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Kapitel 6

Mein Vater war ein guter Schwimmer. Er liebte das Meer, und er liebte das Schwimmen. Jeden Morgen nach dem Frühstück während unseres Urlaubs in Ückeritz, schnappte er sich sein Badezeug und ging schwimmen. Und manchmal ging er, wenn der Mond aufgegangen war, noch einmal zum Meer, um zu schwimmen.

Als er mir das Schwimmen beibrachte, war ich Neun.

Er selbst hatte es in der Mulde gelernt – kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Eilenburg wurde von den Amerikanern besetzt, und im Hof meiner Großeltern, in einem kleinen Dorf, acht Kilometer von Eilenburg entfernt, schlugen sie für diese Gegend ihr Hauptquartier auf. Im Großen und Ganzen waren sie zu den Menschen dort freundlich und besonders die Kinder waren von den Amerikanern begeistert. Ein amerikanischer Sergeant, George Miller, der selbst keine Kinder hatte, mochte meinen Vater. Er lernte ihm amerikanische Lieder, brachte ihm einige englische Wörter bei und steckte ihm an und an Schokolade zu. Im Juli 1945 nahm er meinen Vater mit an die Mulde und lernte ihm das Schwimmen. Das war nicht ungefährlich, und meine Großmutter hatte bestimmt ein paar schwere Stunden. Mein Großvater befand sich zu dieser Zeit noch in russischer Gefangenschaft, aus der er erst drei Jahre später zurück kehren sollte.

Ein paar Monate später verließen die Amerikaner Eilenburg und stattdessen kamen die Russen. Das Potsdamer Abkommen war unterschrieben worden. Für die Menschen auf dem Hof meiner Großeltern wurde es schwieriger, nur mein Vater verstand die ganze Aufregung nicht. Er fühlte sich stark, denn er hatte an einem einzigen Tag schwimmen gelernt.

Und weil ihn das sosehr beeindruckte, wie der amerikanische Sergeant ihm das Schwimmen beigebracht hatte, wandte er die gleiche Methode Jahre später bei mir an.

Wir gingen zusammen in ein städtisches Freibad – ins Nordbad, denn in Altenburg gab es zwei.

Im Nordbad flößte mir ein drei Meter hoher Turm Respekt ein und im Südbad einer, der sogar zehn Meter maß. Ich hatte oft als kleiner Junge beobachtet, wie Leute von dort oben ins Wasser sprangen und mich jedes Mal vor Ehrfurcht und Unbehagen geschüttelt.

Ich war neun Jahre alt und hatte mich immer in den ersten drei Schuljahren erfolgreich vor dem Schwimmunterricht in der Schule gedrückt. Mal war mir aus irgendeinem Grund plötzlich schlecht geworden, mal vergaß ich die Badehose, mal schmerzte ein entzündeter Zahn, mal bekam ich Durchfall und manchmal drehte ich auf dem Weg zur Schwimmhalle einfach um. Nicht nur die beiden Sprungtürme in den Freibädern nötigten mir nämlich einen gehörigen Respekt ab, sondern Wasser an sich, soweit ich darin nicht mehr stehen konnte.

Mein Vater stellte sich neben mich vor das Schwimmerbecken, sagte einfach nur: „Vertraue und konzentriere dich!“ Und stieß mich hinein.

Ich ging unter, schluckte Wasser, kam wieder hoch und schwamm. Erst ein paar Meter, dann die ganze 50 Meter Bahn. Mein Vater lief neben mir her und jubelte. So einfach war das.

Meine Mutter diskutierte zwei Nächte danach mit ihm über seine Grobheit und Leichtsinnigkeit.

Zuerst hasste ich ihn dafür, dann beruhigte ich mich und dann war ich stolz.

Am Abend, bevor mich Tanja ihren Freunden vorstellen wollte, gingen mein Vater und ich gemeinsam in der Ostsee schwimmen.

Die Temperaturen draußen waren noch immer mild und das Meer lag wie ein flacher dunkler Teller vor uns. Hunderte Grillen übertrumpften sich gegenseitig und die Mücken nervten. In der Ferne lief eine kleine menschliche Silhouette am Strand entlang. Ich erschrak kurz, weil ich einen Moment lang glaubte, Tanja zu erkennen. Aber ich hatte mich geirrt.

Tanja verschwand gerade mit ihrem Stiefvater an einer anderen Stelle zwischen den Dünen. Sie waren auf dem Weg zu ihrem Bungalow. Die beiden hatten ebenfalls im Meer gebadet. Im Gegensatz zu uns allerdings nackt.

