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Schiffbruch

Kap Race ist eine Landzunge auf der Halbinsel Avalon im äußersten Südosten Neufundlands. Dort treffen der kalte, aus der Arktis kommende Labradorstrom und der warme Golfstrom zusammen. In der Folge entsteht Nebel, auf dem Meer wie an Land, wo zwischen Mai und Juli durchschnittlich einundfünfzig Nebeltage gezählt werden. Die Segelanweisungen für das Seegebiet sprechen von einem psychedelischen Farbwirbel im Wasser, der entsteht, wenn das olivgrüne Wasser des Labradorstroms sich mit dem ultramarinblauen Wasser des Golfstroms vermischt. Berüchtigt ist die Gegend auch für extreme Temperaturunterschiede. In nur einer Schiffslänge Abstand wurden gleichzeitig null und 40 °C gemessen.

1863 war das Dampfschiff Anglo Saxon auf dem Weg von Liverpool nach Québec und sollte auf Höhe von Kap Race Post übernehmen.21 Unter dem Kommando von Kapitän William Burgess befanden sich insgesamt 445 Menschen an Bord, viele davon junge Männer und Frauen aus Irland, manche davon noch minderjährig, die in Nordamerika ein neues Leben beginnen wollten. Am 25. April traf das Schiff auf Treibeis und eine Nebelbank, woraufhin es das Tempo drosselte. Das Wetter blieb bis in die Nacht hinein schlecht, besserte sich aber am Morgen des 26., ehe sich der Nebel wieder senkte und das Schiff einschloss. Nach zwei Tagen ohne jede Sicht geriet die Navigation zu einem Glücksspiel, und so erging am 27. April um 11:10 Uhr der Ruf, dass an Steuerbord Brandung zu sehen war. Für das Schiff war das die denkbar schlechteste Nachricht, denn Brandung bildet sich nur dort, wo die Wellen auf Land treffen.

Die Maschinen wurden auf äußerste Kraft zurück gestellt, doch es war zu spät, zumal der starke Seegang das Schiff Richtung Felsen trieb, auf dem es sich das Ruder, den Achtersteven und die Schraube abriss. Wasser strömte hinein, und die Evakuierung wurde eingeleitet. Als Erstes durften die Passagiere der ersten Klasse in die Rettungsboote steigen. Andere Passagiere retteten sich über eine umfunktionierte Spiere auf die Klippen. Den Anfang machten die Frauen. Um die Mittagszeit wurde das Wrack vom Felsen gehoben und schwamm kurz auf, ehe es zu sinken begann. Der Chefmaschinist beschrieb das Geschehen später als »entsetzlich« und zeichnete ein Bild des Grauens. Panik und Entsetzen machten sich breit. Laut Zeugenaussagen sprangen viele Menschen ins Wasser, als das Schiff von den Klippen glitt. Sie wurden von den Fluten mitgerissen. An Deck drängten sich Passagiere, die sich in Sicherheit zu bringen versuchten, als die Anglo Saxon sich selbstständig machte, aber sie landeten unterschiedslos im Wasser, und die meisten von ihnen ertranken.

Robert Allen, der Dritte Offizier, versuchte gemeinsam mit Kapitän Burgess in die Takelage zu klettern, aber als sich das Schiff auf die Seite legte, landeten beide im Wasser. Vor der Kommission, die das Unglück später untersuchte, verlieh Allen seiner Schilderung des grauenvollen Herganges eine Prise Galgenhumor, als er berichtete: »Unter Wasser bekam ich den Mantel des Kapitäns zu fassen, und da ich annahm, es sei eines der Segel, versuchte ich mich daran hochzuziehen, bis ich irgendwann den Bart des Kapitäns erreichte.«

Der Kapitän konnte nicht mehr aussagen. Er war in das Innere des Wracks geraten und hatte sich nicht mehr befreien können. So musste Allen zusehen, wie sein Chef ertrank. Er selbst erreichte ein provisorisches Floß, auf dem sich der Schiffskoch und einige Passagiere befanden. Zuvor hatten sie vergeblich versucht, einen Menschen zu retten, den sie im Wasser entdeckt hatten. Nun trieben sie orientierungslos durch den Nebel, bis der sich gegen Abend lichtete und sie Land sehen konnten. Derweil schickten jene, die sich auf die Felsen gerettet hatten, vier Überlebende mit dem Auftrag los, sich zum Leuchtturm durchzuschlagen, und zündeten ihrerseits ein Feuer an, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Abgesandten kehrten schließlich mit einem Boot der Associated Press zurück, das die Wartenden bergen und zur Telegrafenstation von Kap Race bringen konnte.

