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1.2.3Therapeutisches Selbstverständnis

Wir befürworten eine therapeutische Haltung, die sich an den zentralen Forderungen des Begründers der Gesprächspsychotherapie, Carl Rogers (vgl. 1994), orientiert: Empathie, Wertschätzung und Authentizität. Über Empathie als wichtigste Grundlage der zwischenmenschlichen Beziehung haben wir im vorigen Abschnitt schon gesprochen. Durch die Wertschätzung des Klienten drückt der Therapeut auch eine Gleichwürdigkeit aus. Zwar besteht in der Therapeut-Klient-Beziehung immer eine durch die Rollen bedingte Ungleichheit, doch darf dies nicht zu Überlegenheitsgefühlen des Therapeuten führen - »Du hast das Problem, und ich habe die Lösung«. Vielmehr liegt in der Wertschätzung, die der Therapeut dem Klienten entgegenbringt, auch eine Akzeptanz seiner Andersartigkeit. Diese ist weder minder- noch höherwertig, sondern stellt lediglich eine andere Form des Seins dar, sodass das, was als problematisch erlebt wird, sowie auch die mögliche Lösung für das Problem aus Klientensicht anders erscheint als für den Therapeuten. Schließlich liegt im Erkennen des Wertes des anderen Menschen implizit auch das Zutrauen, dass er seine Lösungen selbst finden kann. Authentizität als dritte Forderung ist die Voraussetzung für eine echte Begegnung zwischen Menschen. Die therapeutische Beziehung lebt von der Begegnung zweier Menschen, nicht von Fassaden. Dazu gehört für den Therapeuten, bei sich zu sein und das eigene Innere möglichst gut wahrnehmen zu können.

Der wichtigste Wirkfaktor in der Psychotherapie ist die Therapeut-Klient-Beziehung, das haben wir bereits erwähnt. Konkrete Methoden und Techniken treten demgegenüber in den Hintergrund. Entsprechend muss nach unserem Dafürhalten auch die Haltung des Therapeuten sein, vorrangig auf eine gesunde und konstruktive Beziehung zum Klienten zu achten, und nicht darauf, ein bestimmtes Programm abzuarbeiten oder einem vorab festgelegten Fahrplan zu folgen. Dazu gehört manchmal sehr viel Flexibilität: Wenn man sich für die anstehende Stunde mit einem Kind etwas Besonderes überlegt hat, um ihm weiterzuhelfen, und vielleicht sogar stolz auf einen originellen Einfall ist, dann jedoch feststellen muss, auf keinerlei Resonanz zu stoßen, weil das Kind etwas anderes beschäftigt oder es sich heute gar nicht richtig öffnet – dann muss man den Plan vergessen und sich vor allem voll und ganz auf das Kind und seine Realität einstellen. »Erziehung ist Beziehung«, bringt der dänische Familientherapeut Jesper Juul dieses Thema auf eine kurze Formel. Das gilt ebenso für die Lerntherapie: Im Vordergrund steht die Beziehung, die der Lerntherapeut zum Kind und seinen Eltern aufbaut. Die Gestaltung dieser Beziehung und damit auch die Qualität, die diese Beziehung erlangt, liegt in der Verantwortung des Lerntherapeuten. Das ist seine wichtigste Aufgabe. Wie er sie bewältigt, wird stärksten Einfluss auf Erfolg bzw. Misserfolg der therapeutischen Arbeit haben.

