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1.1.2Warum Lerntherapie systemisch?

Die systemische Therapie ist aus der Familientherapie entstanden und entwickelt sich fortlaufend weiter. Wir möchten kurz ihre theoretische Basis und die wichtigsten Prinzipien ihrer Arbeit skizzieren. Sie beruht auf systemtheoretischen Ansätzen, der philosophischen Position des Konstruktivismus und kommunikationstheoretischen Erkenntnissen.

Systemtheorien beschreiben den Menschen und das menschliche Zusammenleben bis hin zur Gesellschaft unter dem Blickwinkel eines ständigen Austausches und des permanenten In-Beziehung-Seins der einzelnen Elemente des jeweiligen Systems. Die Elemente, die ein System bilden, haben also dauernd wechselseitig miteinander zu tun und reagieren aufeinander. Gleichzeitig sind sie eine nach außen hin abgrenzbare Einheit, das heißt, man kann klar zwischen dem System als Bündel von Elementen einerseits und seiner Umwelt andererseits unterscheiden. Das System »Familie« zum Beispiel besteht aus den Familienmitgliedern (Eltern/Kindern), die miteinander sprechen, Dinge zusammen tun, miteinander streiten usw. und die eine wahrnehmbare Einheit gegenüber ihrer Umwelt, also Nachbarn, Verwandten, Freunden, Schule etc. bilden. Menschen sind immer Elemente verschiedener Systeme, ein Kind gehört zum Beispiel nicht nur zu einer Familie, sondern auch zu den Systemen »Schulklasse«, »Clique«, »Sportklub« usw. In jedem System gelten andere »Spielregeln«, sodass ein Mensch sich immer etwas unterschiedlich verhält und unterschiedlich fühlt, je nachdem, in welchem System er sich gerade aufhält. Von besonderer Bedeutung ist weiterhin die Eigenschaft von Systemen, sich selbst am Leben zu erhalten. Zwar können sie auch zerfallen, aber in der Regel ist ihre natürliche Tendenz, sich selbst zu erhalten. Die fortwährende innere Dynamik von Systemen macht dies möglich.

Der Konstruktivismus hat als eine wesentliche Aussage, dass es keine Rolle spielt, ob es eine »wirkliche Welt«, also objektive Gegebenheiten, gibt oder nicht. Entscheidend ist, wie wir die Welt individuell (subjektiv) wahrnehmen. Wir konstruieren uns unsere Welt. Die Volksweisheit »Schönheit liegt im Auge des Betrachters« ist ein Beispiel dafür: Eine Blume ist nicht objektiv schön. Der Mensch, der sie wahrnimmt, schreibt ihr Schönheit zu. Oder er tut es nicht, wenn er sie nicht leiden mag. Für jeden Menschen sieht die Welt anders aus, abhängig von seinen Erfahrungen, Bedürfnissen, Werthaltungen usw. Das heißt auch, dass es kein objektives »Richtig« oder »Falsch« gibt. Was für mich gilt und richtig ist, muss deshalb nicht unbedingt auch für mein Gegenüber gelten. Vielleicht sieht der andere die Dinge anders, daher ist für ihn etwas anderes richtig.

Kommunikationstheorien beschäftigen sich damit, wie Menschen kommunizieren. Kommunikation ist wesentliche Voraussetzung für das Fortbestehen eines Systems. Damit das System erhalten bleibt, müssen die Elemente in Austausch miteinander sein. Zwischen Menschen geschieht das durch Kommunikation, im Wesentlichen durch die gesprochene Sprache, aber auch durch Schriftsprache, Körpersprache, Körperkontakt, Übergabe von Gegenständen und anderes mehr. Im therapeutischen Zusammenhang sind zum Beispiel eingefahrene Kommunikationsmuster, Missverständnisse, Tabus, Schwierigkeiten, etwas auszudrücken, Fragetechniken usw. von Bedeutung.

