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Kapitel 3

Das Baltic war ein riesiger Klotz aus Beton und Glas. Ein aufpolierter ehemaliger Plattenbau.

Das Foyer mit der Rezeption war allerdings geschmackvoll. Eine überdimensionale Theke aus polierter Buche schwang sich im Halbkreis um eine freundlich blickende junge Frau. Eine Reihe großer Palmen vermittelte einen Hauch südlichen Flairs und eine in Orange gehaltene Lichtkomposition strahlte Wärme und Gemütlichkeit aus.

Ich war angenehm überrascht.

Hannah hatte ein Zimmer mit Meerblick via Internet gebucht. Ich hatte bei diesen Transaktionen einige Vorbehalte, unter anderem wegen der möglichen darauffolgenden Spam-Flut, deshalb telefonierte ich lieber oder erschien persönlich in einem Reisebüro. Außerdem war ich mir nie sicher, ob das alles auch funktionierte. Hannahs Buchung war perfekt. Die junge Frau lächelte, nannte unsere Namen und hieß uns willkommen. Wir nahmen den Zimmerschlüssel in Empfang, gingen zum Fahrstuhl und fuhren in die fünfte Etage.

Im Zimmer stand ein Doppelbett, ein kleiner Schreibtisch mit Minifernseher, darunter die Minibar und zwei große kompakte Schalensessel. Auf dem Schreibtisch lagen Broschüren von den Angeboten des Hotels, einigen Ausflugsmöglichkeiten per Schiff oder Bus und die Preisliste der Getränke aus der Minibar. Ich fand 3 Euro Zwanzig für eine 0,33 Liter Flasche Bier übertrieben und verzichtete. Neben dem Eingang zum Bad war ein Kleiderschrank in die Wand eingelassen. Als Willkommensgruß lag je eine kleine Tüte Goldbären von Haribo auf den Kopfkissen.

Hinter den aufgeklappten großen Fenstern konnte man tatsächlich das Meer hören. Um es sehen zu können, war es draußen schon zu dunkel.

Hannah warf ihre Reisetasche mit der gleichen Bewegung neben das rechte Bett, wie sie die Tasche Stunden zuvor auf die Rückbank meines Autos geworfen hatte. Dann verkündete sie:

„Ich habe Hunger.“

Wir fuhren mit dem Fahrstuhl wieder nach unten und gingen ins Hotelrestaurant. Ein Mann Mitte Dreißig saß an einem Tisch am Fenster, trank Rotwein und las einen Artikel im SPIEGEL. Ansonsten war das Restaurant von Gästen verschont. Die Köchin, die hinter einer Art Tresen mit allerlei Küchengerätschaften vor aller Augen ihre Speisen zubereitete, putzte die zuletzt benötigten Utensilien und überreichte dann die Verantwortung für die Küche ihrer Gehilfin. Offensichtlich hatte sie Feierabend.

Bedient wurden wir von einem jungen polnischen Kellner, mit dem Hannah, wie nicht anders zu erwarten war, sofort ins Gespräch kam.

Der Kellner besaß eine äußerst gepflegte Erscheinung, sprach ein wortgewandtes Deutsch und schien der geborene Gentleman zu sein. Während Hannah mit dem Kellner über seine Heimatstadt Swinemünde schwärmte, wählte ich mein Essen. Dorschfilet mit grünem Kartoffelpüree und süßen Erbsen und ließ mir dann von ihm einen Wein dazu empfehlen.

Hannah überlegte eine lange Weile, was sie essen sollte und entschied sich ebenfalls für Fisch. Seezunge mit einer raffinierten Soße, wie der polnische Kellner versicherte und gesalzenen Kartoffeln.

Das Essen und der Wein waren in der Tat vorzüglich.

Nach dem Essen gingen wir kurz an den Strand, küssten uns, während die Ostsee leise vor sich hin plätscherte und beschlossen noch in der Therme zu baden. Es war zwar deutlich kühler geworden, aber für einen späten Novemberabend nach wie vor viel zu warm.

Das Thermalbad besaß ein hübsches Ambiente. Das Wasser leuchtete smaragdgrün und an der Decke waren überall kleine Lichter installiert. Der Raum war farbig gefliest, aber nicht kitschig und das Außenbecken dezent beleuchtet, so dass man auf dem Rücken treibend die Sterne sehen konnte. Das Personal war aufmerksam und geduldig.