Bei dem Unglück kamen 237 Menschen ums Leben.

Ein Schicksal wie das der Anglo Saxon scheint aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit zu stammen. Tatsächlich aber sterben bis heute Jahr für Jahr viele Tausend Menschen, die sich auf überfüllten und kaum seetüchtigen Booten drängen.22 Und noch während Berichte über das Drama der Anglo Saxon auf beiden Seiten des Atlantiks die Runde machten, wuchs sich die Tragödie zu einem handfesten Skandal aus. Es stellte sich heraus, dass der Plan, am Kap Race ein Nebelhorn aufzustellen, auf Betreiben von Associated Press verworfen worden war, weil die Nachrichtenagentur um ihr Geschäft mit Wetterdaten fürchtete, die sie gemeinsam mit Postsendungen und Nachrichten an vorbeifahrende Schiffe auslieferte.

Ein Jahrhundert vor der Erfindung von GPS war Nebel eine große Gefahr für die Hochseeschifffahrt, weil er sowohl die Gestirne, die für die Navigation benötigt wurden, als auch das Land verbarg, das ersatzweise Orientierung hätte bieten können. Die Untersuchung des Untergangs der Anglo Saxon ergab, dass Kapitän William Burgess zwar ein erfahrener und umsichtiger Seemann gewesen war, es aber versäumt hatte, das Lot einzusetzen, um Wassertiefe und Beschaffenheit des Meeresbodens zu ermitteln.23 Eine weitere Erkenntnis lautete, dass ein Nebelhorn Menschenleben hätte retten können. Dieser letzte Punkt wurde von den Medien aufgegriffen und führte zu einem Aufschrei der Öffentlichkeit. Telegramme mit den neuesten Entwicklungen wurden verschickt, wofür Unterseekabel verwendet wurden, die auch an der Unglücksstelle verliefen.

Auf beiden Seiten des Atlantiks bangten derweil Menschen um das Leben von Angehörigen. Die Zeitungen druckten Listen mit den Namen von Geretteten, nicht selten allerdings falsch geschrieben. Über New York erreichte die Meldung vom Schiffsuntergang am 30. April auch den irischen Cork Examiner. Anfang Mai kursierten in ganz Irland, Großbritannien und Nordamerika Berichte und Meldungen. Am 1. Mai setzte der New York Herald mit der Überschrift eines Artikels den Ton, den die Berichterstattung annehmen sollte. »Wer ist für den Untergang der Anglo Saxon verantwortlich?«, hieß es dort. Der Artikel identifizierte das Fehlen eines Nebelhorns als Auslöser der Katastrophe und forderte die britische Regierung auf, die Aufstellung eines solchen Apparates zu ermöglichen, auch wenn die Untersuchung des Hergangs zu einem weniger eindeutigen Ergebnis kam. Gleichwohl dauerte es bis 1873, bis Kap Race mit einem Nebelhorn ausgerüstet wurde, und das geriet eher kümmerlich. Erst 1907 wurde ein Nebelhorn installiert, das stark genug war, um den Nebel zu durchdringen und sich auf dem offenen Meer bemerkbar zu machen. Doch auch damit war die Geschichte der Schiffsuntergänge in dieser Region nicht beendet.

Der Verlust an Menschenleben beim Untergang der Anglo Saxon war enorm, aber letztlich nicht ungewöhnlich. In einer zeitgenössischen Quelle habe ich die Angabe gefunden, dass allein vor Kap Race zwischen 1866 und 1904 vierundneunzig Schiffe gesunken sind. Vor der Küste Neuseelands war wenige Monate vor der Anglo Saxon ein Schiff namens Orpheus untergegangen, wobei 189 Menschen starben. Doch diese Zahlen verblassen in Anbetracht der Millionen, die bei der Verschiffung von Sklaven im Nordatlantik ertrunken sind. Im Falle der Anglo Saxon war die Anteilnahme der Menschen, die sich auf die Zeitungsberichte stürzten, vor allem deshalb so groß, weil es sich bei den Opfern um weiße Europäer handelte.