Die systemische Therapie zeichnet sich durch ein humanistisch orientiertes Menschenbild aus. Sie sieht den Menschen weder als eine Reiz-Reaktions-Maschine, wie der Behaviorismus dies tut, noch als hauptsächlich von unbewussten Kräften gesteuert, worauf psychodynamische Theorien ihren Fokus legen. Unter vielleicht manchmal zu starker Ausblendung dieser Aspekte, besonders der Wirkkraft unbewusster Dynamiken, wird der Blick auf die Möglichkeit der bewussten und aktiven Selbststeuerung gelegt, die den Menschen befähigt, sich Ziele zu setzen, zu entscheiden, welche Dinge er in seinem Leben ändern möchte, und dies auch in Angriff zu nehmen. Die eigene Entwicklung und die Beseitigung von Problemen werden als grundlegende Ziele im menschlichen Leben angesehen. Im Prinzip besitzt jeder Mensch auch die dafür notwendigen Ressourcen. In den Fällen, in denen sie nicht genügend zugänglich sind, kann ein Therapeut behilflich sein, eine neue Sichtweise zu gewinnen, Kräfte zu aktivieren, die bisher nicht wirksam werden konnten, oder eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie das Leben ohne das jeweilige Problem aussehen kann, und Maßnahmen einzuleiten, dorthin zu gelangen.

Der systemische Therapeut ist nicht derjenige, der eine Lösung für das Problem anzubieten hat. Er weiß nicht besser, was für den Klienten gut oder richtig ist, als dieser selbst. Er zielt meist auch nicht darauf ab, die Ursache des Problems zu finden. Wer als Klient eine Therapie beginnt, steckt in der Regel schon längere Zeit in einer schwierigen Situation. An ihr sind fast immer auch andere Menschen beteiligt (da jeder Mensch sich in Systemen befindet). Aufgrund vielfältiger Kommunikationen, der Selbsterhaltungstendenz von Systemen auch dann, wenn Probleme vorhanden sind, und einer Reihe von erfolglosen Problemlösungsversuchen ist die Entstehung des Problems oft nicht mehr klar nachvollziehbar. Die Situation erscheint festgefahren. Der systemische Therapeut kann neue Impulse geben, neue Erfahrungen ermöglichen, irritierende Fragen stellen und somit neue Perspektiven generieren. Ziel ist dabei oft, statt des problembehafteten Verhaltens ein alternatives Verhalten auszuprobieren. Oftmals lösen sich dadurch Konflikte, wenn man Dinge anders macht oder andere Dinge macht als bisher.

Dabei befindet sich der Therapeut, nicht nur der systemische, in einem Dilemma, denn er kann vorher nicht sicher wissen, was es genau bewirken wird, wenn er etwas tut (eine bestimmte Frage stellt, einen Vorschlag äußert, eine körperliche Berührung ausführt usw.). Der Klient, wie jeder Mensch, steckt nicht nur in Systemen, er ist auch selbst ein System, also ein Zusammenspiel aus vielen verschiedenen Elementen: dem Körper mit seinen Teilen wie Organen, Blutkreislauf, Gehirn, Stoffwechsel, Hormonsystem, Botenstoffen etc., dem Geist mit allen Erfahrungen, die er mit anderen Menschen und der Welt gemacht hat, den individuellen Vorlieben und Abneigungen, den Werten und Wünschen, den Gefühlen usw. und der Seele mit ihren Kräften, Erfahrungen und unbewussten Dynamiken. Eine der Folgerungen aus der systemtheoretischen Sichtweise ist die der Unmöglichkeit einer kausalen Intervention: Ich kann nicht sicher sein, was ich für eine Intervention machen muss, um eine bestimmte gewünschte Wirkung zu erzielen. Und auch andersherum weiß ich nicht sicher, was geschehen wird, wenn ich etwas Bestimmtes tue. Ich kann als Therapeut einen Input in das System »Klient« geben, aber was sich als Effekt ergibt, hängt vom Klienten ab.

Folglich muss sich der systemische Therapeut immer sehr individuell auf seine Klienten einstellen. Was als Intervention bei dem einen Klienten hilfreich war, kann bei einem anderen wirkungslos oder nachteilig sein. Der Achtung des Klienten als einzigartigen, eigenständigen, selbst entscheidenden und für sich verantwortlichen Wesens kommt daher eine sehr hohe Bedeutung zu.

