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Читать книгу: «Das Lied des Nebelhorns», страница 3

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Unterwasserglocken

Nebelhörner wurden nicht an stillen Küsten aufgebaut, sondern an Orten, die von Sprengstoffexplosionen und Glockenläuten erfüllt waren, von Geräuschen, die von Uhrwerken, Feuerkraft und, in einem Fall, von einem Pferd erzeugt wurden.

Der älteste überlieferte Hinweis auf ein Tonsignal, das für Schiffe gedacht war, die von Nebel überrascht wurden, stammt aus dem Jahr 1771 und wird heute in der Nationalbibliothek von Schottland verwahrt. Er gehört zu einer Sammlung von Schriftstücken der Familie Stevenson, einer Dynastie von Ingenieuren, die sich vor allem im 19. Jahrhundert um den Bau von Leuchttürmen verdient gemacht hat. Ich sitze im kühlen und stillen Lesesaal der Bibliothek, nehme das lose Blatt vorsichtig aus der Mappe und lege es vor mich auf den Tisch. All die Jahre überdauert hat es nur, weil sich auch in einem früheren Jahrhundert jemand für derlei Ephemera interessiert, wenn nicht begeistert hat.

Als ein Mitglied der Familie Stevenson das Blatt an sich nahm und sicherte, war es bereits ein Jahrhundert alt. Es ist mit tiefschwarzer Schrift und einem Holzschnitt bedruckt, der Bamburgh Castle zeigt, das an der Küste Northumberlands liegt. Der Text handelt davon, dass »am Südturm bei dichtem Nebel eine Glocke geläutet wird, die den Fischern Orientierung bieten soll«. Auch von Kanonenschüssen ist die Rede, zudem – in einem Bild, das an den Song All Along the Watchtower denken lässt – von zwei berittenen Männern, die bei stürmischem Wetter an der Küste patrouillieren. Dem, der als Erster ein Schiff in Seenot entdeckt, wird eine Belohnung versprochen, die für die Zeit nach Mitternacht doppelt so hoch ausfallen soll. So sollten müde Reiter wohl dazu animiert werden, wachsam zu bleiben.

Vielleicht wurde dieses Blatt aufbewahrt, um in eine Geschichte der Küstennavigation einzufließen, vielleicht hat es auch nur zufällig überlebt. Wie auch immer – für mich ist es ein wichtiges Puzzleteil, das mir in Druckschrift bestätigt, dass an den Küsten schon ein Jahrhundert vor der Erfindung des Nebelhorns, wie wir es heute kennen, eine warnende Stimme erklang, und diese Stimme äußerte sich entweder in Glockengeläut oder in Kanonensalven. Den Text des Blattes schreibe ich Wort für Wort ab, dann lege ich es zurück in die Mappe, verschließe die Verschnürung aus Baumwolle und beende meine stumme Recherche, indem ich das Ganze dem Archivar übergebe.

Die meisten Menschen, die sich für alte Technik begeistern, wählen Maschinen und deren Bewegungen als Objekte ihrer Leidenschaft – Kolben und Ventile, Kupfer und Stahl. Für mich und einige andere, die von Nebelhörnern fasziniert sind, besteht der besondere Reiz in dem paradox anmutenden Bestreben, etwas Flüchtiges und Immaterielles wie den Klang im Wortsinn begreifen zu können. Deshalb beugen wir uns über Unterlagen und Dokumente, Mechaniken und Maschinen. Meine Suche gilt den unterschiedlichsten Klängen, egal ob sie mich vermittelt auf Papier oder unvermittelt durch das Gehör erreichen, etwa wenn ich unter einem Schalltrichter eines Nebelhorns kauere. Zu meiner Recherche gehören rituelle wie zufällige Begegnungen ebenso wie der Respekt vor Holzschnitten von Burgen und vor kommunalen Verlautbarungen. Denn die Frage, um die es geht, lautet nicht, wie ein Nebelhorn klingt, sie lautet, wie es für die Menschen geklungen hat, die es an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit gehört haben.