Zu dieser Zeit sahen sich viele Europäerinnen und Europäer gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und in Übersee neu zu beginnen. Die weitaus meisten davon reisten mit dem Schiff. Zwischen 1800 und 1845 waren 1,5 Millionen ausgewandert, zwischen 1871 und 1891 waren es sage und schreibe 27,6 Millionen.24 Diese Zahlen bedeuteten auch, dass die Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks mit Seereisen mindestens vom Hörensagen vertraut waren, weil die meisten Freunde oder gar Familienangehörige hatten, die auf diese Weise den Ozean überquert hatten. Der Historiker Gillian Beer vertritt die These, dass die Briten des 19. Jahrhunderts »sehr viel besser wussten, was der Ausdruck Seegang besagt, als wir heute. Sie haben es am eigenen Leibe gespürt. Sie selbst, ihre Verwandten oder Bekannten waren gezwungen, per Schiff zu reisen, oft über große Strecken. Emigration, Imperialismus und Handel waren ohne längere Seereisen undenkbar.«25

In den Jahrzehnten rund um das Unglück vor Kap Race war es gewissermaßen an der Tagesordnung, dass Schiffe bei Nebel auf Grund liefen oder untergingen, vor allem im Seegebiet vor Neufundland. Eine aktuelle Liste für Wracktaucher enthält 318 Einträge allein für diesen Küstenstreifen. Die bekanntesten Verluste sind die Dampfschiffe Acis, Acton, Rhiwderin, Mariposa und Rhodora. Ihnen allen wurde Nebel zum Verhängnis. Aber nicht nur vor Neufundland gingen Schiffe auf diese Weise verloren. Nebel war lange vor der Erfindung des Nebelhorns eine Gefahr, und er blieb es auch danach.

In den späten 1960er-Jahren veröffentlichte der Bibliothekar Charles Hocking ein zweibändiges Werk, das wie eine Doktorarbeit daherkam und jedes Schiffswrack benennt, das zwischen 1824 und 1962 zu beklagen war. Hinter Kriegsverlusten durch U-Boote rangiert Nebel auf Platz zwei der Ursachen. Der Zeitraum, den Hocking untersucht hat, mag willkürlich erscheinen, aber bestimmt wird er durch die ersten belastbaren Statistiken auf der einen Seite und den Beginn der Containerschifffahrt auf der anderen. Vor 1824 mag alles noch schlimmer gewesen sein – schlechte Seemannschaft und mangelhaft ausgerüstete Schiffe waren die Regel, und die Sklaverei forderte wie gesagt zahllose Opfer. Die allermeisten von ihnen sind im Atlantik gestorben, sodass Bilder vom Sonnenuntergang auf einer friedlichen See keine Idylle zeigen, sondern ein Massengrab.

Seit jeher hat sich die Musik der auf See Gebliebenen angenommen und ihr Schicksal beklagt, von traditionellen Folksongs wie Sweet William, in dem eine junge Frau einen Seemann beweint, der nicht zurückgekommen ist26, bis hin zur Musik des 1990 gegründeten Detroiter Duos Drexciya, das sich in seiner Arbeit auf einen subaquatischen Afrofuturismus berief. Seine Tanzmusik verhieß all jenen Erlösung, die über Bord gegangen und ertrunken waren. Die Kinder schwangerer Sklavinnen, so die Vorstellung, hatten überlebt und waren unter Wasser herangewachsen. Diese Lesart misst zugleich die Abgründe aus, in denen die menschliche Moral zu versinken droht, und stellt ihnen ein akustisches Bild gegenüber, in dem dem Meer die Rolle als Erneuerer des Lebens zukommt.