Der dritte Aspekt, der uns in diesem Zusammenhang wichtig ist, heißt Ressourcenstärkung statt Defizitorientierung. Sicherlich kommen Eltern mit ihren Kindern in die Lerntherapie, weil sie bestimmte, oft konkret benennbare Defizite wahrnehmen. Ziel soll dann sein, diese Defizite zu beseitigen. In früheren Zeiten war der Ansatz, sich dann eben mit genau diesen Defiziten zu beschäftigen. Wenn heute ein Kind Nachhilfe erhält, obwohl eine Lerntherapie angezeigt wäre, dann geschieht genau diese Fokussierung auf das Defizit – nur, welche Folgen hat das? Das grundlegende Problem liegt darin, in diesem Ansatz ausschließlich die Perspektive der Eltern und der Lehrer einzunehmen (»Das Kind muss richtig lesen können«). Dies ist aber nicht die Perspektive des Kindes. Es steckt bereits so tief in der Problematik von Versagensgefühlen, Angst und Stress, dass kein Raum mehr für einen Wunsch wie »Ich will lesen lernen« da ist. Andernfalls würde es lesen lernen und nicht in die Lerntherapie gebracht werden. Um mit dem Kind arbeiten zu können, um überhaupt eine Aussicht auf langfristigen Erfolg zu haben, muss man als Erstes den Fokus vom Defizit wegnehmen: »So, du kannst nicht lesen. Also, das interessiert mich im Moment nicht so sehr. Was machst du eigentlich gern? Ah, Basteln (oder Fußballspielen oder Musikhören oder Zusammensein mit Freunden oder was auch immer). Okay, dann basteln wir jetzt etwas.« Wenn es um das Defizit geht, wird der Druck auf das Kind erhöht, das fühlt es sehr stark, und das führt unmittelbar zu dem Verhalten, das als unangemessen wahrgenommen wird. Anders gesagt, wir laden das Kind regelrecht dazu ein, dieses Verhalten zu zeigen. Wenn das Kind sich entwickeln und entfalten soll, dann müssen wir mit den Dingen beginnen, die das Kind kann bzw. die es gern macht. Auf diese Weise kann der Therapeut zum Begleiter auf dem Weg werden. Ein wichtiger Aspekt dabei ist, mit dem Kind einen Kontext zu gestalten, in dem es neugierig auf seine Umwelt reagieren darf. Das schafft die Möglichkeit, auch wieder Neugier auf Wörter und Geschichten wachsen zu lassen, was wiederum Voraussetzung ist für die Bereitschaft, lesen und schreiben zu lernen.

Der Begriff »Defizit« bezeichnet im normalen Sprachgebrauch einseitig etwas Fehlendes: eine nicht vorhandene Kompetenz, eine Minderleistung, mangelndes Wissen, ein Unvermögen, etwas Bestimmtes zu tun usw. Abweichend davon möchten wir die gestalterische Funktion von Defiziten ebenso betonen. Indem jemand etwas nicht kann, nicht weiß oder nicht versteht, beeinflusst er seine sozialen Beziehungen oftmals dahin gehend, etwas bestimmtes anderes damit zu erreichen. Was das im Einzelfall genau ist, ist sehr unterschiedlich: Es kann konkrete Hilfe sein (was ich selbst nicht kann, macht jemand anders für mich), es kann Aufmerksamkeit sein (wenn ich die Aufgaben nicht alleine löse, setzt sich meine Mutter dazu und erklärt sie mir) oder auch emotionale Zuwendung (wenn ich meine Probleme nicht selbst in den Griff bekomme, brauche ich immer wieder Gespräche und Trost von Freunden; solange ich nicht lerne, mich abzugrenzen und Nein zu sagen, opfere ich mich zwar für andere auf und setze dadurch vielleicht meine Gesundheit aufs Spiel, bekomme aber auch ihren Dank und riskiere nicht den Verlust von Freundschaft oder Liebe). Das bedeutet in unserem Zusammenhang, Defizite der Kinder nicht isoliert und nur negativ zu sehen, sondern auch Ausschau danach zu halten, welche Vorteile möglicherweise aus ihnen erwachsen, das heißt, welche beziehungsgestaltende Funktion sie haben, und dies in die Arbeit miteinzubeziehen. In diesem Sinne werden wir den Begriff »Defizit« im Weiteren auf der Basis eines systemisch-lösungsorientierten Verständnisses verwenden.

