Menschen, die etwas gegen Benachteiligung Anderer tun wollen. Sie selbst betrachten sich zumeist nicht als Überlebende oder Opfer, aber sie wollen helfen. Unterstützer können also Heteros sein, die für LGBTQ-Menschen eintreten, Weiße, die schwarzen Menschen helfen, Männer, die Frauen beistehen, und so weiter. Noch nicht untergekommen ist mir das Wort als Bezeichnung für Wohlhabende, die sich an Arbeiterkämpfen beteiligen. Unterstützer haben nach eigener Einschätzung kein homophobes, rassistisches oder sexistisches Selbstbild. Sie betrachten sich als die Guten, als Teil der Lösung.

Allerdings, wie es in den Diskussionen über das Unterstützungskonzept oftmals heißt: Sich als Unterstützer zu bezeichnen macht einen noch nicht zum Unterstützer. Allyship ist ein zeit- und energieintensiver Prozess, keine Identität. Man muss daran arbeiten. Ein Großteil der einschlägigen Texte und Videos verfolgt demgemäß didaktische und informative Ziele und kommt als Ratgeber oder Checkliste daher. Diese Anleitungen für gute Unterstützer sind, genau wie die Aufräumratgeber einer Marie Kondō oder die »Clean Eating«-Tipps zur gesunden Ernährung, knappe Lifestyle-Handbücher mit Orientierungstechniken für eine neoliberale Gesellschaft, die von Privilegien und Benachteiligung geprägt ist. Individuen lernen hier, was man nicht sagen und nicht tun sollte. Sie können sich engagiert fühlen und wenn schon nicht die Welt, so doch ihre Einstellung ändern, ohne die Macht zu ergreifen und ohne irgendeinen organisierten politischen Konflikt. Die »Politik« in diesen Unterstützer-Anleitungen besteht aus zwischenmenschlicher Interaktion, individualisierten Gefühlen und vermittelten Affekten.

Die Ratgeber für gute Unterstützer, die online kursieren (als Blogbeiträge, Videos, Artikel und Handouts für Seminare und Universitäten), richten sich immer an ein Individuum mit privilegierter Identität, das sich gegenüber den Marginalisierten und Benachteiligten solidarisch zeigen will. Wie ich gleich genauer ausführen werde, wird dieser potenzielle Unterstützer als jemand vorgestellt, der wissen will, was man sofort, auf eigene Faust und im Alltag tun kann gegen Rassismus, Sexismus, Schwulenfeindlichkeit und andere Formen der Unterdrückung. Als Betätigungsfeld des Unterstützers gelten gemeinhin soziale Medien (wo es etwa darum geht, richtig auf rassistische oder sexistische Äußerungen bei Twitter zu reagieren), Wohltätigkeit (durch Spenden an und Organisieren von Crowdfunding-Kampagnen), der berufliche Kontext (durch Einstellen von Marginalisierten und Förderung von Benachteiligten), Gespräche an der eigenen Schule oder Universität (bei denen man weiß, was man nicht sagt) und manchmal auch der öffentliche Protest (wobei man Veranstaltungen von Anderen nicht dominieren soll). Öfter noch bilden die eigene individuelle Einstellung, Haltung und Verhaltensweise des Unterstützers das hypothetische Betätigungsfeld. Die Ratgeber belehren die Unterstützer darüber, was sie fühlen, denken und tun müssen, wenn sie sich als Menschen betrachten wollen, die auf der Seite der Benachteiligten stehen: Ändern muss sich ihr Bewusstsein.

So erläutert die offene »Anleitung zur Allyship«, die 2016 von der als cisgeschlechtliche schwarze Frau positionierten Amélie Lamont geschrieben wurde, nachdem die Verfasserin bei einer Auseinandersetzung mit einem Rassisten von einem weißen Unterstützer im Stich gelassen worden war:

Unterstützer zu sein bedeutet: den Konflikt als deinen eigenen anzunehmen. Einzugreifen, auch wenn du Angst hast. Die Vorteile deiner Privilegien den nicht privilegierten Menschen zugänglich zu machen. Dir bewusst zu machen, dass sich das Gespräch – bei all deiner Empörung – nicht um dich dreht.38

Allyship ist hier eine Frage des Egos, der Selbsterkenntnis, des alleinstehenden Individuums, das sich als Einzelperson in einen Konflikt einmischt, der eigentlich nicht seiner ist. Dabei werden Konflikte wie Besitztümer oder Gegenstände aufgefasst, die man an sich nehmen, übernehmen und in sich aufnehmen kann; wobei man aufgefordert ist, diese »Erwerbungen« als etwas anzusehen, auf das man als Unterstützer kein Anrecht hat. Doch was dabei genau der Konflikt, was das Politikverständnis ist, das bleibt undurchsichtig, unausgesprochen und eine Frage der persönlichen Wahrnehmung, Haltung oder Befindlichkeit.