Ich betrachtete eine Weile die Sterne. Das Wasser hatte einen hohen Salzgehalt, so dass der Körper mühelos Auftrieb bekam und man sich tatsächlich von der künstlichen Strömung problemlos herumtreiben lassen konnte. Mit mir planschte ein junges Pärchen. Auf den Liegen im Inneren des Thermalbades dösten oder schwatzen sechs andere Gäste. Eine etwa fünfzigjährige Frau fiel mir auf, die so dick war, dass ihre Knie beim Laufen zusammenstießen. Auf ihrem Rücken wölbten sich mehrere Schichten Fettpolster, die übereinander schlappten. Ihr Badeanzug wirkte wie ein Korsett, der die Körpermasse daran hinderte, sich im ganzen Becken auszubreiten. Kein schöner Anblick.

Hannah war in der Sauna verschwunden und stieg nach zwei Stunden zu mir ins Außenbecken. Wir trieben drei Runden zusammen herum. Das junge Pärchen hatte sich wahrscheinlich inzwischen auf ihr Hotelzimmer verkrümelt.

„Eine wirklich schöne Überraschung“, betonte ich noch einmal und Hannahs Augen leuchteten. Ein bezauberndes Leuchten.

Eine angenehme Lautsprecherstimme bat uns und die anderen Gäste das Thermalbad langsam zu verlassen, da um 22.00 Uhr geschlossen werden würde und wünschte allen höflich einen guten Abend.

Wir trockneten uns ab, zogen uns um und genehmigten uns noch je einen doppelten Tullamore Dew im Edvard´s, dem Hotelpub. Mit uns saßen ein Mann und eine Frau um die Dreißig an der Bar, die sich die ganze Zeit über einen Versicherungsabschluss stritten, den er aus einer Laune heraus unterschrieben hatte.

Hannah erzählte von einem manisch-depressiven Mann, der in seiner manischen Phase jede Nacht ein paar Mal die Feuerwehr anrief, um ihnen einen schönen Dienst zu wünschen, aber ich hörte irgendwie nur mit halbem Ohr zu. Die verschiedenen Whiskyflaschenformen im Regal hinter dem Tresen hatten es mir angetan. Fast jede Marke besaß eine eigene Flaschenform, und ich fragte mich gerade, ob es wohl Whiskyflaschenagenten gab, die die neueste Flaschenform der Konkurrenz ausspionierten, um sich damit dann mit der eigenen Produktion zu distanzieren. Außerdem suchte ich verzweifelt nach einer neuen Idee für unsere Firma. Aber mir fiel nichts ein.

Vorm Schlafen hatten wir Geschlechtsverkehr. Durch das geöffnete Fenster konnte man das Meer rauschen hören.

Es war fast wie vor drei Jahren am Wutzsee. Und es sollte das letzte Mal sein.

Das Frühstücks- Büffet war reichlich und berücksichtigte unterschiedliche Geschmäcker und Essgewohnheiten. Es gab verschiedene Wurstsorten, eine gute Auswahl Käse, frisch gebratene Speckstreifen, hart gekochte Eier, geräucherten Lachs und jede Menge Obst und Müsli. Mit uns frühstückten vielleicht zwanzig oder fünfundzwanzig Gäste. Die meisten waren um die Sechzig. Ich war überrascht, dass hier so viele Leute einquartiert waren. Waren die alle in der Nacht gekommen? Oder hatten die alle gestern Abend in ihren Zimmern Karten gespielt oder fern gesehen?

Das Essen war gut, nur der Kaffee schmeckte grauenhaft. Der Kaffee erinnerte mich an meine ehrenamtliche Tätigkeit vor ein paar Jahren in einem Obdachlosenheim. Ich hatte fast drei Jahre im Obdachlosenheim gearbeitet. Unangenehm bei dieser Arbeit war der schlechte Kaffee, den wir austeilten, und der Gestank am Morgen, wenn alle erwachten.

Hannah beschloss, sich nach dem Frühstück mit ein paar Massagen und einer neuartigen Geschichtscreme, die das Beautyland des Hotels anbot, zwei, drei Stunden verwöhnen zu lassen, und ich sagte, dass ich in dieser Zeit ein bisschen am Strand spazieren würde. Offengestanden überraschte es mich, dass Hannah nicht von Tisch zu Tisch zog, um mit jedem der Gäste einen kleinen Plausch zu halten.