1.1.3Besonderheiten des Konzeptes

Das in diesem Buch dargestellte Konzept mit seinen Grundannahmen, Zielsetzungen und Arbeitsformen entwickelt bestehende Ansätze der Lerntherapie weiter und schließt damit auch eine Lücke hinsichtlich der derzeit angebotenen Ausbildungen. Insbesondere sind diese Aspekte wichtig: Zunächst wird die systemische Perspektive stärker berücksichtigt, als das bislang geschehen ist. »Das Kind spiegelt sich in die Welt«, sagt Joachim Bauer (2006, S. 57), und beschreibt damit das bereits unmittelbar nach der Geburt einsetzende permanente wechselseitige Aufnehmen und spiegelnde Zurückgeben von Signalen zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen. Dieses Aussenden von Signalen und der Aufnahme der Reaktion ist vermutlich die wichtigste Grundlage für das gesunde Aufwachsen von Kindern. Damit wird deutlich, welche Bedeutung dem unmittelbaren sozialen Umfeld des Kindes zukommt. Entsprechend muss es in eine lerntherapeutische Arbeit mit einbezogen werden.

Die zweite Besonderheit besteht in der ganzheitlichen Betrachtung des Kindes, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der seelischen Ebene. Wir sehen als unangemessen wahrgenommenes Verhalten in der Regel als Ausdruck seelischer Nöte an (mehr dazu im Abschnitt 4.3, »Therapeut-Kind-Interaktion«). Der Einbezug der Möglichkeit ungelöster seelischer Konflikte wie Ängsten oder Selbstwertproblemen und ihrer Wirkkraft bezüglich des Verhaltens des Kindes in die Arbeit mit dem Kind und seiner Umwelt ist ein entscheidender Aspekt unseres Verständnisses von Lerntherapie. Wir möchten daher für die innerseelischen Vorgänge der Klienten sensibel machen und Möglichkeiten aufzeigen, auf sie einzugehen. Mehr als bei Erwachsenen, deren Sicht auf die Welt auch sehr unterschiedlich ist, gilt bei Kindern, dass sie buchstäblich in ihrer jeweils individuellen, eigenen Realität leben. Diese individuelle Wirklichkeit, auch die innerseelische, muss wahrgenommen und mit berücksichtigt werden.

Schließlich möchten wir für praktisch tätige oder in Ausbildung befindliche Lerntherapeuten die Bedeutung der Erfahrungsebene hervorheben, da sie es in erster Linie ist, die das Lernen ermöglicht. Zum Beispiel können Sie einen Text darüber lesen, dass Perspektivenübernahme wichtig ist, also dass Sie sich in die Situation des Kindes hineinversetzen sollen und ihm für das Problem keine Lösung präsentieren sollen – oder Sie können im Rollenspiel Ihrem Gegenüber ein eigenes Problem schildern, hören, wie es sagt »Dann mache mal das und das«, und dann die Abwehr spüren, die Sie gegen diese Lösungsmöglichkeit haben, weil es eben nicht Ihre Lösung ist, sondern die Ihres Gegenübers. Erst dieses Gefühl, dass Sie Ihre eigene Lösung brauchen, macht das Verständnis für das Thema »Perspektivenübernahme« vollständig. Erst dann sind Sie wirklich in der Lage, sich mit Lösungsvorschlägen für die Probleme anderer zurückzuhalten.

1.1.4An wen richtet sich die systemische Lerntherapie? (Indikationen)

Die systemische Lerntherapie, wie sie in diesem Buch beschrieben wird, ist gedacht für Kinder etwa zwischen dem sechsten und zwölften Lebensjahr und ihre Eltern. Für Familien mit jüngeren oder auch älteren Kindern sind nach unserer Meinung andere Konzepte nützlicher (Familientherapie, individuelle Therapieformen). Die meisten betroffenen Kinder bzw. Eltern kommen zu uns, weil sie Schwierigkeiten mit der Schule haben und denken, dass sie sie nicht allein bewältigen können. Diese Indikation reicht uns aus. Formeller gefasst heißt das: Für Kinder mit Schwierigkeiten beim Lese- und Rechtschreiberwerb, beim Erwerb von Rechenfähigkeiten oder kombinierte Schwierigkeiten beim Erwerb schulischer Fähigkeiten, die nicht auf eine Intelligenzminderung zurückzuführen sind, ist eine systemische Lerntherapie angezeigt. Ebenso sind Kinder und ihre Eltern gut bei einer systemischen Lerntherapie aufgehoben, deren Schwierigkeiten im sozialen Verhalten (Integration/Anpassung an Gruppen) zu Schuloder Leistungsverweigerung, Gewalt oder Rückzug führen und mit einem gleichzeitigen Aufbau von schulischen Defiziten verbunden sind.