Noch ein weiteres Beispiel, hier aus einem BuzzFeed-Beitrag mit dem Titel »Ein besserer Unterstützer sein: Offener Brief an weiße Leute«. Der Text stammt von einer Autorin des BuzzFeed-Podcasts Another Round und beantwortet die Frage einer weißen Person, was es heißt, Unterstützer zu sein:

Hattest du schon mal ein Gespräch mit einem feministischen Mann, das plötzlich ins Stocken gerät, weil dieser sich darüber beklagt, dass Feministinnen eine Sprache verwenden, die Männer und auch feministische Männer ausschließt? (»Nicht alle Männer sind …«) Ich schon! Ein guter Unterstützer zu sein heißt häufig, in ein Gespräch nicht einbezogen zu werden, weil es in dem Gespräch nicht um dich geht. Zuhören ist etwas Gutes. Wenn du dich unbehaglich und ausgeschlossen fühlst, weil du weiß bist, solltest du diese Emotionen annehmen.39

Abermals wird allyship als Charakterfrage betrachtet, als eine Auseinandersetzung nicht mit staatlicher oder kapitalistischer Macht, sondern mit dem eigenen Unbehagen. Unterstützer zu sein bedeutet, einen Habitus des Zuhörens zu entwickeln, sich selbst nicht als Zentrum wahrzunehmen, beiseitezutreten und sich der Lebenswirklichkeiten und Erfahrungen Anderer bewusst zu werden.

In ihrem Essay »Die Grundlagen effektiver Unterstützerschaft« (ursprünglich eine Rede an der Tech Inclusion Melbourne) definiert Karolina Szczur allyship anhand der Emotionsintensität des Unterstützers und anhand dessen, ob der Unterstützer willens und in der Lage ist, die notwendige Arbeit an sich selbst zu leisten:

Es liegt in unserer Verantwortung, unsere Privilegien zu erkennen, zu benennen und zu beeinflussen. Das lässt sich unter anderem erreichen durch einen ständigen Prozess der Selbstbeobachtung, der Reflexion und des Lernens. Sie werden sich verunsichert, unbehaglich, ja sogar angegriffen fühlen, doch je intensiver diese Emotionen sind, desto wahrscheinlicher sind Sie auf dem richtigen Weg.40

Der Umgang mit Privilegien erscheint hier als ein Akt der Innerlichkeit, einer Einwirkung des Selbst auf das Selbst. Diese Politik kann ganz im eigenen Kopf stattfinden. Der Unterstützer ist nicht Teil des Symbolischen, sondern des Imaginären: ein Ideal-Ich beziehungsweise eine idealisierte Version dessen, der wir sein wollen, und eben kein Ich-Ideal beziehungsweise Blickwinkel, aus dem heraus wir uns einschätzen. In dieser Hinsicht spiegelt allyship den Rückzug oder Niedergang des Politischen. Der Raum für Politik ist geschrumpft, doch der Unterstützer verspürt das Bedürfnis zu handeln, unbedingt, dringend und sofort. Unterstützer beeinflussen das, was greifbar ist, dort, wo es greifbar ist: sich selbst, in den sozialen Medien.

Dieser Bewusstwerdungsprozess übernimmt eine zentrale Forderung des kommunikativen Kapitalismus: Bilde dich. Google es. Behellige die Benachteiligten nicht mit deinen Fragen. Das Online-Magazin Everyday Feminism listet zehn Dinge auf, die Unterstützer wissen müssten. Der fünfte Punkt auf dieser Liste lautet: »Unterstützer bilden sich kontinuierlich fort.« Zur Erläuterung heißt es:

Eine der wichtigsten Bildungsarten ist das Zuhören […] aber es gibt unendlich viele Hilfsmittel, die Sie beim Lernen unterstützen (Bücher, Blogs, Fernseh- und Radiosender, Veranstaltungen, YouTube-Videos usw.). Erwarten Sie aber bitte nicht, dass diejenigen, die Sie unterstützen wollen, Ihnen etwas beibringen. Das liegt nicht in ihrer Verantwortung. Natürlich sollten Sie ihnen zuhören, wenn sie einen Teil ihrer Erfahrungen oder Ansichten teilen, aber glauben Sie nicht, sie müssten Ihnen die Mechanismen ihrer Benachteiligung erklären.41