Ich aß ein Ei, zwei Vollkornscheiben Brot mit Schinken und Lachs, eine Kiwi und eine halbe Birne, die allerdings ziemlich hart war. Hannah wählte ein Schälchen Joghurt und eine Scheibe Vollkornbrot, auf die sie Tollenser- Käse legte und etwas Erdbeermarmelade schmierte. Das Ganze garnierte sie dann mit grünem Salat und beträufelte es mit einer hellbraunen Vinaigrette. Ich trank zwei kleine Tassen Kaffee, sie ein Glas frisch gepressten Orangensaft.

Die Tische wurden von vier jungen Mädchen abgeräumt – Azubis.

Wir gingen zur Lobby. Hannah rauchte zwei Zigaretten, das war im Frühstückssaal untersagt, und ich las die wichtigsten Artikel der „Ostsee-Zeitung“.

Wie ich es vorausgeahnt hatte, sprachen die Meteorologen vom wärmsten 21. November seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Darunter befanden sich Fotos von Menschen in Biergärten und barfüßigen Strandspaziergängern. Kein Wort von der nahenden Klimakatastrophe.

In Gedanken malte ich mir aus, wie die Ostsee wohl bei einer Eiszeit aussehen würde. Vermutlich stapelten sich dann kleine Eisschollen bis zum Horizont. Ich hatte das einmal gesehen. Im Winter ´99. Damals fuhr ich mit einer Pferdekutsche von Kloster auf Hiddensee nach Schaprode auf Rügen auf der zugefrorenen Ostsee. Das war ein atemberaubendes Erlebnis und auch ein bisschen beängstigend. Vielleicht konnte man das ja bald wieder. Das ganze Jahr über.

Vom Hotel zum Strand führte ein schmaler Pfad, der mit Holzplatten ausgelegt war. Wie üblich, wenn ich irgendwo am Meer war, warf ich flache Steine ins Wasser und hoffte, dass sie ein paar Mal über die Oberfläche hopsten. Manchmal gelang es, doch die meisten klatschten einfach ins Wasser.

Das Wasser der Ostsee war nicht besonders klar, aber das war für November normal. Am Strand suchten dicke und kleine Möwen nach Futter. Krähen versuchten den Möwen das Futter abzujagen. Vielleicht jagten sie auch die Möwen.

Ich lief den Strand entlang und dachte eigentlich an nichts. Irgendwann vergaß ich alles um mich herum. Die anderen Spaziergänger, die Steine, die Möwen, die Krähen, Hannah, ...die Zeit.

Manche Leute versetzten sich mit autogenem Training oder Meditation in Trance, andere nahmen dafür Drogen oder Psychopharmaka. Bei mir reichte ein Strandspaziergang.

Möglicherweise lag es an der frischen Luft, dem Wind, dem ruhigen Plätschern des Meeres. Jedenfalls erlebe ich oft, wenn ich allein am Strand entlang laufe, dass ich irgendwann abtauche. Es ist, als ob ich aus der Zeit herausfalle. Meistens dauert dieser Zustand nicht sehr lange und nach ein paar hundert Metern tauche ich wieder auf. Die Zeit dazwischen ist allerdings verloren.

Diesmal mussten es Stunden gewesen sein. Keine Ahnung, wie das passierte. Ich lief und lief. Es war warm, soviel stand fest. Fast so warm, wie am Novemberwärmerekordtag am Tag davor.

Erst als ein kleines Schild in mein Blickfeld geriet, schlug ich hart und erschrocken wieder in der Realität auf.

Ostseebad Ückeritz stand darauf. Ückeritz lag wie Zinnowitz auf der Insel Usedom. Aber die beiden Orte waren 14 Kilometer voneinander entfernt. Ich war 14 Kilometer gelaufen, ohne etwas davon zu bemerken. Wo war ich die ganze Zeit gewesen?

Ostseebad Ückeritz. Und dann, als würde ich mit einem Eimer Wasser übergossen, strömten die Erinnerungen über mich.

Irritiert sah ich mich um. Außer mir waren hier wenige Leute unterwegs. Kleine, sich bewegende Silhouetten. Ich blickte zum Himmel. Die Sonne schickte sich bereits an, unterzugehen. Hier und da flammten die ersten Lichter der Strandcafes und Restaurants auf.

Im Ostseebad Ückeritz hatte ich meine Unschuld verloren und den Rest meiner Kindheit. In Ückeritz hatte alles seinen Anfang genommen.

Eine tiefe Beklommenheit kam von irgendwoher und ließ mich fast zu Eis erstarren.

Eine Weile taumelte ich weiter.

Und plötzlich war ich angekommen. Es bestand absolut kein Zweifel. Ich stand genau an der Stelle, wo ich schon einmal gestanden hatte.