Am Horizont leuchteten die Lichter von mehreren Schiffen. Reisesehnsucht stieg in mir hoch, und ich dachte kurz darüber nach, vielleicht Matrose zu werden.

Ich trug einen Bademantel über meiner Badehose. Mein Vater hatte sich über seine nur ein Handtuch um die Hüfte gewickelt.

Glücklicherweise hatte ich seit der drastischen Methode meines Vaters, mir das Schwimmen beizubringen, jegliche Scheu vor tiefem Wasser verloren.

Noch im selben Sommer schaffte ich die erste Schwimmstufe, im Sommer darauf die Zweite und die Dritte. Beim Schwimmunterricht war ich fortan immer der Erste unter der Dusche und der Letzte, der aus dem Schwimmbecken kletterte. Bei der Spartakiade gewann ich mehrere Silber- und sogar eine Goldmedaille im 100 Meter Brustschwimmen.

Mit Zwölf stand ich das erste Mal auf dem Zehn-Meter-Turm im Altenburger Südbad und sprang, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Das Jahr darauf wagte ich sogar von dort oben einen Kopfsprung. Dieser Sprung war zwar nicht besonders graziös, aber ich schaffte es wenigstens, mir nicht weh zu tun. Als ich wieder auftauchte, spendeten einige Badegäste Applaus. Ein tolles Gefühl. Schade, dass es in der Ostsee keine Sprungtürme gab.

Mein Vater machte ein paar Lockerungsübungen, und ich wartete, bis er damit fertig war.

„Sag mal“, fiel mir plötzlich ein; „hat dich dieser amerikanische Sergeant damals auch einfach so in die Mulde geschubst?“

„Bist du verrückt“, mein Vater war mit den Oberkörperdehnungen fertig und dehnte jetzt die Beinmuskulatur, „da wäre ich bestimmt ertrunken. Nein, er band mir sein Koppel um die Hüfte, knüpfte daran ein Seil, sagte: Are you ready? Und warf mich dann ins Wasser. Mit einen amerikanischem Koppel um die Hüfte konnte mir nichts passieren. Das wusste ich.“

„Und wieso hatte ich keinen Koppel, als du mir das Schwimmen beigebracht hast?“

„Philipp, das Nordbad ist nicht die Mulde… Okay, bist du bereit?“ Mein Vater lockerte noch seine Finger, und ich ließ meinen Bademantel in den Sand fallen.

„Ich bin bereit. Also bis zur Boje und zurück.“

Das waren gut zweihundert Meter. Wir gingen beide in die Hocke.

„Auf die Plätze! Fertig! Los!“

Wir rannten durch das flache Wasser, das es nur so spritzte, stürzten uns gleichzeitig mit einem Kopfsprung ins Meer und kraulten los. An der Boje waren wir noch auf gleicher Höhe, aber am Ende gewann ich mit einer halben Körperlänge.

Als wir zurück am Strand waren, prustete mein Vater und schüttelte mir dann anerkennend die Hand.

„Sehr gut, mein Sohn. Ich gebe mich geschlagen.“

Ein tolles Gefühl.

Wir hatten um fünf Mark gewettet. Ich legte mir meinen Bademantel über die Schultern und mein Vater rieb sich mit dem Handtuch trocken. Dann gingen wir zurück zum Bungalow. Er drückte mir augenzwinkernd ein Fünf-Mark Stück in die Hand und öffnete sich ein Bier. Meine Mutter saß am Esstisch und las in der Sybille.

Ich schaute zur Uhr. Es war halb Zehn. In einer halben Stunde würde ich Tanja wiedersehen.

Ich war fast so aufgeregt, wie bei unserer ersten Begegnung. Wie würden ihre Freunde mich aufnehmen? Ich atmete dreimal durch und zog mich um. Die Levis, das Led Zeppelin Nicki, und eine dunkelblaue Cordjacke, auf der ich auf dem Rückseite mit weißer Textilfarbe das Zeichen der Rockband Van Halen gepinselt hatte.

Immer wieder fragte ich mich, ob ich meinen Vater an jenem Abend irgendetwas anderes gefragt hätte, hätte ich etwas geahnt.

Noch 192 Stunden.

Kapitel 7

Tanja war vollkommen anders als am Nachmittag. Ich war von ihrer Veränderung so eingeschüchtert, dass ich kaum wagte, sie anzusehen. Statt zu fragen, was passiert war, widmete ich mich ausschließlich meinen neuen Freunden.