Systematisch erfasst wurden Schiffsverluste erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts, auch wenn es aus vorherigen Jahrzehnten einzelne Statistiken gibt. Für das Jahr 1816 verzeichnete Lloyd’s of London 362 (aus diversen Gründen) verlorene oder vermisste Schiffe. Gezählt wurden aber nur Schiffe ab einer gewissen Größe, kleinere wie Fischer- und Sportboote fielen durch den Rost. Und schon gar nicht waren alle Gegenden der Welt erfasst. Auch in Hockings Zusammenstellung kommen Fischer- oder Segelboote nicht vor und ausländische Schiffe nur, wenn sie mehr als 1000 Tonnen verdrängten. Solcherlei Einschränkungen und Auslassungen gilt es zu bedenken, wenn man sich über das Werk beugt, weil sie dessen Nutzen begrenzen, aber nachdem ich die beiden Bände durchgearbeitet und jeden Eintrag, bei dem Nebel eine Rolle spielt, mit einem Klebezettel markiert habe, sehen sie aus, als kämen sie direkt von einer makabren Konfettiparade, bei der jeder Schnipsel für eine Tragödie stand.

Das britische Dampfschiff Sobraon lief 1901 bei dichtem Nebel vor der Insel Tungyin auf Grund; 1899 hörte die mit Osterausflüglern voll besetzte Stella das Nebelhorn auf den Casquets zu spät und prallte gegen den unweit von Guernsey gelegenen Black Rock. Sie sank binnen acht Minuten. Im Jahr zuvor hatte die Channel Queen dasselbe Los ereilt. Zwanzig Menschen kamen zu Tode, als die Sirius – das erste Dampfschiff, das den Atlantik überquerte – sank, nachdem es zunächst einen Felsen in der Bucht von Ballycotton gerammt hatte und wieder freigekommen war, nur um schließlich mit einem Leck im Rumpf an den Smith’s Rocks ganz in der Nähe zu enden. Auf der Flucht vor den im Ärmelkanal patrouillierenden britischen Kriegsschiffen lief der Viermaster Afghanistan bei Nacht und Nebel vor Dungeness auf Grund, achtzehn Menschen starben. Das Dampfschiff Adelfotis aus Costa Rica, das mit Ammoniumsulfat beladen war, brach am vorletzten Tag des Jahres 1956 nach einer Grundberührung im Nebel in zwei Teile. Das britische Dampfschiff Alecto kollidierte 1937 mit der Plavnik. Das griechische Dampfschiff Aliakmon gehörte zu einem Kriegskonvoi, der von Loch Ewe nach Nova Scotia wollte. Es ging unterwegs im Nebel verloren und ward nie wieder gesehen. Die vermeintlich unsinkbare Andrea Doria stieß bei dichtem Nebel mit der Stockholm zusammen und legte sich derart stark auf die Seite, das zweiundfünfzig Menschen den Tod fanden. Die Sirenia sank 1888 vor der Isle of Wight, nachdem sie bei dichtem Nebel auf die Felsen von Atherfield Ledge gefahren war. Bei dem Versuch, Menschenleben zu retten, ertrank die Besatzung eines der Rettungsboote. Nachdem die Spirit of Dawn 1893 vor Antipodes Island südlich von Neuseeland auf Grund gelaufen war, ernährten sich die elf Überlebenden siebenundachtzig Tage lang von Vögeln, Muscheln und Pflanzen und wurden nur gerettet, weil einem Passagierschiff die Flagge aus Segeltuch auffiel, die die Schiffbrüchigen auf der höchsten Erhebung der Insel aufgestellt hatten.

Um im Nebel sicher zu navigieren, war mehr erforderlich, als ein Nebelhorn oder eine Glocke zu hören. Dazu gehörten in erster Linie gute Seemannschaft, ein gut ausgerüstetes Schiff und eine Portion Glück. Wie groß der Anteil der Nebelhörner ist, lässt sich unmöglich sagen. Eine Glocke mag weniger gut zu hören sein, aber woran sollte sich festmachen lassen, welche Schiffe dank des Nebelhorns davonkamen und welche nicht? Ein Leuchtturmwärter kann vorbeifahrende Schiffe im Nebel nicht sehen, also weiß er auch nicht, wer das Nebelhorn hören könnte, das er wegen des Nebels angestellt hat. Vielleicht niemand. Das Nebelhorn kann einem Schiff in Bedrängnis mitteilen, dass es sich an der falschen Stelle befindet, aber aus der Bedrängnis heraus findet es nur mit Besonnenheit und Erfahrung, einer gut ausgebildeten Besatzung und der Einwilligung des Meeres. Deshalb gibt es auch nur wenige Fälle, bei denen der Nebel die einzige Ursache für tödliche Unfälle war.