Über die Bedeutung der Erfahrungsebene haben wir in Abschnitt 1.1.3 schon gesprochen. Im Abschnitt 4.1.2 (»Lernen durch Erfahrung«) stellen wir den Zusammenhang von Erfahrung, Lernen und Entwicklung in einer Entwicklungsspirale dar. Dieser Zusammenhang hat auch eine Bedeutung für das therapeutische Selbstverständnis. Wenn die Qualität der therapeutischen Arbeit stark aus der Empathiefähigkeit resultiert und diese wiederum durch Erfahrungen erweitert wird, dann haben wir es auch dabei mit einem Kreislauf zu tun. In diesem Kreislauf verstärken sich Erfahrungen und die dadurch breitere Verfügbarkeit von Handlungen und Gefühlen, die Empathiefähigkeit und die therapeutische Arbeit gegenseitig. Somit sehen wir nicht nur den Klienten, sondern auch den Therapeuten beständig auf einem Weg des Wachstums und der persönlichen Entwicklung. Eine Zusammenfassung des Kreislaufs bietet Abbildung 2.

Abb. 2: Entwicklung des Therapeuten und seiner Arbeit

Wissenschaftlich untermauern lässt sich das Modell einerseits durch die Ergebnisse der Hirnforschung aus den letzten Jahren über die Spiegelneurone (vgl. z. B. Bauer 2006). Zum anderen haben die Befunde und Überlegungen zum »Lernen am Modell«, das Albert Bandura seit den 1970er-Jahren (vgl. 1986, 1997) im Rahmen seiner sozial-kognitiven Lerntheorie entwickelt und beschrieben hat, immer noch Gültigkeit.2 Schließlich spielt ein wichtiges Ergebnis der Psychotherapieforschung eine Rolle: Entscheidender Faktor in der Therapie ist die zwischenmenschliche Beziehung zwischen Therapeut und Klient (und eben nicht die Psychotherapiemethode). Diesen Aspekt hatten wir im vorigen Abschnitt im Zusammenhang mit dem Begriff der Empathie bereits erläutert.

1.3Gesellschaftlicher Kontext
1.3.1Historische und aktuelle Entwicklungen

Bis vor nicht allzu langer Zeit dominierte bei Kindern mit Schulschwierigkeiten die Nachhilfe als Maßnahme der Wahl. Dieser rein pädagogische Ansatz besagt im Prinzip nichts anderes als Folgendes: Wenn das, was bisher getan wurde (also der schulische Unterricht), nicht funktioniert, dann machen wir mehr davon. Dieses Vorgehen kann nur im Ausnahmefall gelingen und führt in aller Regel nur zu mehr Druck und Enttäuschung auf allen Seiten. Daran ändern auch immer ausgefeiltere Übungs- und Trainingsprogramme, mit oder ohne Computereinsatz, nichts.

In den 1980er-Jahren leitete das von Dieter Betz und Helga Breuninger verfasste Buch Teufelskreis Lernstörungen (siehe 1998) eine Wende ein. Hier wurde, verhaltenstherapeutisch orientiert, erstmals gut dargestellt, dass Lernstörungen oft lediglich ein Symptom sind, deren Behandlung allein an der Problematik des Kindes vorbeigeht und daher keinen Erfolg bringt. Dieses Buch leitete einen Umschwung von reiner Nachhilfe, Trainingsprogrammen und dem zugrunde liegenden Gleichheitsgedanken hin zu einem individuumzentrierten Ansatz ein, der sich durch die Berücksichtigung der spezifischen Situation des einzelnen Kindes sowie auch seines Umfeldes auszeichnet. Dieter Betz und Helga Breuninger kommt somit das Verdienst zu, die Lerntherapie einen entscheidenden Schritt vorangebracht zu haben. Angesichts der neueren Erkenntnisse und Entwicklungen halten wir eine verhaltenstherapeutische Perspektive jedoch nicht mehr für zureichend. Eine ganze Reihe möglicher Interventionsformen sind bislang überhaupt nicht berücksichtigt worden. Aus unserer Sicht stellen insbesondere die Erkenntnisse aus der systemischen Therapie in den letzten Jahren wertvolle Ergänzungen dar. Sowohl von der Haltung dem Klienten gegenüber und bezüglich der therapeutischen Beziehung als auch von den konkreten Interventionstechniken her stehen hier für die Lerntherapie ideal passende Weiterentwicklungen zur Verfügung.