Sommer 1980.

Die Beine wurden mir schwer und dann die Knie weich. Ich sackte auf den Boden und meine Hände wühlten im Sand. Und dann brach es aus mir heraus. Ein Tränenstrom wie die Niagarafälle.

Ich sah uns. Acht Jugendliche, sprühend vor Lebenslust und aufgeregt und neugierig wie Welpen.

Ramona, Andreas, Silvio, Markus, Johannes und seine Schwester Christiane. Wie bei einer zärtlichen Umarmung tauchte ein Gesicht nach dem anderen auf. Und schließlich das Wichtigste: Tanja.

Wir spielten Volleyball. Markus warf sich in den Sand, verfehlte aber den Ball. Wir hockten in zusammen geschobenen Strandkörben oder tanzten lächerliche Tänze zu Kate Bush´s Babuschka oder zu Kashmir von Led Zeppelin, lachten, bewarfen uns mit Ostseesandschlamm. Wir rollten über den Sand oder rannten alle in einer Reihe an den Händen haltend ins Meer...

Wir rollten über den Sand, wir küssten uns, wir rollten über den Sand. Wir rollten über den Sand und küssten uns... Tanja! T... A... N... J... A ...

Wie betäubt, fand ich den kleinen Trampelpfad durch die Düne. Man hätte mir die Augen verbinden können, ich hätte ihn trotzdem gefunden.

Da auf dem Hügel standest du oft, um aufs Meer zu schauen. Auf dem Sandhügel auf der anderen Seite hattest du mich in die Arme genommen, als es passierte... Als ich mich vor Schmerz übergeben musste.

Jeder Flecken barg eine Erinnerung und jeder Grashalm wirkte vertraut. Als wäre ich hier niemals fortgegangen.

Ich stolperte die Düne hinauf und musste immer wieder innehalten. Das Atmen fiel mir mit jedem Schritt schwerer. Und dann wieder raste mein Herz so schnell, als wollte es gleich explodieren. Die Erinnerungen lasteten wie getrockneter Zement.

Keine Ahnung wieso, aber ich war mir jetzt auch sicher, dass ich das kleine Bungalowdorf wiederfinden würde. Ich wusste, dass es die Zeit überlebt hatte. Die Ortschaften an der Ostseeküste hatten sich in den letzten Jahren fast komplett verändert. Es wurde renoviert, gebaut und planiert. Jeder, der auch nur über einen freien Schuppen verfügte, versuchte daraus Kapital zu schlagen. Wem konnte man das auch verübeln?

Trotzdem hatte ich nicht den leisesten Zweifel, dass das kleine Bungalowdorf noch existierte.

Der Trampelpfad durch die Düne war kurz. Rechts und links vertrocknetes Dünengras. Zwei Dohlen stritten um einen Kanten Brot. Lachmöwengeschrei wehte vom Meer herüber. Der Pfad führte an einem kleinen Sendemast vorbei. Wahrscheinlich von E-Plus oder Vodaphone. Der war natürlich neu. Dann kam eine Senke, rechts ein Kiefernwäldchen.

Ich behielt recht. Alles war wie damals. Fünfzehn, zwanzig wettergegerbte lindgrüne Bungalows standen so dicht beieinander, als wollten sie wegen eines drohenden Abrisses zusammenrücken. Vor jeder Hütte standen zwei weiße Plastikstühle, ein Tisch und ein Mini-Grill. Das alles gab es 1980 noch nicht.

Sogar die Wäscheleinen waren an den gleichen Stellen zwischen den Bäumen gespannt. Einen Moment sah ich, wie meine Mutter unsere Badesachen und Handtücher aufhängte. Dann verschwand das Bild – und mir schwindelte.

Ich lief zwischen den Bungalows umher, streichelte hier eine Wand und befühlte dort den Boden. Es roch vertraut. Kann Zeit riechen?

Heute Nacht musste ich hier bleiben, dass wusste ich. Hier, in diesem schäbigen Bungalow-Dorf. Hier, wo alles seinen Anfang nahm. Ich hatte keine andere Wahl.

In wenigen Minuten würde es dunkel werden. Um den langen Weg zurück zu laufen, hatte ich keine Kraft mehr.

Hannah!

Ich suchte in meinen Taschen nach meinem Handy, bis mir einfiel, dass es vermutlich im Hotelzimmer am Ladegerät vor sich hinblinkte.