Meine Leidenschaft für Nebelhörner gilt nicht der Maschine selbst, sondern ihrem Klang und dem Kontext, in dem er steht. Das Blatt mit dem Holzschnitt war mir daher eine Art Leitfaden, eine Größe, an der ich mich orientieren konnte, weil mit diesem Fund die Küsten einen vernehmbaren Klang bekamen, genauer gesagt ein diffuses Gemisch aus Klängen, in dem Glocken, Sprengstoff und von Tieren angetriebene Sirenen mitmischten. Zu verdanken habe ich dieses Erlebnis Menschen wie den Stevensons, die Dinge am Wegesrand aufgelesen und aufbewahrt haben. Und so machte ich mich auf den Weg in den hintersten Winkel von Wales, wo, wie ich bald herausfand, auf einer einer Insel vorgelagerten Insel, die wiederum einer Insel vorgelagert ist, eine Ahnengalerie der Schallsignale zu bestaunen ist, die von Glocken über Kanonen bis zu Nebelhörnern reicht.

Der Leuchtturm von South Stack steht auf einem schmalen Felsen vor der Westküste von Holy Island in Anglesey (auf Walisisch Ynys Môn genannt) im Norden von Wales. Auf der Insel finden sich prähistorische Menhire und Grabhügel, denen sie ihren Namen verdankt. Das Gestein ist bis zu 570 Millionen Jahre alt und die Geologie vielfältiger als fast überall sonst im Vereinigten Königreich.

An einem sonnigen Tag im August streut eine leichte Brise nur leichte Kräusel über dem Meer aus, das mit gedämpfter Stimme die Felsen umspielt. Den strahlend weiß gestrichenen Leuchtturm erreicht man über eine Treppe mit vierhundert Stufen, die sich durch das Grün von Moos, das Grau der Steine, das Kanariengelb des Ginsters und das Violett der Erika winden. Am Fuß der Treppe erwartet die Besucherinnen und Besucher ein Abgrund, über den eine schmale Brücke führt. Früher einmal gab es hier lediglich ein Hanfseil, das 21 Meter über dem Meer gespannt war. Wer oder was zum Leuchtturm wollte oder sollte, gleich ob Menschen oder Vorräte, musste in einen großen Korb verfrachtet und, begleitet vom Grollen und Tosen der Wellen tief darunter, auf die andere Seite gezogen werden.

Nach Passieren der Brücke schließe ich mich der offiziellen Führung an, die uns in den Maschinenraum des Leuchtturms führt, der heute ein Informationszentrum beherbergt, in dem über die Leuchtturmwärterinnen und -wärter und deren Leben auf dem Felsen berichtet wird. Anschließend folgen wir dem Führer über eine Wendeltreppe in das Lampenhaus, wo wir durch die mit einer Salzkruste überzogenen Fenster auf den Horizont schauen und die Regenbögen bestaunen, die sich beim Blick durch die Prismen ergeben, aus denen sich die Linse zusammensetzt. Wir hören gebannt, dass bei dem Hurrikan, der vor zwei Jahren wütete, die Wellen mit solcher Wucht auf den Leuchtturm einschlugen, dass die unten liegenden Fenster zerstört wurden und die Gischt die Spitze erreichte, obwohl sie sechzig Meter über der Meeresoberfläche liegt. Wenn hier Nebel aufzieht, so unser Führer, kann man aus dem Lampenhaus nicht einmal das Wasser sehen, sodass man meint, man würde in der Luft schweben.

1864 wurde der Leuchtturm von South Stack mit einer Glocke ausgestattet, die gut zwei Tonnen auf die Waage brachte und genauso gut ein Rathaus oder eine Kathedrale hätte schmücken können. Doch im rauen und salzhaltigen Meeresklima erwiesen sich die Glocke und die sie antreibende Mechanik als ausgesprochen unzuverlässig.