Die grundlegende Erkenntnis, dass Kinder oftmals nur Symptomträger sind, verbreitet sich erst langsam und hat sich noch nicht flächendeckend durchgesetzt. Seit kurzer Zeit erstarken beispielsweise biologistische Ansätze, die auf der Basis der immer genaueren Kenntnis der physiologischen Abläufe im Gehirn auf eine stärkere Steuerung des Menschen von außen abzielen. (Mehr dazu weiter unten am Beispiel der medikamentösen Behandlung durch Ritalin®.) Wir halten dies für eine gefährliche materialistische Haltung, die die seelische Ebene und ihre Wirkkraft zu stark außer Acht lassen kann.

Insgesamt beobachten wir in der Gesellschaft immer noch einen starken Wunsch nach Regeln, naturwissenschaftlich begründeten Interventionsformen und standardisierten Ablaufschemata, auch bei vielen Lerntherapeuten. Nach unserer Einschätzung hat dies mit dem Wunsch des Therapeuten oder des Begleiters zu tun, sich selbst als Mensch möglichst nicht mit in den Prozess begeben zu müssen. Es erscheint wohl einfacher, vermuten wir als Einstellung dahinter, für jedes Symptom und jedes Störungsbild ein Behandlungsschema anzuwenden. Diese Haltung vernachlässigt jedoch das Prozesshafte der menschlichen Entwicklung und die Wichtigkeit der therapeutischen Beziehung, deren Bedeutung inzwischen klar belegt ist. Daher kann eine therapeutische Arbeit mit vorgefertigten Behandlungsprogrammen nicht wirklich zu einem dauerhaften Erfolg führen.

Es keimt mittlerweile vielerorts die Einsicht, dass der Machbarkeit und Steuerbarkeit des Menschen von außen Grenzen gesetzt sind und es vielmehr um Entwicklung und Wachstum von innen heraus geht. Dies betrifft, auch im Kontext der Lerntherapie, nicht nur die Kinder, sondern die Erwachsenen gleichermaßen und letztlich ebenso den Lerntherapeuten, der mit einer betroffenen Familie zu tun hat. Auch in den Wissenschaften, die in manchen praktischen Fragen mit ihren Erkenntnissen der Lebenswirklichkeit erst nachfolgen, wird langsam deutlich, dass es die Objektivität, an die lange geglaubt wurde, nicht gibt und daher der Subjektivität des Einzelnen und seinen individuellen Erfahrungen eine größere Bedeutung zugesprochen werden muss als bisher.

Insbesondere in der Arbeit mit Menschen gilt, dass jede Person ein Individuum ist und in einer spezifischen Umwelt lebt, sodass es keine Schemata in der therapeutischen Arbeit geben kann. Eine in diesem Sinne sehr positive Entwicklung stellt die veränderte Gesetzgebung hinsichtlich der Verordnung des Wirkstoffes Methylphenidat dar, die eine Abkehr von einer gleichmacherischen Behandlung der Kinder mit ADHS-Diagnose bedeutet hin zu einer individuellen, auf den Einzelfall bezogenen therapeutischen Behandlung. Dies möchten wir im Folgenden etwas ausführlicher beschreiben.