Egal! Hannah würde sich sorgen, aber ich konnte hier jetzt nicht weg. Morgen würde ich ihr alles erklären. Vielleicht konnte ich es auch nicht erklären. Sie würde eine Weile schmollen, mir vielleicht Vorwürfe machen, vielleicht zu Felix mit seinem Hund fliehen.

Das war jetzt nicht wichtig. Wichtig war – jetzt hier zu sein.

Als hätte er mein Bedürfnis geahnt, tauchte ein älterer Mann am Tor auf. Der Besitzer oder Pächter des Bungalowdorfes, dass sah ich sofort.

Eigentlich war es gar kein richtiges Tor. Der Maschendrahtzaun rings um das Grundstück war unheilbar verrostet und an vielen Stellen so löchrig, dass man ohne Schwierigkeiten eine Schafherde hindurch treiben konnte. Das Tor war halb aus den Angeln gezerrt und nicht mehr verschließbar.

Der Mann blickte wortlos in meine Richtung, und ich näherte mich ihm langsam.

Es ist ein Klischee, aber die Norddeutschen reden wirklich wenig. Mir war ebenfalls nicht nach Sprechen zumute.

Ich nickte als Zeichen meines Anliegens und zeigte auf einen der Bungalows. Bungalow Nummer 20.

In diesem Bungalow hatte ich den letzten Urlaub mit meinen Eltern verbracht. Im Bungalow Nummer 20 in Ückeritz. Damals hieß der Bungalow Campingfreund – dieses Schild fehlte jetzt. Die Fahrt hierher hatte mit unserem papyrusweißen Trabant 601 über neun Stunden gedauert. Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, dass der typische Zweitakt- Motor Gestank von irgendwoher die Luft verpestete.

Zum Glück verstand mich der Mann sofort. Er zog ein großes Schlüsselbund aus seiner Jackentasche und trottete in Richtung Bungalow Nummer 20.

Meine Füße waren bleischwer und es kostete mich große Mühe, ihm zu folgen. Sein Rücken war gebeugt, die Hände grob und schwielig. Das Gesicht war zusammengeschoben wie bei einem Mops, mit geplatzten Kapillaren.

Der Mann schloss die Tür auf, knipste einen Lichtschalter an. Dann sah er sich um, nickte über etwas, schüttelte über etwas den Kopf und wies auf das Bett. Es war erstaunlicherweise frisch bezogen.

Der gestrige Wärmerekord für Mitte November fiel mir ein. Vielleicht hatte er auf Scharen von Touristen gehofft. Ohne ein Wort zu vergeuden, drehte der Mann sich um und verschwand.

Ich war zu Tode erschöpft.

Kraftlos ließ ich mich auf das Bett sinken. Ich verspürte weder Hunger noch Durst. Nur Müdigkeit. Unendliche Müdigkeit.

Ich löschte das Licht und schlief auf der Stelle ein.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, saß er am Fußende meines Bettes und lächelte.

„Papa?“

„Ich habe auf dich gewartet“, sagte er so behutsam wie möglich, um mich nicht zu erschrecken. Ich rieb mir die Augen und richtete mich auf.

„Du warst die ganze Zeit hier?“

„Ja, Philipp. Die ganze Zeit. Nun ist es gut. Du bist gekommen.“

Das Licht, das durch die schmutzigen Fensterscheiben des Bungalows fiel, reichte aus, um meinen Vater gut zu erkennen. Sein Haar war schwarz, nach hinten gekämmt. Sein Gesicht mit einer gesunden Bräune überzogen. Er sah so aus, wie er damals ausgesehen hatte.

Ich überlegte kurz. 1980 war mein Vater neununddreißig Jahre alt. Also war er jetzt genau ein Jahr jünger als ich.

Kapitel 4

August 1980. Einmal im Jahr fuhren meine Eltern mit mir und meiner vier Jahre älteren Schwester Stephanie in den Urlaub. Mehr konnten wir uns nicht leisten.

Schon im Januar war klar gewesen, dass wir an die Ostsee reisen würden. Nach Ückeritz. Anfang des Jahres wurden die Urlaubsplätze im Betrieb meiner Mutter vergeben und wer nicht rechtzeitig einen Antrag gestellt hatte, sah in der Röhre.

Die meisten volkseigenen Betriebe, auch die meiner Eltern, bewirtschafteten irgendwo in der kleinen Republik Bungalows oder ein Ferienhotel. Manche waren attraktiv, andere weniger.