Wenn es im 19. Jahrhundert zum Äußersten kam, gab es kein Sicherheitsnetz. Die Rettungsboote wurden zwar von tapferen Männern bedient, waren aber offene Ruderboote, und die Schiffe sanken oft binnen weniger Minuten. Tauchexpeditionen zu Wracks wie der Bismarck und der Titanic haben Bilder von Stiefeln mitgebracht, die dicht nebeneinanderstehen, als hielte der Besitzer nur ein kurzes Mittagsschläfchen auf dem Meeresgrund. In Wahrheit hat sich der Körper längst aufgelöst oder den Lebewesen der Tiefe als Nahrung gedient. Wenn im Nebel ein lautes Signal ertönt, ist das Ausdruck einer allerletzten Warnung und nicht die Rettung. Berichte vom Untergang der Anglo Saxon lassen aber den Schluss zu, dass die Menschen sich besser fühlten, wenn dieses Signal ertönte, auch wenn es eine Sicherheit verhieß, die nichts und niemand garantieren konnte.

Im selben Jahr, in dem sich das Unglück vor Kap Race ereignete, begannen Trinity House und der rührige Kaufmann und Erfinder Celadon Leeds Daboll einen regen Briefwechsel. Er begann mit dem Angebot Dabolls an den wissenschaftlichen Berater von Trinity House, Michael Faraday – dessen Arbeit zur Elektrizität für die Elektrifizierung der Leuchttürme gesorgt hatte –, sich den Zugriff auf das Nebelhorn zu sichern, das er, Daboll, erfunden hatte.27 Ein Nebelhorn jenes Typs hätte auch am Kap Race aufgestellt werden sollen, und entsprechend häufig wird in den Briefen Bezug auf die Tragödie genommen. Faraday war zu diesem Zeitpunkt bereits siebzig Jahre alt und kaum mehr imstande, seinen vielfältigen Aufgaben nachzukommen. Als Trinity House (unter Beteiligung des irischen Astronomen Thomas Romney Robinson) Faraday bat, Dabolls Nebelhorn zu testen, verstand er den Auftrag fälschlicherweise so, dass er eine neue wissenschaftliche Gesellschaft gründen sollte. Deshalb verweigerte er zunächst selbst die einfachsten Tests. Als das Missverständnis endlich ausgeräumt war, erklärte sich Faraday bereit, Dabolls Erfindung in Dungeness auf Herz und Nieren zu prüfen.

Die Landschaft von Dungeness ist oft beschrieben worden. Meist wird sie dabei die einzige Wüste Englands genannt, aber das zielt an den Tatsachen vorbei. Dungeness ist eine von Kies bedeckte Landspitze, auf der es ein Atomkraftwerk gibt, eine kleine Eisenbahn und einen Leuchtturm, der versetzt werden musste, weil sich der Verlauf der Küste änderte. Der Schriftsteller und Regisseur Derek Jarman verbrachte hier seine letzten Lebensjahre, in denen er den Garten seines Hauses künstlerisch gestaltete. Ganz in der Nähe stehen große Schallspiegel, die während des Ersten Weltkriegs entwickelt wurden, um sich nähernde Flugzeuge des Feindes frühzeitig orten zu können. Schon als sie aufgestellt wurden, war die technische Entwicklung darüber hinweggegangen. Es ist ein bizarrer Ort, an dem das Wetter ebenso ungehindert über die Ebene streicht, wie die Wellen an seinen Rändern nagen. Am 17. November 1863 wurde hier ein Prototyp von Dabolls Nebelhorn installiert, in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer – häufig als Nebelhorn oder Dampfpfeife beschriebenen – Entwicklung von Frederick Holmes (der später am Souter Point ein Horn mit einem Rohrblatt als Tonerzeuger aufstellte) und der traditionellen Glocke des Leuchtturms.28