Bei Kindern mit ADHS-Symptomatik ist die Gabe bestimmter Medikamente, die die Aktivität dämpfen, weit verbreitet. Das bekannteste dieser Medikamente ist Ritalin®. Ritalin® ist der Handelsname, also die Bezeichnung, unter der das Medikament im Handel erhältlich ist. Medizinisch bedeutsam ist der im Medikament enthaltene Wirkstoff; im Ritalin® ist der Wirkstoff das Methylphenidat. Methylphenidat gehört zur Gruppe der Amphetamine und wirkt ähnlich wie Koffein, Kokain oder Speed. Daher wird es teilweise auch als Aufputschmittel missbraucht, zum Beispiel von Studenten in Prüfungsphasen. Bei Kindern mit ADHS-Symptomatik wirkt es aufgrund des veränderten Hirnstoffwechsels jedoch beruhigend. Nach der Änderung der Arzneimittelrichtlinie zum 1.12.2010 dürfen solche Medikamente nicht mehr ohne Weiteres verschrieben werden. Bis dahin war der Wirkstoff faktisch ohne besondere Auflagen von jedem Arzt verschreibbar, und die Menge der verordneten Dosen stieg von 1997 bis 2006 um das Zehnfache.3 Seit Dezember 2010 muss die Diagnosestellung umfassender und gründlicher als vorher erfolgen, es dürfen nur noch Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen verordnen, und die Therapie soll zur Überprüfung des Nutzens regelmäßig unterbrochen werden. Vor allem aber darf Methylphenidat erst dann eingesetzt werden, wenn eine nichtmedikamentöse Behandlung wie zum Beispiel eine Psychotherapie nicht erfolgreich war, und auch stets nur ergänzend zu anderen Therapieformen verschrieben werden, nicht mehr als alleinige Therapie.

Ein anderer seit einiger Zeit verordneter Wirkstoff ist das Atomoxetin (Handelsname z. B. Straterra®). Es wird primär bei der Behandlung von Depressionen eingesetzt und hat einen anderen Wirkmechanismus als Methylphenidat. Da es nicht wie dieses zu den Stimulanzien gehört und damit nicht unter die neu gefasste Arzneimittelrichtlinie fällt, bestehen die oben beschriebenen strengen Auflagen für die Verschreibung nicht.

Ein medikamentöser Wirkstoff wie zum Beispiel Methylphenidat kann vorteilhaft dadurch sein, dass überhaupt erst ein Zugang zum Kind möglich wird und eine Psychotherapie begonnen werden kann, was ohne das Medikament nicht ohne Weiteres möglich wäre. Das Problem bis zum Zeitpunkt der Änderung der Arzneimittelrichtlinie war, dass solche Medikamente oft ohne weitere Therapie verschrieben wurden. Jede Person mit medizinischer Approbation durfte ein Rezept ausstellen, das heißt Hausärzte, Orthopäden und alle anderen Ärzte. Daher bestand die Gefahr, dass zwar dasjenige Symptom beim Kind, das insbesondere für die Umwelt den meisten Leidensdruck erzeugte, beseitigt wurde, jedoch ohne dass eine weiter gehende Arbeit mit dem Kind und seiner Familie begonnen wurde. Wenn ein Wirkstoff funktioniert, sei es Methylphenidat, Atomoxetin oder ein beliebiger anderer, führt das zwar zum Verschwinden der Symptomatiken, was ja das Ziel ist. Damit reduziert sich auch der Leidensdruck im Umfeld des Kindes weitgehend. Infolgedessen sinkt bei vielen Klienten die Motivation, weitere Schritte zu unternehmen, stark ab. Wenn das Leben durch die Einnahme eines Medikamentes wieder normal funktioniert, besteht oft keine Bereitschaft mehr, etwas zu verändern. In diesem Fall wird jedoch das oftmals zugrunde liegende Beziehungsproblem auf die Kinder abgewälzt, denn sie müssen das Medikament einnehmen. Das entspricht nicht der ursprünglichen psychologischen und auch nicht der medizinischen Absicht.