Die Ferienhotels trugen Namen wie: FDGB- Ferienhotel Werner Seelenbinder oder wie im Falle der kleinen Bungalowsiedlung in Ückeritz nur den Namen der Betriebe, die dort einen oder mehrere Bungalows an ihre Belegschaft vermieteten, wie beispielsweise: VEB Armaturenwerk Altenburg.

Ich hatte zwei Wochen meiner Ferien im Armaturenwerk, in dem meine Mutter halbtags als Sekretärin arbeitete, an einer Bohrmaschine geschuftet. Die Arbeit war nicht schwierig gewesen, nur eintönig. Meine Aufgabe bestand darin, sieben Löcher in eine Metallplatte zu bohren. Wozu diese Metallplatte mit den sieben Löchern verwendet wurde, wusste ich nicht. Ich bohrte in einer Stunde achtundzwanzig Löcher und gab mich währenddessen meinen Phantasien hin. Mädchen natürlich. Und in jeder Pause rannte ich zum Klo, um zu onanieren.

Ostsee. Ich konnte es kaum erwarten. Bislang waren wir zweimal an der Ostsee gewesen. Einmal in Ahlbeck und einmal in Binz. Da war ich sechs und zehn Jahre alt. Letztes Jahr waren meine Eltern mit uns nach Tatranska Kotlina in der Hohen Tatra gefahren. Das war das erste Mal, dass ich ein anderes Land innerhalb unserer kleinen Reisemöglichkeiten mit eigenen Augen sah. Aber in den Bergen herumlaufen, fand ich anstrengend.

Ich liebte die Ostsee. Ein anderes Meer kannte ich nicht.

Meine Mutter war seit Tagen mit Packen beschäftigt. Am Abend vor der Reise brutzelte sie kleine Hackbällchen, kochte Eier und beschmierte stapelweise Brote. Drei von den Broten bestrich sie mit Erdbeermarmelade. Die waren für mich. Obwohl die Brote nach wenigen Stunden zu Marmeladen-Brot-Brei matschten, liebte ich die Marmeladenbrote meiner Mutter. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich mich ausschließlich von Erdbeermarmeladen-Broten ernährt.

Mein Vater saß am Abend vor der Abreise vor einer Landkarte und notierte sich die Fahrroute auf einen kleinen Zettel, mit dem meine Mutter ihn später navigieren sollte.

Altenburg, Leipzig, Transitstrecke bis Berlin – meine Gelegenheit, Westwagen zu zählen – Dreieck Michendorf, Berliner Ring Richtung Rostock. In Oranienburg auf die F 96, Fürstenberg, Neustrelitz, Neubrandenburg. Dann rüber nach Anklam. Wolgast, Ückeritz.

Mit seinem langen Zeigefinger auf der Landkarte fuhr mein Vater die Strecke entlang, und ich beobachtete ihn dabei.

„Wie viele Kilometer sind das?“, fragte ich.

Mein Vater nahm einen anderen Zettel und kritzelte Zahlen darauf. Zwischen den Städten stand die Entfernung in Kilometern auf der Karte.

„Ungefähr 560.“

Das war wie eine kleine Weltreise.

Das Aufregendste für mich war das frühe Aufstehen vor einer Reise.

Mein Vater pflegte gern mitten in der Nacht loszufahren, um den langen Konvois in Richtung Ostsee, dem Thüringer Wald oder zu den anderen Urlaubsgebieten, in die wir schon gefahren waren, zu entgehen. Einen Wecker brauchte ich nicht. Ich wusste, dass mich meine Mutter wecken würde.

Es war das erste Mal, dass meine Schwester nicht mit uns reiste. Sie hatte seit ein paar Monaten einen Freund und beabsichtigte mit ihm an der Hohenwarte Talsperre zu zelten. Vater und Mutter knirschten zwar eine Weile mit den Zähnen, aber letztendlich mussten sie es akzeptierten. Schließlich war sie gerade Achtzehn geworden.

Für mich war es das letzte Mal, dass ich mit meinen Eltern in den Urlaub fuhr. Nach Ückeritz hatte ich praktisch keine Familie mehr.

Pünktlich um halb Vier stand meine Mutter an meinem Bett und strich mir sanft durch das Haar.

„Aufstehen Philipp. Es geht los!“

„Auf dem Rückweg halten wir in Berlin. Du hast es versprochen!“ Ich saß im Wohnzimmer am Esstisch meinem Vater gegenüber und beobachtete ihn.

Mehrere Tage musste ich darum betteln, meinen Vater dazu zu bewegen, sich mit seinem Trabi in diese Stadt hinein zu wagen. Er hasste große Städte und am meisten hasste er Berlin.