Nachmittags fuhr Faraday mit einem Boot hinaus aufs Meer, um herauszufinden, wie weit der Klang des Horns trug. Unterwegs überkam ihn aber eine derartig heftige Übelkeit, dass er das Verfahren radikal abkürzte. Bereits gegen 16 Uhr war der Spuk beendet. In der kurzen Zeit hatte er kaum mehr als einen ersten Eindruck gewonnen, doch das genügte ihm, um die Wirksamkeit des Gerätes zu bescheinigen. So wurde Dungeness der erste Ort im Vereinigten Königreich, der ein Nebelhorn erhielt. Und wäre ihm Foulis’ dampfbetriebenes Gerät auf Partridge Island in der kanadischen Provinz New Brunswick nicht zuvorgekommen, wäre es das erste auf der ganzen Welt gewesen.

Im September 1864 erschien eine Nachricht für Seefahrer, die unscheinbar daherkam, aber eine akustische Revolution vermeldete: »Es wird darauf hingewiesen, dass die Glocke, die bislang bei unsichtigem Wetter am Leuchtturm von Dungeness erklang, mit dem heutigen Datum außer Betrieb genommen und durch ein stärkeres Nebelhorn ersetzt wird.«

Dass Mitte des 19. Jahrhunderts in Dungeness das erste Nebelhorn installiert wurde, war indessen alles andere als ein Zufall. In den Jahren rund um das Unglück vom Kap Race versank auch London, wo Trinity House residierte, regelmäßig im Nebel. Die Stadt war um zahllose Häuser und Fabriken gewachsen, und für die Höhe der Schornsteine gab es keinerlei Vorschriften. So bliesen sie Rauch und mit festen Partikeln angefüllten Ruß in geringer Höhe in die Luft, wo sich beides mit dem Nebel aus dem Flussbett der Themse zu einem fauligen und giftigen Gasgemisch verband, das zahllose Menschen und Tiere dahinraffte – mitunter in erschreckend kurzer Zeit. In ihrem Buch über den Londoner Nebel berichtet Christine Corton von einem grausigen Zwischenfall auf dem Markt von Smithfield, wo eine ganze Rinderherde qualvoll erstickte, ehe sie den Besitzer wechseln konnte. Zu sehen war die Szene wegen des dichten Nebels nicht, aber das Geräusch der verendenden Tiere drang ungehindert durch die gelbliche Suppe.29 Der Versuch, einheitliche Vorschriften zu erlassen, scheiterte an der Uneinigkeit über die Frage, was die Ursache der Luftverpestung war. Die Fabrikbetreiber verwiesen auf den Hausbrand, Hausbesitzer auf die Schlote der Industrie. Erst nach der Smog-Katastrophe von 1952, bei der London vier Tage am Stück unter einer Giftwolke gelegen hatte, wurden Gegenmaßnahmen eingeleitet. Von derlei Katastrophen war die Stadt auch früher schon heimgesucht worden – am schlimmsten wohl im Jahr 1879, als der Smog vier Monate lang nicht weichen wollte. Auch als in Dungeness das Nebelhorn montiert wurde, litt London unter massiver Luftverschmutzung und damit unter einem Problem, das einer Lösung harrte.

Künstler, die in dieser Zeit London besuchten, haben in ihren Werken dokumentiert, was sie dabei sahen – oder eben nicht sahen. Oscar Wilde schrieb 1889, dass London Nebel sicherlich schon seit Jahrhunderten kenne, aber »es gibt ihn erst, seit die Kunst ihn erfunden hat«. Der französische Maler Gustave Doré hielt sich 1870 in London auf. In dieser Zeit entstanden Stiche, in denen der Tag nicht von der Nacht zu unterscheiden ist. Der Nebel hinterließ seine Spuren in der Hoch- wie in der Alltagskultur und hielt auch in der Massenliteratur des 19. Jahrhunderts Einzug. In diesem Genre wurde London mehrfach auf unterschiedlichste Weise unter dem Schleier des Nebels oder gar von Nebel, Dunst oder Smog zerstört. In William Delisle Hays fiktivem Bericht The Doom of the Great City. Being the Narrative of a Survivor, Written AD 1942, 1880 publiziert, erzählt ein Großvater, wie heruntergekommen London war, als sich ein tödlicher Nebel über die Stadt legte und alles, was er zu fassen bekam, im Handstreich auslöschte. J. Drew Greys Erzählung The Mystery of the Shroud beginnt damit, dass in Südengland Kohle und Eisenerz gefunden werden, woraufhin rund um London alle unbebauten Flächen in Beschlag genommen werden (wer mag, kann hier eine populäre Fortsetzung von John Evelyns ökologischer Schrift Fumifugium aus dem 17. Jahrhundert erkennen).30 Der Nebel, der sich überall dort breitmacht, wo früher Bäume standen, dient einer anarchistisch-sozialistischen Sekte als Deckmantel, in dessen Schutz sie führende Politiker entführt und ermordet, um auf diese Weise sozialistischem Gedankengut zur Macht zu verhelfen. Die Moral von der Geschicht’: Nebel ist ein Vorbote des Kommunismus.