Der Klient in unserer systemischen Lerntherapie ist nicht allein durch das Kind repräsentiert, sondern durch die Familie. Wenn wir sagen, ein Kind kommt zu uns in die Therapie, ist damit das ganze Umfeld des Kindes gemeint und ganz besonders seine Eltern. Der spezielle Aufbau und die Prinzipien einer systemischen Lerntherapie lassen sie für Eltern geeignet erscheinen, die sich darüber im Klaren sind, dass jedes Verhalten ihres Kindes einen »guten Grund« hat und funktionaler Bestandteil der Beziehungen zwischen Kind und Schule sowie zwischen Kind und Eltern ist. Und die sich auch darüber im Klaren sind, dass die Fähigkeit zur »Heilung« in jedem selbst und in den Möglichkeiten der Gestaltung von Beziehungen liegt. Unser Ansatz ist darüber hinaus sehr geeignet für Eltern, die sich über diese Dinge noch nicht im Klaren sind. Ganz besonders ist unser Ansatz für Eltern geeignet, die diese Zusammenhänge abstreiten, denn dafür haben auch sie einen guten Grund, wobei dieser unmittelbar das Verhalten ihrer Kinder auslösen kann und somit eine erste Intervention nahelegt.

1.2Haltung und Menschenbild
1.2.1Die Arbeit mit Kindern

In früheren Zeiten spielten Strenge, Verbote und Bestrafung (z. B. der Lehrer mit dem Rohrstock) im Umgang mit Kindern eine viel größere Rolle als heute. Kinder wurden oft als kleine Erwachsene behandelt, die sich entsprechend zu benehmen hatten. Solcherart Erziehungspraktiken sind heute glücklicherweise weitgehend verschwunden. Andererseits waren Kinder auch viel sich selbst überlassen, konnten alleine draußen spielen und die Umgebung erkunden und mussten Begegnungen mit anderen Kindern ohne elterliche Hilfe regeln und bewältigen. Heute werden Kinder oftmals sehr stark beachtet und mit Aufmerksamkeit bedacht, weil sie etwas Besonderes geworden sind, sodass die selbst initiierte Beschäftigung weniger stattfindet. Sie werden behütet, Verbote und Grenzen zu setzen finden viele Eltern überholt. Eine Vielzahl von Medien lädt zum Konsum ein, viele Kinder leiden unter Bewegungsmangel und einer Unterentwicklung der Koordinationsfähigkeiten. Gleichzeitig sehen sich die Eltern oft überfordert, bedingt durch eigene Ansprüche sowohl an sich als auch an das Kind sowie auch durch gesellschaftliche Normen. Bei manchen Kindern kommt aufgrund von Trennung der Umstand eines abwesenden Elternteils hinzu.

Worum nun geht es bei der Arbeit mit Kindern? Was ist das Besondere daran? Welches ist der entscheidende Punkt, der diese Arbeit glücken lassen kann? Hier spielen die grundlegenden Annahmen des Lerntherapeuten, wie Kinder sind und wie man sie behandeln muss, eine bedeutende Rolle. Es geht darum, mit welcher inneren Haltung wir Kindern gegenübertreten. Allgemeiner gefasst geht es um das Menschenbild, das wir in uns tragen und von dem aus wir andere Menschen betrachten und mit ihnen umgehen. Mit »Menschenbild« ist der ganz grundlegende Glaube bezüglich dessen gemeint, wie der Mensch ist und funktioniert – zum Beispiel, ob er eher ein rationales oder ein emotionales Wesen ist, ob er unveränderliche Eigenschaften besitzt, ob er gut oder schlecht ist, ob er auf Zusammenarbeit oder Kampf angelegt ist, ob es so etwas wie ein Unbewusstes gibt, ob zu viel Liebe nur verwöhnt, ob man Kinder erziehen muss oder ob sie von alleine wachsen usw. Auf der Basis dieses Menschenbildes gestaltet sich auch die lerntherapeutische Arbeit. Für das bewusste Arbeiten und die Möglichkeit, sich auf den Klienten und seine Wirklichkeit einlassen zu können, ist es gut, das eigene Menschenbild möglichst gut zu kennen. Wir können dafür im Rahmen dieses Buches keine Vorschläge machen, möchten aber dazu ermuntern, darüber zu reflektieren bzw. auch Weiterbildungen oder Selbsterfahrungskurse zu besuchen, die helfen, sich dem Thema weiter zu nähern. Unser Ansatz, das wird in diesem Buch an verschiedenen Stellen deutlich werden, ist von einem humanistischen Menschenbild getragen.