Dieser eigenverantwortliche Bildungsprozess isoliert und individualisiert. Lernen wird begriffen als Konsumption von Informationen – anstatt als Diskussion, als Erarbeitung eines gemeinsamen Verständnisses, als Auseinandersetzung mit den Texten und Dokumenten einer politischen Tradition. Das eigenverantwortliche Lernen hat keinen Bezug zu kollektiv geübter Kritik und ist losgelöst von politischen Positionen oder Zielen. Kriterien, mit denen man Bücher und Blogs, Veranstaltungen und Videos beurteilen könnte, fehlen. Solche Kriterien zu entwickeln obliegt allein dem einzelnen Unterstützer. Das heißt im Grunde: Strafe ohne Disziplin. Der Möchtegern-Unterstützer kann gescholten und bloßgestellt werden, wobei der Kritiker jeder Verantwortung enthoben ist, eine konkrete Anleitung und Unterweisung zu liefern. (Jemandem einfach »Google es doch!« an den Kopf zu knallen, nützt gar nichts.) Bedenkt man zudem, dass »Unterstützer« keine Anrede ist und nicht an die Stelle von »Herr«, »Frau«, »Dr.« oder »Prof.« treten kann, dann scheint das Wort »Unterstützer« weniger Solidarität auszudrücken, als vielmehr eine Grenze zu ziehen, die besagt, dass man nie dazugehören wird. Die Beziehung zwischen Unterstützern und den Menschen, die sie unterstützen, ist ein Verhältnis zwischen Menschen mit verschiedenen Interessen, Erfahrungen und Praktiken.

Der achte Punkt der Liste dessen, was Unterstützer wissen müssen, lautet: »Unterstützer wenden sich an Menschen ihrer Identität«, ihrer Gruppe. »Neben dem Zuhören kann ich mich am besten solidarisch zeigen, indem ich die Menschen meiner Identitätsgruppe sensibilisiere42 Identität erscheint hier als klar und feststehend, unzweideutig und unveränderbar. Individuen sind demnach wie kleine souveräne Staaten, die ihr Territorium verteidigen und sich nur unter der Maßgabe höchster Vorsicht und Eigennützigkeit zusammenschließen. Wer einer gemeinsamen Identität zugeordnet ist, dem wird eine gemeinsame Politik unterstellt – als läge die Identität auf der Hand und als müsste Politik nicht erst hergestellt werden. Wer für eine Politik eintritt, deren Grundlage nicht leichthin der eigenen Identität zugeordnet werden kann, erscheint verdächtig, wird wegen seiner mutmaßlichen Privilegien misstrauisch beäugt und erntet von vornherein Kritik an den zahlreichen Missständen, auf denen diese Privilegien fußen. Das Konzept der allyship selbst bietet Grund für dieses Misstrauen, gegen das Ratgeber à la »Wie werde ich ein besserer Mensch« angeblich anschreiben: Tatsächlich ist es sinnvoll, Menschen zu misstrauen, die Politik lediglich als unmittelbare Genugtuung begreifen, als individualisierten Notbehelf für sehr alte Formen struktureller Benachteiligung und Unterdrückung. Weil Unterstützer sich unter eigennützigen Maßgaben zusammenschließen, können sie sich jederzeit einfach zurückziehen und aussteigen, uns im Stich lassen. Wir können ihrer nicht sicher sein, denn ihr Engagement steht und fällt mit individuellen Einsichten und Befindlichkeiten. Punkt acht in dem Artikel (»Unterstützer wenden sich an Menschen ihrer Identität«) verrät uns, warum das Unterstützerkonzept in linksliberalen Kreisen so gut ankommt. Das Misstrauen gegenüber anderen Identitäten gilt nun auf einmal als funktional und vorteilhaft, und zwar namens einer Politik, die unser ganz besonderes und angreifbares Eigentum – die Identität – aufrechterhält und reguliert und dessen ebenso schwache wie poröse Grenzbereiche aufpoliert. Das Unterstützungskonzept lenkt ab: von der furchteinflößenden Prüfung, sich für eine Seite zu entscheiden; vom Hinnehmen der Disziplin, die mit kollektiver Arbeit einhergeht; von den Organisationsbestrebungen zur Abschaffung des rassistisch-patriarchalen Kapitalismus und eines Staates, der zu dessen Schutze konzipiert ist.