Das giftige Gemisch, unter dem London versank, muss man sich als handfestes Problem vorstellen, das unmittelbar und drastisch wirkte. Smog, der fast schon als ein Wahrzeichen Londons galt, suchte die Hauptstadt Englands regelmäßig heim. Und vielleicht war hier, wo die Bedrohung im Wortsinn in der Luft lag, das Bewusstsein für die Gefahr, die Nebel auf dem Meer bedeutete, größer als andernorts. Sicher ist, dass viele wegweisende Entscheidungen in Sachen Sicherheit auf See in einer Stadt und in Häusern getroffen wurden, die vom Nebel verhüllt waren.

Bis 1901 waren auf der Themse und in der Ansteuerung kleinere Schiffe mit vernehmlichen Schallsignalen verteilt. Benannt waren sie zumeist nach den Buchten, Zuflüssen und Fahrrinnen, in denen sie verankert waren. Listen mit diesen Namen klingen heute eher nach Poesie denn nach Kartografie. Bereits im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts erhielten Sunk, Kentish Knock und Swin Middle Nebelsirenen, Tongue, Black Deep, Girdler, Galloper, Nore, Long Sand und Mouse waren ebenso Standorte von Schalltrichtern wie die beiden Fahrrinnen Princes Channel und Edinburgh Channel. Auf dem Unterlauf der Themse und auf den Piers bis nach Southend läuteten derweil Glocken.

Die Dampfmaschine, der Stolz der industriellen Revolution, war das ideale Mittel für die Bekämpfung des Nebels. Sie hatte das Leben nicht nur in Großbritannien revolutioniert und ländliche Regionen in Ballungsgebiete verwandelt. Und sie war ein Hauptverursacher des Smogs. Die Wirtschaft steckte in einer Art Teufelskreis, um den Nebel und Smog einen tödlichen Schleier legten. Auf dem Meer ließ der Nebel Schiffe versinken, die Menschen oder Ware transportierten. Ware, die auf diese Weise transportiert werden sollte, wurde in Fabriken produziert, deren Abluft die Arbeiter erstickte. Und die Menschen, die in den Städten Entscheidungen zu treffen hatten, leiteten aus dem Smog, den sie einatmen mussten, die Verpflichtung ab, an den Küsten Nebelwarnanlagen aufzustellen.

Als das Nebelhorn von Dungeness installiert wurde, wusste man nur wenig darüber, wie sich der Schall im Nebel ausbreitet, und niemand hatte geprüft, ob Nebelhörner den Glocken, Pfeifen und Kanonen tatsächlich überlegen waren. Aber da Faraday, seine Unpässlichkeit geflissentlich verschweigend, die Wirksamkeit des Nebelhorns bescheinigt hatte, begann Trinity House damit, weitere Leuchttürme mit Nebelhörnern auszustatten.

Faraday selbst verließ Trinity House, und es heißt, dass er sich von der Seekrankheit, die ihn bei dem Test überfiel, nie richtig erholt hat. Sein Nachfolger, Freund und Protegé John Tyndall – ein Wissenschaftler, der sich mehr für Schall denn für Licht interessierte – ließ umfangreiche Tests durchführen und wurde mit der Zeit zu einem führenden Vertreter der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Nebelhörnern und Akustik. Anders als Faradays Versuche gerieten seine zu einer Art Dauerbeschallung mit jämmerlicher Musik.

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