Ich hatte angeboten, meinen Radiorecorder mit zum Strand zu bringen, was Tanja zu einer kleinen Begeisterung veranlasste. Jetzt nahm sie ihn nicht einmal wahr.

Markus hatte drei Strandkörbe entdeckt, deren Lattenroste nicht mit einem Vorhängeschloss gesichert waren. Die reichten uns. Wir Jungs zerrten gemeinsam die schweren Körbe quer über den Strand zu unserer Stelle und bald war unser Lager fertig. Die Polster des einen Strandkorbes waren grün-weiß gestreift, die der beiden anderen rot-weiß.

In dem grün-weiß gestreiften Strandkorb machten es sich Ramona und Markus bequem und in die beiden rot-weiß Gestreiften schlüpften Silvio und Markus´ Schwester, Andreas und ich. Die Strandkörbe waren in einer Art Dreieck aufgestellt und der Mitte stand mein neuer Recorder und spielte gerade Super Trouper von Abba.

Tanja saß mit angezogenen Beinen im Sand und starrte in die Nacht. Die Arme hielt sie um die Beine geschlungen und ihr Kinn berührte eines ihrer Knie.

Silvio rückte in Cowboymanier seinen rot-weiß gestreiften mit blauen Sternen bestückten Sommerhut ein Stückchen von der Stirn und hielt mir eine geöffnete Schachtel Club hin. Den Hut hatte er in Swinemünde auf dem Markt gekauft. Bei der nächsten Gelegenheit würde ich meine Eltern bitten, mit mir nach Swinemünde zu fahren, nahm ich mir vor. Ich wollte unbedingt auch so einen Hut. Silvio war der Älteste von uns, sechzehneinhalb. Er trug außer dem Hut eine blaue Trainingsjacke mit zwei weißen Streifen an beiden Ärmeln und eine Wisent-Jeans. Diese Hosen wurden in Cottbus produziert und erreichten natürlich nie und nimmer den Stil einer Levis. Trotzdem machte Silvio Eindruck auf mich. Er hatte etwas Draufgängerisches, und er rauchte wie ein Erwachsener.

Ich zögerte, denn ich rauchte eigentlich nicht. Das erste Mal, als ich das Rauchen probierte, war mir danach so hundeelend, dass ich schwor, dieses Zeugs nie wieder anzufassen.

Nun bedankte ich mich, fingerte eine Zigarette aus der Schachtel und ließ mir Feuer geben.

Silvio blies den Rauch in die Luft und sagte in Richtung Tanja:

„Was ist los mit dir, Süße? Warum kommst du nicht zu uns?“ Er lachte und rückte zur Seite, so dass Christiane kurz hoch schreckte. Silvio hatte tatsächlich „Süße“ gesagt. Mir gefror das Blut.

Hastig inhalierte ich einen tiefen Zug auf Lunge und wäre beinahe an dem darauf unterdrückten Hustenanfall erstickt. Tanja antwortete spröde:

„Ich komme gleich.“

Markus und seine Schwester Christiane trugen ebenfalls Trainingsjacken, und Markus Trainingshosen, die er bis zu den Knien hochgekrempelt hatte. Die beiden waren Zwillinge. Sie hatten die gleiche Frisur, dichtes goldbraunes welliges Haar, das sich wie kleine Sprungschanzen am Hals nach Außen drehte.

Christiane unterhielt sich mit Ramona, die als Einzige von uns eine Brille trug. Ihr Gesicht war so rund wie ein Volleyball, und ihr Lachen verschmitzt und spitzbübisch.

Andreas, der neben mir im Standkorb hockte, wurde von den anderen „Latte“ genannt.

Er überragte uns alle um anderthalb Köpfe, ich schätzte seine Körpergröße auf über eins neunzig. Groß und dünn wie eine Stabheuschrecke, die ein weißes Baumwollhemd und eine flickenlose Wrangler trug.

Silvio kam aus Halle, Andreas aus Weimar, Ramona lebte mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester in Dessau und Markus und Christiane kamen aus Berlin.

Ramona hatte eine sechs Jahre jüngere Schwester, die ebenfalls eine Brille trug. Eine Miniausgabe von Ramona, aber sie war zum Glück bei ihrer Mutter im Bungalow geblieben. Einen Vater gab es offensichtlich nicht.

„Kennt ihr euch aus Altenburg? Ich meine du und Tanja.“ Andreas rammte mir vertraulich seinen spitzen Ellenbogen in die Rippen.