Heute kommt hier ein modernes Nebelsignal zum Einsatz, eine Ansammlung elektrischer Sirenen, die wie ein aufwendiges Lautsprechersystem aussehen – etwa so, als hätte man mehrere Tieftöner aneinandergebunden und weiß angestrichen. Um sie besser sehen zu können, stelle ich mich auf die Zehenspitzen und beuge mich über den Zaun, der mich von ihnen trennt, bis die Aufforderung ergeht, es zu unterlassen. Näher werde ich dem Nebelsignal nicht kommen, weil das Gelände, auf dem es steht, brüchig und der Zutritt deshalb verboten ist. Außerdem behauptet unser Führer, er habe den Schlüssel für das Tor nicht dabei (was mich nicht überzeugt). Den Rest der Tour verbringe ich mit der Wunschvorstellung, die Frequenz dieser neuartigen Sirenen, die im Sopran erklingen, auf das tiefe Grummeln der alten Nebelhörner einzupegeln und mich davorzustellen, während sie aufs Meer hinausschreien. An dem modernen Signalsystem selbst habe ich einstweilen kein Interesse, da es mich von meinem Thema nur ablenkt.

Über einen Pfad entlang der Küste der Landzunge kommt man von South Stack aus nach North Stack und von dem neuen Nebelsignal zu einer Nebelwarnanlage alten Schlages. Für diese Anlage interessiere ich mich sehr, weil hier ein in Vergessenheit geratener Abschnitt der Wissenschafts- wie der Klanggeschichte zu Hause ist. Teile davon haben sich unter der Wasseroberfläche abgespielt, wo geheime neuartige Navigationshilfen getestet wurden. Überreste davon mögen dort heute noch auf dem Meeresgrund liegen und Krebsen und anderem Getier eine Heimstatt bieten.

Die Nebelwarnanlage von North Stack kann man vom Leuchtturm aus sehen. Sie kauert auf Felsen, die ins Meer hinausragen, als wollten sie die Wellen möglichst früh begrüßen. Die Entfernung scheint überschaubar zu sein, und der Mann, der die Tickets verkauft, meint, dass man zu Fuß eine halbe Stunde braucht. Also mache ich mich auf den Weg, der nah an der Küste entlangführt, aber schon nach der ersten Biegung verliere ich mein Ziel aus dem Blick. Der steinige Pfad ist nur ein schmaler Saum, der aus dem kniehohen Heidekraut und dem Ginster herausgeschnitten wurde, die das Land bedecken, das hier in Wellen verläuft und auf die Formen im Meer tief unter mir zu antworten scheint. Einige Spaziergänger haben sich offenbar einen eigenen Weg gebahnt, sicherlich mit geeigneterem Schuhwerk ausgestattet, als ich es bin, denn durch das Gestrüpp ziehen sich kleinere blanke Streifen aus blassem Sandstein und türkisfarbenem Schiefer. Bäume wachsen hier keine, und die Landschaft provoziert Irrtümer darüber, wie groß oder klein, nah oder fern Dinge sind.

Ich passiere eine Geländekuppe nach der anderen und gehe bei jeder davon aus, dass sie mir den Blick auf eine Klippe mit der Nebelwarnanlage eröffnet. Doch was mich nach jeder Erhebung erwartet, ist eine neue Senke mit noch mehr Ginster und noch mehr Heidekraut. Der Weg führt mich entlang des Holyhead Mountain, der hier unten nicht wie ein Berg aussieht, sondern wie ein Gletscher, der aus dem Unterholz hervorbricht – eine verwinkelte Scherbe aus grauem Quarzit, die das Licht reflektiert. Hoch über mir, hier und da hinter Wolken verborgen, ziehen Flugzeuge vorbei, der Klang ihrer Triebwerke löst sich von ihnen ab und erfüllt die Luft, sodass man meinen könnte, in den Wolken steckten Lautsprecher.

Eine Stunde nachdem ich die Sicherheit von South Stack verlassen habe, erreiche ich endlich die Nebelwarnanlage. Sie liegt in einer Schattenzone am Fuße steiler Klippen und am Ende einer abschüssigen Zufahrt, die aus Material gebaut wurde, das sich einer Zerstörung verdankt – Steine und Beton, aus dem einst rote und grüne Mauern geformt waren. Ich rutsche und stolpere hinab bis zur äußeren Begrenzungsmauer der Anlage, wo ich schnaufend eine Pause einlege und nach Luft schnappe. Als sich mein Atem wieder beruhigt hat und das Blut nicht mehr in meinen Ohren pocht, wird es um mich herum still. Ich nehme meine Umgebung mit allen Sinnen auf und spüre förmlich, wie sich hinter mir die Landschaft aufbäumt und erhebt, als wolle sie mir über die Schulter blicken. Jetzt erst wird mir klar, dass ich von der eigentlichen Insel wie abgeschnitten bin. Hier kann mich niemand sehen, ich bin mutterseelenallein. Mein Telefon hat keinen Empfang, meine Wasserflasche ist leer, und für den Rückweg in die Zivilisation bleibt mir nur der steile Anstieg über die endlosen Hebungen und Senkungen, über die ich gekommen bin.

