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3. Fegefeuer

Die enge und verwinkelte Treppe hinauf, immer Otto Feininger nach.

Durch die Tür in das niedrige Wohnzimmer.

Auch hier schien sich nichts verändert zu haben.

Eine niedrige DDR-Wohnung, die die DDR um Jahre überlebt hatte. Eine helle, gemusterte Tapete, die ebenfalls inzwischen fast zu alt schien. Ein runder Tisch mit einer kleinen Gruppe Stühle und einer weißen Spitzentischdecke. Rechts ein altes, grünes Sofa mit Sessel und dunklem, runden Holztisch. Selbstverständlich nicht ohne Tischdecke. Gegenüber eine recht ausfüllende Schrankwand. Schmucklos und zierlos aus glattem, beschichtetem Holz mit schmalen Griffen. Darin ein unpassender Flachbildschirm – wie auch immer der da hingekommen war? In der Ecke neben dem Sofa stand noch immer eine alte mit Stoff bespannte Stehlampe und von der Decke hing ein für damalige Verhältnisse futuristischer Kronleuchter, der seine fünf Lampen nach außen bog.

Otto, mit seinem leidgeprüften Gesicht und dem weißen Haar, betrachtete Turel einen Moment.

„Dieses Jahr ist verdammt leidhaft. Ich traue mich kaum zu fragen, wie’s dir geht“, meinte er und ließ sich in den grünen Sessel nieder.

„Es wird dich überraschen“, meinte Turel, „aber mir geht’s gut“, er zog die rote, zur Hose passende Lederjacke aus und warf sie aufs Sofa. Schob sich an dem Tisch vorbei und ließ sich nieder.

Otto sah ihn einen Moment an. „Das verstehe ich nicht“, meinte er. Schaute in Turels vernarbtes Gesicht. „Wie kann es dir auch nur ansatzweise gut gehen?“, das Bild von dem fürchterlich blutverkrusteten Turel, der dort so geschunden und zerstört vom Kreuz hing, flackerte durch Ottos Gehirn. „Als ich dich da sah, dachte ich, dass du nie wieder werden würdest“, meinte er. „Du weißt, ich habe eine Menge hässlicher Dinge gesehen und erlebt. Auf einem Morgenspaziergang rechnet man nicht damit, einen Freund gefoltert am Kreuz vorzufinden.“

„Ich bin froh, dass du mich gefunden hast“, begann Turel. „Ich meine, du hast schon so einiges gesehen. Du kannst das ab. Weißt du, als ich da am Kreuz hing und eigentlich kaum noch da war, hörte ich nur das Geräusch von Schritten im Kies. Ich stemmte meine Augen auf und da warst du. Ab diesem Moment war mir klar, dass ich mich fallen lassen konnte. Dass du dich um alles kümmerst. Ich habe mich drauf verlassen und wurde nicht enttäuscht. Eh ich mich versah, war der Krankenwagen da.“

Turel erinnerte sich an diese letzten quälenden Momente. Das Gekreische der Sirenen, die über den Kiesweg herbeieilten. Wie jemand ihn abtastete. Abhorchte. Seinen Puls fühlte.

Die tonnenschweren Lider hatte Turel aufgestemmt, die Sonne stand schräg und blendete ihn. Der Himmel war blau und wolkenlos. Einige Feuerwehrleute versuchten das Kreuz zu stützen, in ihrer schwarz-blauen Kleidung, den Neonstreifen und den Helmen. Andere gruben Turels Kreuz aus. Er konnte den Kopf kaum weit genug senken, um sie zu beobachten. Jedes Rütteln und Schütteln am Kreuz ließ seine Hüfte furchtbar schmerzen, genauso wie es an seinen Händen und Füßen zog. Doch Turel hatte nicht mehr die Kraft gehabt zu schreien und so musste er es eben stumm ertrag. Das Kreuz hob und senkte sich. Hob sich erneut und wurde langsam auf den Boden gelegt. Turel, den ebenfalls tonnenschweren Kopf auf der Schulter ruhend, hatte die Feuerwehrmänner angesehen, und Otto, der traurig und fad an der Seite stand und nichts tun konnte, als am verkrüppelten Kirschbaum zu stehen, beobachtete ihn.

Turels Welt legte sich flach auf den Kiesweg, wo die Feuerwehrmänner ihn hingetragen hatten, und nun machten sie sich bereit, mit einfachen Zangen die Nägel zu ziehen. Womit auch sonst?

Nach Turels Erinnerung waren das die schmerzhaftesten Momente am Kreuz. Wie der Feuerwehrmann, einen schweren Fuß auf der Erde, den anderen neben Turels Arm auf den Kreuzbalken gestemmt, beide Hände um die Zange legte und zog. Mit einem langsamen, quietschenden Ruck zog er den Nagel ein Stück hinaus. Das Metall schrammte an Turel Wunde entlang. Der Schorf, der sich bereits um den Nagel gebildet hatte, bereit, das Stück Metall zu absorbieren und einzukapseln, wurde erneut aufgerissen. Eine frische Kaskade an Schmerz in der Hand. Ein weiterer Ruck, der spitze, große Nagel war draußen.