Ich schüttelte den Kopf und zog ein zweites Mal an der Club. Der Rauch schmeckte nach wie vor widerlich, aber ich blieb dieses Mal von einem weiteren Hustenanfall verschont.

Unauffällig schielte ich zu Tanja, aber sie machte keinerlei Anstalten, zu uns zu kommen.

Markus berichtete von seinem Ausflug nach Swinemünde. Die Eltern der Zwillinge waren kulturinteressiert und zerrten ihre Kinder von Museum zu Museum und von Kirche zu Kirche. Den dortigen Markt mit seinen Schätzen hatten sie nur von Weitem gesehen. Nachdem er seinen Unmut darüber geäußert hatte, seine Schwester Christiane warf ihm einen missbilligenden Blick zu, entkorkte er eine Flasche Rosenthaler Kadarka und ließ sie herumgehen.

Silvio wühlte eine Kassette aus der Tasche seiner Trainingsjacke und machte einen bedeutungsvollen Blick. Alle nickten. Er sah zu mir und fragte:

„Darf ich?“

„Klar doch. Was ist das?“

„Wirst du gleich hören.“

Es war der Mitschnitt des Albums Never for ever von Kate Bush. Kurz darauf erkoren wir alle Babushka zu unserer Hymne.

Endlich kam Tanja. Sie lächelte ein kleines verlegenes Lächeln in die Runde und zwängte sich zwischen mich und Andreas. Das Ganze war schier unglaublich. Mit allem hatte ich gerechnet – damit nicht.

Eine Schar Engel stürzte vom Himmel herab und begleitete fortan jedes meiner Worte, jede meiner Gesten und sogar das Rauchen.

Ich erzählte politische Witze, erfand lustige Geschichten und schenkte jedem eine Freundlichkeit. Keine Ahnung, woher dieser plötzliche Charme kam. Möglicherweise war der Rosenthaler Kadarka Schuld, denn ich war noch ungeübt im Umgang mit Alkohol, obwohl sich einige Jungs aus meiner Klasse jedes Wochenende betranken. Jens Graichen, zum Beispiel.

Zusammen mit Andreas pries ich den Duft von Tanjas Haar. Sie verriet, dass sie ihr Haar gelegentlich mit Guhl- Pfirsisch aus dem Intershop wusch. Daraufhin beschloss ich lautstark, betrunken wie ich war, sowie ich jemals wieder Westgeld in die Hand bekommen sollte, mir dieses Shampoo zu kaufen. In Gedanken dachte ich, selbst wenn ich dafür mein Pornoheft opfern müsste. Es war wunderbar. Ich saß in der Ecke des Strandkorbes, mein Körper berührte Tanjas Körper zwangsläufig, und ich war glücklich.

Silvio schien sich überhaupt nicht daran zu stören, dass Tanja zu mir gekommen war. Er warf mir einen anerkennenden Blick zu, zwinkerte verschwörerisch und lachte über meine Witze am Lautesten. Dann erzählte er selbst welche. Die meisten davon kannte ich noch nicht, aber mein Repertoire war ohnehin beschränkt, denn ich konnte mir Witze nicht besonders gut merken. Während er sprach, fingerte er immer wieder an seinem Hut herum. Mal schob er ihn sich fast über die Augen, mal in den Nacken. Zwischendurch nippte er an der Weinflasche oder steckte sich eine Zigarette an. Silvio war ein viel besserer Erzähler als ich. Er betonte die verschiedenen Figuren unterschiedlich, legte vor den Pointen eine kurze kleine Pause ein und sprach zu uns, als stünde er auf einer Bühne. Das Beste war, wenn er Honecker nachahmte. Es war zum Brüllen.

Mit Ramona, Christiane und Markus tanzte ich zusammen zu Babushka von Kate Bush. Wir hakten uns unter wie die sowjetischen Soldaten bei Kalinka und warfen unsere Beine in der Hocke in die Luft. Natürlich fielen wir alle Vier in den Sand und lachten darüber, bis uns die Tränen kamen.

Es war albern, und es war himmlisch. Gegen Mitternacht klappten wir die Strandkörbe nach hinten, legten uns alle auf den Rücken und zählten Sternschnuppen.