Von den 1850er-Jahren bis 1958 beherbergte die Nebelwarnanlage zwei Kanoniere und deren Familien. Wurden bei Nebel Schiffe im Hafen von Holyhead erwartet, mussten die Kanoniere alle fünfzehn Minuten zwei große achtzehnpfündige Kanonen mit drei Pfund Sprengstoff füllen und zünden. Wenn Nebel herrschte, aber kein Schiff erwartet wurde, betrug der Abstand zwischen zwei Signalen eine halbe Stunde. Für den Fall der Fälle wurde das Wetter unter Beschuss genommen, als befände sich der Mensch im Krieg mit der Natur.15

Die Anlage besteht aus einem flachen, eingeschossigen Bau in Schwarz und Weiß. Auch wenn es nicht so wirkt, als könne man sich dort zu Hause fühlen, lebt heute eine Künstlerin darin. Ein Stück tiefer, aber noch innerhalb der weißen Mauer, die das Gelände umgibt, ist das gewölbte Dach des ehemaligen Schießpulverlagers zu erkennen, das inzwischen als Vorratslager dient. Die später eingesetzte Tür aus Sperrholz steht offen, und ein Keil verhindert, dass sie zufällt. Die Inschrift ist in der salzhaltigen Luft verblasst und kaum mehr zu entziffern, aber noch immer verbreiten die serifenlosen Buchstaben der Helvetica eine eindeutige Botschaft: ZUTRITT VERBOTEN. Ich hangele mich zwischen der Mauer und dem Rand der Klippe entlang, um einen besseren Blick auf das Gebäude zu haben, aber je näher ich ihm komme, desto weniger kann ich erkennen. Dafür wird der Boden unter meinen Füßen immer instabiler und geht schroff in einen salzigen Schlund über. Ich stelle mir vor, dass mich ein Windstoß packt und von der Klippe reißt, ich in die Tiefe falle und schließlich in die tosende Irische See stürze, ohne jede Chance, wieder herauszufinden oder mich schwimmend in Sicherheit zu bringen. Schließlich kehre ich auf festen Grund zurück. Liebend gern würde ich mich an den äußersten Punkt des Felsens stellen und auf die Klippen und das Meer schauen, aber ich komme nicht einmal in die Nähe. Zudem vermute ich, dass ich, wenn ich denn hinkäme, nicht das zu sehen bekäme, was ich erwarte.

1909 wurde hier etwa 150 Meter vor der Küste eine Unterwasserglocke installiert, die ihre Schallwellen in die trübe See aussenden sollte. Unter Wasser setzen sich Schallwellen schneller und weiter fort als an der Luft, und es ist auch leichter auszumachen, aus welcher Richtung sie kommen. Der Schall der Unterwasserglocke von North Stack drang wie ein Pfeil bis zu 25 Kilometer weit durch das Wasser. Zum Einsatz kam sie allerdings nur sehr selten, weil zwar nicht die Glocke selbst, aber die Technik extrem aufwendig war, denn Schiffe, die die Signale empfangen wollten, mussten mit einem speziellen Empfänger ausgestattet sein, der in den Rumpf integriert wurde. Der Vergleich mit dem Magnetbandsystem Betamax drängt sich auf: überlegene Technik, aber niemand will sie haben.