Im Folgenden möchten wir in diesem Zusammenhang einen Aspekt erläutern, der ein wichtiges Element unseres lerntherapeutischen Verständnisses darstellt. Er gehört einerseits zu unserem Menschenbild und hat andererseits auch praktische Konsequenzen für die lerntherapeutische Arbeit: Unangemessenes Verhalten ist ganz oft Ausdruck ungelöster, meist emotionaler oder seelischer Konflikte im Menschen. Diese Konflikte wiederum liegen meist in Umweltfaktoren (mit) begründet, die die Bedürfnisse des Menschen unerfüllt gelassen haben. Mit unangemessenem Verhalten sind Interaktionen gemeint, die zum Beispiel auf andere verletzend wirken oder von ihnen mehr Reaktionen und Aufmerksamkeit verlangen, als sie ansonsten gegeben hätten. Typische Beispiele wären Wutausbrüche, Anschreien, körperliche Angriffe, Teilnahmslosigkeit, Weglaufen, Anlügen, Verweigerungen, psychische Verletzungen. Unangemessenes Verhalten wird oft auch als »originelles Verhalten« bezeichnet. Der Vorteil dieser Bezeichnung liegt darin, dass nicht etwas Defizitäres oder Schuldhaftes ausgedrückt wird, sondern das Konstruktive im Verhalten gesehen wird. Für gezeigtes Verhalten gibt es immer einen guten Grund, und es hat einerseits eine beziehungsgestaltende Funktion, andererseits stellt es zumeist eine Reaktion auf die Umwelt dar. Wenn das, was das Kind tut, von der Umwelt als unangemessen wahrgenommen wird, hat das Kind einfach keine bessere Möglichkeit zu reagieren. Die Personen in der Umwelt des Kindes finden es unangemessen, weil es nicht ihren Bedürfnissen und Erwartungen entspricht. Für das Kind ist sein Verhalten jedoch richtig und passend, es kommt für die anderen Personen also darauf an, diesen Sinn ebenfalls zu erkennen.

Ein Kind, das solch ein unangemessen erscheinendes Verhalten zeigt, trägt auch eine Not in sich. Diese Not besteht oft aus Angst oder Unsicherheit, das heißt einem niedrigen Selbstwertgefühl. Die Frage ist nun: Liegt die Ursache für das beobachtete Verhalten letztlich im Kind oder in seiner Umwelt? Je nachdem, wie man diese Frage beantwortet, werden auch die einzuleitenden Maßnahmen ausgewählt. Wir glauben: Die entscheidenden Faktoren sind meistens in der Umwelt des Kindes zu suchen, also im System. Das Modell für die Entstehung vieler Problematiken bei Kindern, das wir vertreten, ist zusammenfassend in Tabelle 1 dargestellt.

Tab. 1: Modell für die Entstehung unangemessenen Verhaltens

Mit dem Symptom drückt das Kind eine innere Not aus. Was von anderen als unangemessenes und damit auch unerwünschtes Verhalten angesehen wird, resultiert aus dem Unvermögen des Kindes, besser mit einer als bedrohlich empfundenen Situation umzugehen. Dieses Modell beschreibt den Defizitraum. Es lässt sich genauso auf den Möglichkeitsraum anwenden: In dem Moment, wo sich die Umwelt wandelt und für das Kind andere, positive, konstruktive Erfahrungen bereitstellt, wandeln sich auch Emotionen und Verhalten des Kindes.

Wenn wir von dieser Voraussetzung ausgehen, wie Probleme beim Lernen oder beim Verhalten von Kindern entstanden sind, leitet sich daraus auch ab, wie anzusetzen ist, damit man helfen kann. Es scheiden diejenigen therapeutischen Methoden aus, die lediglich aus Training mit dem Kind bestehen. Demgegenüber erlangen solche Methoden, die am Umfeld des Kindes ansetzen, eine hohe Bedeutung.

Im Griechischen bedeutet methodos »Weg«, das heißt, die Methode ist der Weg dafür, ein Ziel zu erreichen. Wenn ich von A nach B will, stellen sich drei Fragen: Erstens – wo starte ich (wie sieht A aus, was gibt es da, was fehlt)?, zweitens – wo will ich hin (was genau kennzeichnet B, was will ich erreichen)?, und drittens – welchen von den möglichen Wegen wähle ich aus, um ans Ziel zu kommen? Für uns spielt eine besondere Rolle, dass die Menschen verschieden sind und es daher nicht die eine Methode gibt, die immer für alle passend ist. »Die Methode« ist daher nicht, alle denselben Weg beschreiten zu lassen, sondern mit jedem Klienten individuell zu sehen, wie ein guter Weg aussehen kann.