Anstatt also politische Identitäten zu verbinden oder eine Politik auf die Beine zu stellen, die Identität hinter sich lässt, ist allyship ein Symptom der Politikverdrängung zugunsten individualistischer Selbsthilfe-Techniken und moralinsaurer sozialer Medien im kommunikativen Kapitalismus. Zu ihren Grundannahmen zählen: selbstbezogene Individuen, Politik als Besitzgegenstand, eine auf die Haltung reduzierte Transformation und ein unumstößliches, naturalisiertes Zusammenspiel von Privileg und Unterdrückung. Die Akzentuierung des Unterstützens wurzelt in der Auffassung, Identität sei der primäre politische Faktor, und verlagert mithin die Aufmerksamkeit von strategisch-organisatorischen und taktischen Fragen hin zu verhaltenstechnischen Lackmustests, die von vornherein jene Kollektivität ausschließen, auf die eine revolutionäre linke Politik angewiesen ist. Natürlich braucht die Linke Unterstützer und Bündnispartner. Wer Fortschritte machen will, muss mitunter befristete Bündnisse schließen. Ein Kampf mit dem Kommunismus als Horizont wird eine Reihe taktischer Bündnisse zwischen verschiedenen Klassen, Sektoren und Strömungen erfordern. Aber zeitweilige Unterstützer, die auf ihre Eigeninteressen konzentriert sind, sind nicht dasselbe wie Genossen – obwohl sie Genossen werden können. Insofern sollte meine Kritik am Unterstützer als Symptom und Beschränkung der aktuellen Identitätspolitik nicht missverstanden werden als Ablehnung praktischer Bündnispolitik im Rahmen politischer Auseinandersetzungen. Das wäre absurd. Meine Ablehnung gilt dem Unterstützungskonzept als Form und Modell der Kämpfe gegen Benachteiligung, Verelendung, Enteignung und Ausbeutung.

Der kommunikative Kapitalismus fordert Einmaligkeit. Wir sollen wir selbst sein, für uns selbst sprechen und alles selbst machen. Sich einzufügen, nachzumachen und anderen das Wort zu überlassen wird weithin als schlecht angesehen, als Zeichen für Schwäche, Unwissenheit oder Unfreiheit. Die Unmöglichkeit individueller Politik, die Tatsache, dass politischer Wandel immer nur kollektiv stattfinden kann, wird ausgeblendet und verdrängt zugunsten der unausgegorenen Überzeugung, wir würden von Systemen und Kräften bestimmt, die jenseits unseres Handlungsspielraums liegen. Das Klima verändert sich. Wir nicht.

Mit der Erkenntnis, dass die Fixierung auf individuelle Identität der Grund unserer politischen Ohnmacht ist, können wir neue Handlungsspielräume erlangen durch die kollektiven Kräfte derjenigen, die in einem Kampf auf derselben Seite stehen. Wir können mehr sein als Unterstützer, denen es um die Verteidigung ihrer individuellen Identität geht und um die Belehrung Anderer, was diese für sie zu tun haben. Wir können Genossen sein, die zusammen für die Veränderung der Welt kämpfen. Ich stimme Mark Fishers wichtigem Memo zu: »Wir müssen lernen, oder: wieder lernen, wie man Kameradschaftlichkeit und Solidarität herstellt, anstatt das Geschäft des Kapitals zu besorgen und uns gegenseitig zu verurteilen und zu beschimpfen.«43

Während der Unterstützer hierarchisch, spezifisch und nachgiebig ist, ist der Genosse egalitär, generisch und utopisch; deshalb vermag das Verhältnis unter Genossen die Beschränkungen des Alltags (sprich: der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse) zu durchbrechen. Im folgenden Kapitel greife ich mögliche Einwände gegen diese Idee des generischen Genossen auf. Meine Beispiele in Kapitel zwei wie im gesamten Buch speisen sich weitgehend, aber nicht ausschließlich aus der Geschichte der Kommunistischen Partei der Vereinigten Staaten, der CPUSA. Da es in quasi jedem Land der Welt kommunistische Parteien und Organisationen gegeben hat, könnten die Beispiele aber von fast überallher stammen. Die meisten Parteien standen irgendwann einmal vor ähnlichen Problemen. Ich verwende Beispiele aus den USA, weil sie belegen, dass selbst eine äußerst individualistische, kapitalistische, rassistische, vom Kalten Krieg durchdrungene politische Kultur wie die US-amerikanische einen Modus politischer Zugehörigkeit hervorgebracht hat, der als Alternative zur allyship taugt. Mein Ziel ist es, eine andere mögliche Geschichte ans Licht zu bringen – eine Geschichte, die Genossen in polarisierten und scheinbar nicht-revolutionären Verhältnissen geschrieben haben, in Verhältnissen, die unseren nicht unähnlich sind.

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9783803142894
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