Bestellt worden war die Unterwasserglocke vermutlich vom Trinity House, der Leuchtfeuerverwaltung für England, Wales, die Kanalinseln und Gibraltar. Die schottischen und irischen Leuchtfeuer werden vom Northern Lighthouse Board (dem auch die Leuchttürme auf der Insel Man unterstehen) beziehungsweise den Commissioners for Irish Lights verwaltet. Beides sind Gründungen des 18. Jahrhunderts. Die Leuchtfeuerverwaltung der USA entstand 1851 und ersetzte eine Behörde namens Lighthouse Establishment, die sich ein Jahrhundert lang um die Sicherheit der Schifffahrt gekümmert hatte. Das indische Lighthouse Board wurde 1929 von Kolonialbeamten gegründet, die damals auf dem Subkontinent noch das Sagen hatten. Die russischen Leuchtfeuer befinden sich im Besitz und unter der Obhut der russischen Marine. In Japan unterstehen alle Seezeichen, also auch Leuchttürme, der Küstenwache, in anderen Ländern, darunter Iran, Namibia und Südafrika, sind sie den Betreibern von Häfen und anderen mit der Seefahrt befassten Betrieben zugeordnet. Trinity House ist daher eine ungewöhnliche Institution, denn sie vertritt zwar hoheitliche Aufgaben, kann dabei aber unabhängiger entscheiden als andere Organisationen mit vergleichbarer Zuständigkeit. Zudem ist sie mindestens hundert Jahre älter als alle anderen Leuchtfeuerverwaltungen dieser Welt, denn gegründet wurde sie von Heinrich VIII. im Jahr 1514.

Trinity House begann als loser Zusammenschluss von Kapitänen, die um die Sicherheit von Schiffen und ihren Besatzungen besorgt waren. Verfolgt man die Geschichte ihrer Treffen zurück, landet man ganz in der Nähe meines Büros, genauer in der Kirche St. Clement’s in Leigh-on-Sea an der Themsemündung, in deren Umgebung von der Erosion bizarr geformte Steine wie zufällig hingeworfen herumstehen. Einer dieser Steine ist an der Oberseite rechteckig geformt, von Scharten und kleinen Kuhlen durchzogen. Er ist als »Machetenstein« bekannt, weil die Piraten an ihm ihre Messer geschärft haben sollen, wenn sie, vom Fluss kommend, den Ort überfielen. Das vernehmliche Schaben der Klingen auf dem Schleifstein war zugleich die makabre Warnung vor den Übeltätern. Im Altarraum im Inneren der Kirche weisen Gedenktafeln auf die Grabstätten einiger früher Mitglieder von Trinity House hin. Manche stammen aus einer Zeit, in der die Namen der Bestatteten noch Hinweise auf ihre Berufe gaben. Laut Domesday Book, dem ältesten britischen Grundbuch, verdienten die Salmons ihr Geld mit dem Fischfang, und Robert Salmon war eines der ersten, Master genannten Oberhäupter von Trinity House. Durch Menschen wie ihn gewann Trinity House an Macht und Einfluss, die die Organisation nicht nur dazu nutzte, um die britische Küste mit Licht zu versehen, sondern auch dazu, ihr eine Stimme zu verleihen.

Trinity House wird seit jeher von einem Gremium geleitet, das aus einunddreißig Altbrüdern besteht, bei denen es sich um hochrangige Vertreter der Admiralität sowie renommierte Seeleute und Forschungsreisende handelt. Die Liste der Namen dieser ausschließlich weißen Männer liest sich wie ein Who’s who der Kolonialzeit, die Aufzählung reicht von Samuel Pepys bis Ernest Shackleton. Master kann nur ein Mitglied der königlichen Familie werden. Ab 1969 war es Prinz Philip, 2011 ist die Aufgabe an dessen Tochter, die Leuchtturm-Enthusiastin Prinzessin Anne, übergegangen.

Ein Teil des Vermögens von Trinity House stammt, wenn man so will, aus dem Flussbett der Themse. Trinity House hatte das Monopol auf den Ballast, den Schiffe benötigten, damit sie im unbeladenen Zustand stabil schwammen. Ab 1594 gehörte Trinity House zudem zu den wenigen Organisationen, die die Mittel – und die Erlaubnis – hatten, die Themse an Orten wie der London Bridge auszubaggern, um die Versandung des Flusses zu verhindern. Das Material, das dabei anfiel, wurde an die Schiffe verkauft, die den Fluss befahren wollten.