Silvio lag neben mir im Strandkorb. Ich hatte diesen Draufgänger ebenso in mein Herz geschlossen, wie alle anderen. Und als Tanja mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange drückte, kannte meine Glückseligkeit keinen Ausdruck mehr. Sie flüsterte mir ins Ohr:

„Wollen wir morgen wieder zusammen Brötchen holen?“

Hätte ich irgendwie gekonnt, ich hätte die ganze Welt umarmt. Nein, das ganze Universum.

Als ich gegen halb Zwei zurück in den lindgrünen Bungalow schlich, schliefen meine Eltern bereits. Ich schlüpfte in meine kleine Kammer, ließ großherzig sämtliche Mücken über meinem Bett am Leben und schlief kurz darauf überglücklich ein.

Kapitel 8

Am nächsten Morgen eilte ich zu unserer verabredeten Stelle und wartete auf Tanja. Keine zwei Minuten später kam sie, angekündigt durch den Pfirsichduft ihrer Haare. Wir machten uns gemeinsam auf den Weg zum Konsum.

Rechts neben der Asphaltstraße kämpfte eine winzige Promenadenmischung mit einem stabilen Ast eines Gebüschs. Ausdauernd sprang der Hund immer wieder in die Höhe, zerbiss sich am Ast und baumelte dann wie ein Pendel hin und her. Sein Herrchen, ein grauhaariger, schlanker Mann in einem weinroten Trainingsanzug amüsierte sich ebenso darüber, wie zehn andere Urlauber, die stehen geblieben waren, um das Treiben zu beobachten.

„Hund am Stiel“, sagte ich zu Tanja, und Tanja musste lachen.

Sie hatte ihre Locken in einem Pferdeschwanz gebändigt, der bei jedem Schritt hin- und herpendelte wie der kleine Hund am Ast. Ihr braungebrannter Hals war dünn und lang. In den Ohrläppchen steckten Silberkettchen, an deren Enden zwei türkisfarbene Steine hingen.

Die Menschenschlange war kein bisschen kürzer als am Tag zuvor. Wir stellten uns an und warteten. Am Himmel wanderten gemächlich ein paar kleine Wolken, es war fast windstill und die Sonne brannte bereits.

Silvio tauchte plötzlich wie aus dem Nichts auf und gesellte sich zu uns. Irgendjemand vom Ende der Schlange murmelte ärgerlich: „Hinten anstellen!“, aber Silvio beachtete das gar nicht.

„Na, ihr beiden“, begrüßte er uns. „Ihr könnt euch wohl gar nicht mehr voneinander trennen?“

„Äh..., wir...“, begann ich zu stottern und wollte eigentlich lügen, dass wir uns zufällig beim Konsum getroffen hätten, aber Tanja eilte mir zu Hilfe.

„Ja. Bist du etwa neidisch?“

Obwohl Silvio erst Sechzehneinhalb war, steckte er sich lässig eine Club zwischen die Zähne und fragte einen Mann hinter uns nach Feuer. Der Mann entflammte ein Streichholz und Silvio bedankte sich mit einem Kopfnicken. Selbstverständlich trug er wieder seinen Stoffhut mit den roten Streifen und den blauen Sternen. Dann hielt er uns die Schachtel hin. Tanja und ich lehnten ab.

„Ich rauche nicht“, sagte Tanja, „mein Stiefvater würde mich erwürgen, wenn er davon erführe.“

„Nein, danke“, betonte ich möglichst gleichgültig, „ Niemals vor dem Frühstück.“

Ein Satz meines Vaters.

Silvio zeigte eine Reihe makelloser Zähne und reckte den Kopf in Richtung Himmel.

„Ist das nicht ein Wetterchen, Leute! Wollen wir nachher eine Runde Volleyball am Strand spielen? Ich habe Markus vorhin getroffen. Die anderen kommen auch.“

„Gerne“, sagte Tanja und berührte, vielleicht aus Versehen, meine Hand. Mir wurde sofort wärmer.

„Super!“, stieß ich etwas lauter hervor, als ich beabsichtigt hatte und senkte schnell meine Stimme. „Wann?“

„Gleich nach dem Frühstück. Oder?“ Tanja nickte. Ich nickte. Dann fügte sie hinzu:

„Ich kann allerdings nicht lange bleiben. Wir wollen heute Mittag nach Wolgast fahren.“

„Oh, da wird unser kleiner Don Juan aber traurig sein.“ Silvio kniff mir in die rechte Wange und grinste über die Breite seines Gesichts. Gleichzeitig spürte ich Tanjas Hand jetzt deutlicher in meiner. Eine Hitzewelle kroch mir die Wirbelsäule entlang, und ich fasste waghalsig zu. Kein Zurückschrecken. Sie überließ mir ihre Hand. Sollte Silvio spotten. Mir war es egal.