„Die Berliner sind unfreundlich, großmaulig und schnippisch“, pflegte er zu schimpfen, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot.

Ich wollte unbedingt in den Plänterwald. Ein Klassenkamerad, Kai Wagner, hatte davon geschwärmt, dass ich schon Tage vor der Abreise, jede Nacht von der Achterbahn im Plänterwald träumte.

„Wieso musst du unbedingt in diesen dämlichen Plänterwald?“, brummte mein Vater und spülte den Bissen Brötchen mit einem Schluck Kaffee herunter. Meine Mutter hantierte in der Küche, füllte eine längliche Thermokanne mit Kaffee. Sie würde mindestens dreimal durch die Wohnung rennen, um nachzusehen, ob die Fenster geschlossen wären, die Pflanzen genügend Wasser hatten, alle Wasserhähne überprüfen und ob der Gashahn abgestellt war.

„Den gleichen Mist gibt es doch auch auf der Leipziger Kleinmesse.“

„Papa, auf der Kleinmesse gibt es keine Achterbahn.“

„Was hast du immer nur mit deiner Achterbahn?“

Damit war das Gespräch beendet. Trotzdem wusste ich, dass er mir meinen Wunsch erfüllen würde. Das tat er immer, wenn er es konnte. Selbst einen Hund hätte er mir gekauft, wäre meine Mutter nicht so halsstarrig dagegen gewesen.

Mein Vater und ich warteten über eine halbe Stunde, bis meine Mutter endlich am Auto erschien.

„Ich musste doch noch gucken, ob der Gashahn abgestellt ist.“

Natürlich! Jeden Tag explodierte irgendwo eine Wohnung in der Stadt.

Ich kletterte auf die Rückbank und machte es mir so bequem wie möglich. 1980 war das Anschnallen in der DDR noch nicht Pflicht und der papyrusweiße Trabant 601 besaß hinten ohnehin keine Gurte.

Ich legte meine Beine nach oben, schob mir ein paar klobige Kopfhörer über die Ohren, die aussahen wie ein in der Mitte durchtrenntes Straußenei und warf meine Lieblingskassette in den Radiorecorder. Der Radiorecorder war nagelneu. Das Plastikgehäuse mattschwarz, die rote Aufnahmetaste ganz rechts und über dem Kassettendeck stand mit moderner Schrift Radio Recorder Babett. Das Gerät besaß einen Trageriemen, so dass ich es sogar über die Schulter hängend herumtragen konnte, wenn ich wollte. Auf dem Tape war CrO2 gedruckt und STOP und AUTOMATIK. CrO2 bedeutete, dass der Tonkopf für die neue Generation Kassetten geeignet war. Das einzige Problem war die Effizienz der Batterien. Nach drei vier Stunden begannen die Kassetten zu leiern und Mick Jagger klang, als würde ihm bei Satisfaction die Lust am Singen vergehen.

Ich hatte auf zwei Weihnachts- und zwei Geburtstagsgeschenke verzichtet und wegen des noch fehlenden Geldes die letzten Wochen im Betrieb meiner Mutter geschuftet, nur, um mir dieses für mich absolut moderne Gerät kaufen zu können. Und nun genoss ich meine Mitschnitte auf der hinteren Sitzbank unseres Trabants so stolz wie ein König.

Auf meiner neuen CrO2- ORWO-Kassette befanden sich Mitschnitte von diversen Radiosendungen. Ich hörte fast ausschließlich Bayern 3 oder Radio Luxemburg. Am liebsten Pop nach Acht auf Bayern 3 – eine Sendung, die von Thomas Gottschalk und Fritz Egner moderiert wurde. Wir hatten Glück – Altenburg lag nicht im Tal der Ahnungslosen wie beispielsweise Dresden. Und obwohl mein Vater Mitglied der SED war, sahen wir zu Hause Westfernsehen und hörten Westradio. Nur Verwandte im Westen hatten wir keine. Die einzige Levis, die ich damals besaß, hatte ein kleines Vermögen gekostet und war inzwischen über und über mit Flicken übersät. Meine absolute Lieblingshose. Meine Mutter schimpfte jedes Mal beim Waschen und schüttelte den Kopf, aber nähte sie immer wieder zusammen, wenn sie irgendwo einen neuen Riss bekommen hatte. Sobald die Hose gewaschen war, zog ich sie an und manchmal zog ich sie sogar an, wenn sie noch feucht war und an der Haut klebte. Selbstverständlich trug ich sie auch heute und würde sie den gesamten Urlaub tragen.