Matsch und Schlamm aus einem Flussbett, das mag nach einer vergleichsweise langweiligen Angelegenheit klingen, aber bei genauem Hinsehen entdecken wir darin einen wichtigen Abschnitt der Geschichte von Ökologie und Handel der Kolonialzeit und des Kapitalismus. Zu den Bestandteilen des Ballasts zählen blinde Passagiere und Saatgut, das monate-, jahre- und sogar jahrzehntelang geduldig auf seinen Einsatz wartet. Pflanzen sind auf diese Weise über Jahrhunderte gereist, und manche gelten an ihren neuen Standorten längst als einheimisch, obwohl sie eigentlich von einem anderen Kontinent stammen. Auf der finnischen Insel Reposaari wachsen exotische Pflanzen, die vor mehr als einem Jahrhundert aus Südafrika und dem Mittelmeerraum eingeschleppt wurden. Heutige Containerschiffe verfügen über Ballasttanks, die mit Wasser gefüllt werden, das aus dem einen Meer stammt und im anderen wieder abgelassen wird, mit ihm jede Spezies, die ohne ihr Zutun in einem weit entfernten Hafen verschluckt wurde.16 Der nordamerikanischen Meereswalnuss, einer Quallenart, kann man auch im Asowschen Meer begegnen, die Schwarze Kompassqualle, die ursprünglich im Schwarzen Meer zu Hause ist, findet sich auch in der Bucht von San Francisco, und den europäischen Kaulbarsch hat es bis in die Großen Seen Nordamerikas verschlagen. Kolonisatoren haben Pflanzen und Tiere in ihre alte Heimat gebracht. Flora und Fauna, die Grenzen überwindet, ist oft invasiv und bedroht einheimische Pflanzen und Tiere, indem sie deren Lebensraum okkupiert und alteingesessene Spezies verdrängt.

Die Schiffe, in die der Ballast aus der Themse verladen wurde, benötigten auf ihrem Weg rund um die Welt Navigationshilfen, und dort, wo Auswanderer sich niederließen, wurden Leuchttürme errichtet und mit Glocken und Kanonen ausgerüstet, mit denen sie ihren Standort mitteilen konnten.

Manche Glocke, die an der britischen Küste installiert wurde, war so groß, dass sie einer Kathedrale zur Ehre gereicht hätte, und die Kanonen, die hier abgefeuert wurden, waren mächtig genug, um Kriegsschiffe zu versenken. Im Vergleich zum Meer aber waren sie kläglich, denn das schwemmte von Zeit zu Zeit nicht nur die Glocken, sondern gleich die ganzen Leuchttürme fort, in denen sie hingen.

So erging es der Glocke von Bishop Rock, die während eines Sturms, bei dem die Wellen das Lampenhaus überragten, unversehrt aufs offene Meer hinausgetragen wurde, obwohl sie eine Vierteltonne wog.17 Noch größer und schwerer war die Glocke, die für den legendären Leuchtturm von Eddystone gegossen wurde, ein Meisterwerk der Ingenieurskunst, das auf einer Insel vor der Küste von Devon steht. Der Turm wurde mehrfach Opfer der Naturgewalten, und der heutige ist bereits der vierte seiner Art. Der erste wurde vom Kupferstecher und Erfinder Henry Winstanley errichtet und 1703 mitsamt seinem Erbauer ins Meer gespült. Der zweite fing Feuer und brannte vom Lampenhaus abwärts aus. Der Leuchtturmwärter Henry Hall verschluckte versehentlich geschmolzenes Blei, als er nach oben blickte und ein Regen aus flüssigem Metall auf ihn niederging. Niemand wollte ihm glauben, dass Blei in seinem Körper steckte, schon gar nicht, als er sich auf dem Weg der Besserung zu befinden schien. Er starb am zehnten Tag nach dem Vorfall, und bei der anschließenden Autopsie fand man in seinem Magen einen 200 Gramm schweren Klumpen Blei.18

Der dritte Turm von Eddystone begann zu schwanken, weil das Riff unter dem Leuchtturm unterspült war. Er wurde aufs Festland gebracht und dort zum Denkmal umfunktioniert. Der vierte wurde 1882 errichtet und ist noch heute in Betrieb. Seine große, von einem Uhrwerk angetriebene Glocke war der ganze Stolz seines Herstellers, der Firma Gillet, Bland & Co. in Croyden, die sich in ganzseitigen Anzeigen ihres Werkes pries. Doch das Uhrwerk und die salzhaltige Luft wollten nicht miteinander harmonieren, und so versagte der Mechanismus wiederholt seinen Dienst.