Das Schlange-stehen hatte das gestrige Schlange-stehen noch übertroffen.

Morgen würde ich sie küssen, beschloss ich. Morgen oder heute Abend.

Wie naiv von mir. Tanja bestimmte das Tempo unserer Annährung. Immer.

Genau zwanzig Minuten später küssten wir uns und das geschlagene zehn Minuten lang. Als ich die Brötchen zu meinen Eltern brachte, hatte ich das Gefühl, dass meine Füße ein paar Zentimeter über dem Boden schwebten.

Tanja war nicht das erste Mädchen, mit dem ich mich geküsst hatte, aber mit ihr war es zweifellos am Atemberaubendsten.

Außer mit Annette, der ich nach dem Küssen, ein demoliertes Gesicht zu verdanken hatte, hatte ich mich in diesem Jahr mit noch zwei anderen Mädchen geküsst.

Ines und Viola. Mit Ines war es schön. Viola schob mir ihre Zunge soweit in den Hals, dass ich kurz mit einem aufkommenden Würgereiz ringen musste.

Das Küssen mit Tanja war ganz anders. Sich mit Tanja zu küssen, war wie sich plötzlich auf einer duftenden Sommerwiese wiederzufinden, wie frisch gefallener Schnee auf den Lippen oder eine Köstlichkeit zu schmecken. Aber Verliebte schwärmen. Natürlich.

Silvio trat seine Zigarette aus, schob seinen Hut in den Nacken und meinte:

„Keine Lust mehr zu warten. Macht´s gut. Wir sehen uns nachher am Strand.“ Mit diesen Worten verschwand er.

Ich wurde ein bisschen verlegen, so mit Tanja händchenhaltend in der Schlange zu stehen. Als Silvio bei uns war, war das etwas anderes, jetzt hatte ich das Gefühl, von allen Leuten angegafft zu werden.

Tanja schien das absolut nicht zu stören. Sie drückte einfach fester zu.

Wir bekamen unsere Brötchen und gingen langsam zurück zu unserer Bungalowsiedlung. Der kleine Hund kämpfte noch immer mit dem Ast.

Kurz vor dem Tor ließ Tanja plötzlich ihren Einkaufsbeutel fallen. Ich bückte mich, um ihn aufzuheben. Als ich nach oben kam, entdeckte ich Tränen in ihren Augen.

„Ist etwas passiert?“, fragte ich erschrocken. Tanja sah mich an, als würde sie in ein leer stehendes Haus blicken. Ohne meine Frage zu beantworten, flüsterte sie:

„Küss mich“, und schlang mir im nächsten Moment ihre braungebrannten Arme um den Hals.

Tanja erschien weder zum Volleyball noch stieß sie am Abend zu uns, als wir die Strandkörbe zusammen schoben.

An diesem Abend hörten wir das erste Mal Kashmir von Led Zeppelin. Silvio und ich spielten Luftgitarre, Markus und Christiane hüpften wie zwei Derwische um die Strandkörbe und Andreas und Ramona wippten ihre Oberkörper dazu. Immer wieder spulte jemand von uns die Kassette zurück und ließ Led Zeppelin Kashmir wiederholen. Nach diesem Abend war Ramona so betrunken, dass wir sie alle zusammen zum Bungalow ihrer Mutter trugen und als diese die Tür öffnete, mit würgenden Kichersalven grölend auseinander rannten. Bevor wir uns trennten, gestand mir Silvio, dass er sich in Christiane verliebt hatte.

Obwohl ich am Ausgelassensten herumgealbert hatte, empfand ich schale Verzweiflung. Mit jeder Stunde, die verstrich, ohne dass Tanja kam, spürte ich, wie sich immer kältere Finger um mein Herz schlossen. Trübselige Gedanken rangen mit verzweifelter Hoffnung. Tanja war nicht gekommen und schon schmachtete ich meiner neuen Liebe hinterher. Eine vernichtende Sehnsucht befiel mich, gepaart mit der Sorge, dass sie meinetwegen nicht gekommen war und unser erste Kuss, der letzte bleiben sollte. Auch wenn ich mir hunderte Gründe für ihr Fehlen einredete, fühlte ich mich dennoch betrogen. Zu Tode betrübt, schlich ich zu unserem lindgrünen Bungalow.

Und dann hatte ich in dieser Nacht doch so etwas wie eine erste Vorahnung.

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