1.2.2Empathie und therapeutische Arbeit

Damit wir dem Kind helfen können, es begleiten können auf seinem Weg, ist vor allem eines notwendig: Empathiefähigkeit. Sich in das Kind und seine Realität einfühlen zu können, es spiegeln zu können in seinen Nöten, aber auch in seinen Bedürfnissen und seinen Erfolgserlebnissen ist das Wichtigste, das der Therapeut leisten können muss. Dies kann umso besser gelingen, je größer die Bandbreite der Erfahrungen des Therapeuten ist, weil diese eigenen Erfahrungen es erst ermöglichen, den anderen verstehen und sich in seine Wirklichkeit hineinversetzen zu können. Diese Empathiefähigkeit ist die entscheidende Voraussetzung für das Gelingen einer zwischenmenschlichen Beziehung (Belege dafür liefert die neuere Hirnforschung, vgl. z. B. Joachim Bauer 2006). Die Beziehung zwischen Therapeut und Klient wiederum ist der bedeutendste Wirkfaktor in der Psychotherapie (Studien zu dieser Frage wurden z. B. von Grawe 2004, Grawe u. Grawe-Gerber 1999, Wampold et al. 2018, Duncan et al. 2010 sowie von Lambert 1992 durchgeführt). Dies ist genauso für die Lerntherapie anzunehmen, auch wenn sie keine Psychotherapie im engeren Sinne ist, da es bei beiden im Wesentlichen um die Begleitung eines Menschen geht.

Zwar ist unsere grundsätzliche Perspektive, dass in der lerntherapeutischen Arbeit hauptsächlich beim Umfeld des Kindes anzusetzen ist (bei Eltern, Geschwistern, Lehrern, Nachhilfelehrern, Freunden etc.). Gleichzeitig sind die Problematiken der Kinder jedoch individuell verschieden, ihre spezifischen bisherigen Lebens- und Lernerfahrungen werden sich immer unterscheiden und können sich auch innerhalb der Therapie verändern, ohne dass wir darauf bewusst Einfluss genommen hätten. Manche Kinder haben guten Zugang zu einem bestimmten Entspannungsverfahren und zu einem anderen nicht, zu bestimmten Bewegungsspielen oder -übungen usw. Daher sollte der Therapeut über eine Vielzahl von Techniken, Methoden, Spielen etc. verfügen, um bei der Intervention jeweils etwas Passendes auswählen zu können. Dabei kommt der Empathiefähigkeit eine wichtige Rolle zu, weil sie es ermöglicht, adäquat auf das jeweilige Kind und seine Situation reagieren zu können. Diese Beziehungsfähigkeit ist die wichtigste Voraussetzung, das heißt die Möglichkeit, eine tragfähige zwischenmenschliche Beziehung zum Kind herzustellen. Sie speist sich aus dem Reifegrad der Persönlichkeit, der Empathiefähigkeit und der Bereitschaft zur Selbstreflexion.

Therapeutische Arbeit kann umso besser gelingen, je besser man die eigenen Themen außen vor lassen kann (empfundene Unzulänglichkeiten, frühere Kränkungen, Bedürfnisse, Ängste, Vorurteile etc. – also insgesamt die Schattenseiten) oder zumindest je mehr man sich ihrer bewusst und in der Lage ist, sie vorübergehend auszuklammern. Kein Mensch ist perfekt, jeder hat an der ein oder anderen Stelle die Möglichkeit, an sich zu arbeiten – das gehört zu unserem Menschsein. Genau die Bereitschaft dazu ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, wenn ein Therapeutenberuf angestrebt wird.

Den Begriff Therapeut verstehen wir im ursprünglichen griechischen Sinne als »Diener« oder »Begleiter«. Als Begleiter auf dem Weg des Lebens, der Entwicklung und beim nächsten gerade anstehenden seelischen Reifungsschritt. Ganz entscheidend dafür ist die Fähigkeit, wahrzunehmen, was das Gegenüber gerade braucht, das heißt menschlich braucht, und darauf adäquat zu reagieren, das heißt, ihm beim Suchen und im besten Fall auch Finden zur Seite zu stehen.

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9783849783464
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