Juliet Fish Nichols (die Dame hieß tatsächlich so) war eine von wenigen Frauen, die offiziell als Leuchtturmwärter fungierten. Ihr Dienstort war die Point-Knox-Nebelwarnstation auf Angel Island an der Westküste der USA. Die Region liegt Tausende Stunden pro Jahr im Nebel, und die Chicago Tribune berichtete im Sommer 1906, dass Juliet Nichols die Glocke zwanzig Stunden am Stück von Hand bedienen musste, weil der automatische Antrieb ausgefallen war.

Auf Kaps und Riffen waren die Leuchtturmwärterinnen und -wärter widrigsten Wetterbedingungen ausgesetzt, wenn sie Nebelsignale wie Glocken und Kanonen bedienen mussten. Bei meinem Besuch in North Stack spüre ich selbst an einem schönen Tag Salz und Sonne auf meiner Haut und den Wind in meinem Haar. An so exponierten Stellen ist das Wetter der bestimmende Faktor, es entscheidet selbst darüber, ob es einem die Luft zum Atmen lässt. Mir steht es frei, vor Sonnenuntergang zu gehen, mich in mein Auto zu setzen, die Heizung oder die Klimaanlage einzuschalten und irgendwo hinzufahren, wo das Wetter weniger Einfluss auf das Leben nimmt, auf den Tod, auf Wohl und Wehe. Leuchtturmwärtern im Dienst bot sich ein derartiger Luxus in der Regel nicht.

Wenn, wie in North Stack, Kanonen als Nebelsignal verwendet wurden, wurden sie nur mit Schießpulver, nicht mit Munition befüllt und abgefeuert. Im Marin County am Nordufer des Golden Gate steht auf einem Felsplateau hoch über dem Pazifik der Leuchtturm von Point Bonita, der heute nur noch durch einen in den Felsen gesprengten Tunnel erreichbar ist. Hier wurde 1855 eine Kanone aus Beständen der US-Armee installiert, ein 24-Pfünder mit einem zweieinhalb Meter langen Rohr, der im Arsenal von Benicia deponiert gewesen war. Bei Nebel wurde die Kanone alle halbe Stunde abgefeuert, und »allein dank dieser Navigationshilfe«, so die Bilanz nach einem Jahr Betrieb, »konnten Schiffe bei Nebel wie bei schlechtem Wetter tags wie nachts sicher in den Hafen gelangen. Ausgenommen davon war nur ein kurzer Zeitraum, in dem es an Schießpulver fehlte.«19

Der zuständige Kanonier war ein ehemaliger Sergeant der US-Armee namens Edward Maloney, der offenbar der Überzeugung war, an einer schönen Küste zu leben und dann und wann eine Kanone abzufeuern sei für einen Rentner eine reizvolle Perspektive. Aber als Kanonier einer Nebelwarnstation in der Bucht von San Francisco zu arbeiten ist eine wahre Sisyphusarbeit – ein Feuerschiff, das hier verankert war, registrierte in einem einzigen Jahr 2221 Nebelstunden. Als Maloney seinen Dienst antrat, hatte niemand solche Zahlen im Sinn gehabt, und entsprechend häufig saß er ohne Schießpulver da.

Bald hatte Maloney Anlass, sich darüber zu beklagen, dass er drei Tage und Nächte am Stück die Kanone hatte bedienen müssen, weil es auf der abgelegenen Halbinsel niemanden gab, der ihn hätte ablösen können (und die Stadt nur schwer zu erreichen war – die Brücke wurde erst Jahrzehnte später gebaut). Maloney und seine Kanone benötigten mehr Vorräte als von den Behörden kalkuliert, weshalb die Station unter dem Strich deutlich teurer war als erwartet. Erschwerend hinzu kam, dass Maloney die erstbeste Gelegenheit nutzte, um sich ohne Erlaubnis seiner Vorgesetzten in die Stadt durchzuschlagen und in jenem Nebel abzutauchen, vor dem er seine Mitmenschen warnen sollte.