In der Medizin besteht die Hauptabsicht der Medikation darin, zu stabilisieren. Antidepressiva sind ein gutes Beispiel dafür, sie können den Patienten nicht heilen, ihn aber von den drückenden Symptomen befreien, sodass ein Umgang mit der Depression möglich wird. Es gibt so gut wie keine Medikamente, die wirklich heilend wirken, im Prinzip wirken sie alle unterstützend. Sogar das Antibiotikum unterstützt im Grunde genommen lediglich das Immunsystem. Medikamente heilen nicht, aber sie unterstützen den Heilungsprozess. Dieser Heilungsprozess in dem Sinne, dass für den Menschen ein neues Gleichgewicht aufgebaut wird, muss auf anderem Wege vonstattengehen, und diesen Weg muss der Patient bzw. Klient selbst aktiv beschreiten.

Wirkstoffe wie Methylphenidat und Atomoxetin dämpfen nicht nur die ungewünschten Symptome, sondern auch oft das Gefühlsleben der Kinder. Damit geht auch ein Stück der Lebendigkeit verloren. Es wird für diese Kinder schwieriger, Wege zu einer wirklichen Lösung zu beschreiten, und es wird ihnen die Möglichkeit genommen, aus eigener Kraft erreichte Veränderungen zu erleben. Sie nehmen eine Pille, dann geht es ihnen besser – das wichtige Gefühl der Selbstwirksamkeit kann sich so nicht mehr entwickeln (vgl. Abschnitt 4.1.2, »Lernen durch Erfahrung«). Weiterhin wird bei einer medikamentösen Behandlung der konstruktive Anteil des Verhaltens der Kinder übersehen: Ihr Symptom ist auch ein Gestaltungsversuch. Es ist oft für die Kinder die einzige Möglichkeit, auf Einflüsse und Anforderungen der Umwelt zu reagieren und gleichzeitig die eigene Integrität zu wahren. Wenn das Kind erlebte Not nicht anders ausdrücken kann, wenn es keine andere Möglichkeit sieht, seine Grenzen deutlich zu machen, oder wenn es etwas ins System geben muss, weil alle anderen es nicht tun (wenn z. B. die Eltern ihre Aggressivität oder ihre Trauer unterdrücken und kaschieren), und vieles andere mehr, dann sind das Problemlöseversuche. Nur werden sie von der Umwelt nicht als solche erkannt und daher als falsch angesehen. Tatsächlich tun sie dem Kind meistens auch wirklich nicht gut, sodass aus doppeltem Grunde etwas zu unternehmen ist. Ziel dabei muss sein, nicht nur das Symptom zu beseitigen, sondern die Suche nach weiteren, anderen Problemlösestrategien zu ermöglichen und zu befördern.

Die gemeinsame Suche von Klient und Therapeut nach alternativen Möglichkeiten nicht nur des Verhaltens, sondern auch der persönlichen Reifung stellt unseres Erachtens das Fundament dar, auf dem die therapeutische Arbeit aufbaut. Der Therapeut weiß nicht von vornherein, was für den Klienten das Richtige oder am besten ist. Aber sie sehen sich gemeinsam an, was los ist, und gehen von dort aus weiter. Diese Haltung ist nicht in allen therapeutischen Ansätzen zu finden, sie verbreitet sich jedoch immer mehr und ist in der systemischen Therapie besonders ausgeprägt. Nicht umsonst ist die systemische Therapie von dem zuständigen wissenschaftlichen Gremium (dem Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie) im Dezember 2008 als wissenschaftlich anerkanntes Psychotherapieverfahren eingestuft und 2018 vom Gemeinsamen Bundesausschuss als viertes Richtlinienverfahren in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen worden – ein Status, den nur wenige Psychotherapieverfahren erreichen. Diese neueren, in unseren Augen guten Möglichkeiten der therapeutischen Arbeit möchten wir ein Stück weit auf das Feld der Lerntherapie übertragen und damit der lerntherapeutischen Arbeit neue Impulse geben.

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9783849783464
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