In Leipzig ermahnte mich mein Vater das erste Mal, nicht so laut zu singen. Ich sang einen Beatles-Song mit: Yesterday. Die Beatles gab es schon eine Weile nicht mehr und meine Sangeskünste waren ziemlich dürftig.

Bis Ückeritz ermahnte mich mein Vater sechs oder siebenmal, nicht so laut zu singen, aber nie verlor er die Geduld oder wurde wütend.

Mein Vater! Ich liebte meinen Vater. Er war einer meiner besten Freunde, als ich Vierzehn war. Nein, er war der Beste.

Ich erinnere mich, wie er monatelang an einer elektrischen Eisenbahn auf dem Dachboden unseres Miethauses herumgewerkelt hatte. Er klebte und hämmerte alles selbst zusammen, bemalte die Rückwand aus Sperrholz mit einer Landschaft, verlegte künstlichen Minirasen und baute jedes kleine Häuschen aus Modellbaukästen zusammen. Er verlegte Schienen und unendliche Ströme kleiner Elektrokabel. Wenn etwas nicht funktionierte, fing er geduldig von vorne an. Eine Sisyphusarbeit. Weihnachten 1973 bekam ich sie dann geschenkt und jedes Jahr eine Lok, ein paar Güterwagons oder einen Personenzug von ihm dazu.

Diese Modelleisenbahn begleitete mich meine gesamte Kindheit. Wenn ich einmal vor Ungeduld zu platzen drohte, weil erst der 21.12. war und es bis zur Bescherung noch Monate zu dauern schien, steckte er mir einen kleinen Modellgüterwagon vorzeitig in die Tasche.

„Aber sag nichts der Mama!“ Ich strahlte. „Niemals!“ Wir waren eine verschworene Gemeinschaft.

Später sollte ich mich an diesen Erinnerungen wie ein Schiffsbrüchiger an einen Rettungsring klammern. Den Schmerz allerdings, der manchmal meinen Körper vergiftete, konnten sie nicht lindern.

Kurz hinter Neubrandenburg kam der Urlauberverkehr zum Erliegen. Ein Mann hatte sich mit seinem Barkas- Kleintransporter um eine Linde gewickelt. Inzwischen war es Mittag geworden und die Sonne knallte auf die Plastikkarosse unseres kleinen Autos, dass ich fürchtete, dass sie irgendwann einfach schmolz.

Der schwerverletzte Mann wurde abtransportiert und nach knapp zwei Stunden war die Unfallstelle geräumt. Der Verkehr schleppte sich wieder in Richtung Norden.

Im Fond herrschten langsam tropische Temperaturen. Ich beschwerte mich und bat meine Mutter, mich eine Weile nach vorne setzen zu dürfen, weil es hinten keine Scheibe zum herunterkurbeln gab, aber sie überhörte meine Bitte. Stattdessen steuerte mein Vater den nächsten Waldweg an, stoppte den Trabi und wir kletterten ächzend und schwitzend aus dem winzigen Käfig.

Der Kofferraum war bis auf den letzten Millimeter vollgestopft mit Dingen. Es bedurfte schon eines ausgeklügelten Systems, um darin das Gepäck für drei Personen zu verstauen. Außerdem besaß mein Vater die Angewohnheit, ein halbes Ersatzteillager auf jeder noch so kleinen Reise mitzuschleppen.

„Man kann ja nie wissen“, meinte er immer, wenn meine Mutter über den Kofferrauminhalt ihr volles braunes Haar schüttelte.

So befanden sich natürlich auch auf der Fahrt nach Ückeritz neben unseren Koffern und der Provianttüte, diverses Werkzeug, um, davon war ich überzeugt, den Trabant einmal auseinander und wieder zusammen zu schrauben. Zündkerzen, eine funktionsfähige gebrauchte Lichtmaschine, zwei Keilriemen, Unmengen Ersatzlampen, Vergaserteile und natürlich das Ersatzrad.

Die Aufgabe meiner Mutter war es, die Koffer für uns alle zu packen. Aufgabe meines Vaters war es, all diese Dinge dann in den Kofferraum zu stopfen.

Ich hatte eigentlich nichts anderes zu tun, als die Wetterberichte der verschiedenen Kanäle zu hören und diese dann zu vergleichen. So wie es aussah, sollten die nächsten zwei Wochen sehr warm werden und es so gut wie keinen Regen geben.

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9783847624295
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