Auch andere Schallquellen wurden im Nebel eingesetzt, einige abseitiger als andere. Unweit des Longships Rock diente das Tosen einer Höhle als natürliches Warnsignal – das man leider nicht abschalten konnte. Der Wolf Rock vor der Küste Cornwalls verdankt seinen Namen hingegen dem Umstand, dass der Wind heulend durch eine Höhle strich, die das Wasser in den Stein gegraben hatte. Als hier noch kein Leuchtturm stand, machten sich Strandräuber diesen Umstand zunutze, indem sie den Zugang zur Höhle verstopften und dadurch Schiffe auf den Felsen lockten. Deren Ladung, aber auch das wertvolle Material, aus dem sie gebaut waren, gaben eine lohnende Beute ab.20 Schwieg der Wolf, war das ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Strandräuber bei der Arbeit waren.

In den 1850er-Jahren wurde auf den Farallon-Inseln, gut sechzig Kilometer vor San Francisco gelegen, eine Felsspalte mit einigen Tausend Backsteinen, vierzig Fässern Zement und einer Pfeife befüllt. Strömte Wasser hindurch, wurde die darin befindliche Luft verdrängt, und die Pfeife machte sich vernehmlich bemerkbar. Auf der Insel Helgoland wurde eine »Rakete gestartet und in einer Höhe von gut zweihundert Metern zur Explosion gebracht«. So beschreibt es 1913 ein Buch von F. A. Talbot über Feuerschiffe und Leuchttürme.

Auch der Klang von Vogelstimmen wurde bei Nebel als Navigationshilfe verwendet. In einem Buch von 1880, das ebenfalls von Leuchttürmen handelt, wird berichtet, dass »an der Küste von Wales viele Tausend Seevögel, die in den hoch aufragenden Klippen leben, auf den felsigen Simsen hocken und durchdringende Schreie ausstoßen«, anhand derer Schiffe sich orientieren können. Illustrierte Entwürfe eines von Pferden angetriebenen Nebelhorns, die heute im Nationalarchiv des Vereinigten Königreichs liegen, zeigen ein nervös wirkendes Pferd, das am Eingang eines kreisrunden Gebäudes steht und in einen Drehmechanismus eingespannt ist, der eine Sirene antreibt, sobald sich das Pferd in Bewegung setzt. Wie gut das System funktioniert hat, bei dem das arme Tier der Schallquelle bedrohlich nahe kam, ist nicht überliefert.

Es gab Zeiten, da hing das Leben vieler Seeleute von Menschen wie Maloney oder Juliet Nichols und dem Schweiß ihrer Arbeit ab. Voraussetzung war, dass sie sich früh genug bemerkbar machen konnten. Der Knall einer Kanone war so kurz, dass man ihn leicht überhören konnte, und das Läuten einer Glocke so leise, dass es nicht sonderlich weit trug. Seeleuten blieb daher oft nur wenig Zeit, den Kurs noch zu ändern. Unterwasserglocken, wie sie in North Stack ausprobiert wurden, konnten sich nie durchsetzen. Den Hafen in Holyhead, zu dem sie die Schiffe führen sollten, gibt es natürlich immer noch. Heute verkehren hier vor allem Kreuzfahrtschiffe und Fähren, die Menschen nach Irland und zu weiter entfernten Zielen bringen. Von der Nebelwarnanlage aus kann man den Hafen nicht sehen, er gerät in meinen Blick, als ich mich zurück auf die Anhöhe über der Anlage gekämpft habe. Erst als ich die Sonne im Gesicht spüre, wird mir bewusst, dass ich mich die ganze Zeit im Schatten des ungleichen Zwillings des blinkenden Leuchtturms von South Stack aufgehalten habe. Und während der Leuchtturm noch heute in Betrieb ist, benötigen Schiffe, die Holyhead anlaufen oder es verlassen, die Kanonen von North Stack schon seit vielen Jahren nicht mehr. Nur die wenigsten werden das kleine Gebäude der Nebelwarnanlange bemerken, ein Stück Klanggeschichte an einer abgelegenen Ecke der Küste, versteckt unter Ginster, Felsen und stürmischer See. Nun kehre auch ich dieser vergangenen, abgeschlossenen Zeit den Rücken zu, und als ich mich noch einmal umdrehe, hat die Landschaft sie bereits verschluckt.

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9783866488038
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