Er brachte die Kraft auf, einmal gequält aufzustöhnen, bevor er den Kopf wieder in den Nacken sinken ließ. Der Nagel fiel in den Kies und der Feuerwehrmann sagte irgendwas, was Turel nicht verstand, tätschelte seine Schulter mit der behandschuhten Hand und trat hinüber zum rechten Arm, während ein anderer Feuerwehrmann sich daran machte, das schwarze Panzertape vom Kreuz zu schneiden.

Ein erneuter Ruck riss die Wunde an der Rechten wieder auf. Noch ein Ruck und fast schon routiniert hatte der Feuerwehrmann den Nagel draußen, der nun ebenfalls zu Boden fiel. Der andere Feuerwehrmann machte sich nun daran, Turels rechten Arm loszuschneiden, während der linke entspannt vom Kreuzbalken rutschte. Der Feuerwehrmann griff mit der groben Zange den Nagel in Turels Füßen und riss daran. Wunden platzen wieder auf. Blut und Eiter floss über Turels Füße. Der rechte Arm rutschte vom Kreuz. Turel, den Kopf im Nacken und die Augen geschlossen, lag auf dem Kreuz, während die Sanitäter um ihn herumwuselten. Mit einem schweren Ruck war der Nagel aus dem Holz, aber noch lange nicht aus den Füßen. So stemmte der Feuerwehrmann sich auf Turels Beine. Seine Hüfte schmerzte fürchterlich. Der Schmerz des gebrochenen Beckens und der abgeschnittenen Hoden kämpfte um Turels Aufmerksamkeit. Mit einem langsamen, äußerst schmerzhaften Zug war der Nagel aus den Füßen und die Sanitäter klappten ihre Liege aus. Hoben Turel vom Kreuz, das abgeschnittene Panzertape klebte noch an ihm, die Hüfte verschob sich und Turel verlor das Bewusstsein. Seine Hüfte riss ihn wie ein Stein aus purem Schmerz in die tiefe Dunkelheit.

Otto hatte zwei Gläser und Apfelbrand geholt. Füllte die klare Flüssigkeit in die beiden Gläser mit den dicken Böden.

„Hier, hast du dir verdient“, meinte Otto.

„Du sagtest, dieses Jahr wäre so leidhaft, wie meinst du das?“, fragte Turel und trank einen Schluck.

„Mathilda ist gestorben“, meinte Otto. Nahm ebenfalls einen Schluck. „Während du im Krankenhaus warst. Eines Tages ist sie einfach zusammengebrochen. Ich habe es nur gehört, weil sie die Auflaufform hat fallen lassen. Du weißt doch, welche ich meine? Diese alte Auflaufform aus diesem braunen Keramik.“

Die plötzliche Erkenntnis über Mathildas Tod gab Turel einen Stoß. „Tut mir leid“, meinte er und trank sein Glas aus.

„Wir haben am Morgen noch Scherze gemacht“, meinte Otto. „Und dann ist sie einfach umgefallen und war tot. Die Ärzte konnten nicht genau sagen, was es war. Ich hab’s nicht kommen sehen. Von einem Tag auf den anderen war sie weg. Seit damals in Auschwitz kannten wir uns. Haben uns im KZ lieben gelernt. Zusammen konnten wir nach der Befreiung uns therapieren, weißt du? Wenn wir miteinander geschlafen haben, war kein Lager mehr um uns. Wir haben uns einfach eine Ecke gesucht, wo gerade keiner war. Merkwürdig oder?“, er trank sein Glas leer. „Als ich letztes Jahr mit Mathilda auf dieser Feier war, fragte uns ein junges Pärchen, wo wir uns kennengelernt hatten. Mathilda erzählte ihnen, wo und unter welchen Umständen“, Otto musste lachen. „Die beiden wurden plötzlich kreidebleich und wussten nicht mehr, was sie sagen sollten. Mathilda hat mir sehr geholfen. Was ist mit dir?“, er sah mit seinen freundlichen Altmänneraugen zu Turel hinüber. „Hast du jemanden, mit dem du alles aufarbeiten kannst?“

„Ich brauche es nicht aufarbeiten“, meinte Turel und schenkte sich selbstständig nach. „Ich habe es überstanden. Du kennst mich doch?“

Otto sah Turel einen Moment prüfend an, dann schenkte er sich selbst nach und meinte: „Turel“, in einem Ton, der Turel wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen sollte, ein Ton, der Turel aufforderte, Vernunft anzunehmen.

„Höre auf mit solchem Blödsinn“, setzte Otto fort. „Du wurdest gefoltert. Das ist keine Schande, traumatisiert zu sein. Vergiss nicht, ich hatte das Gleiche erlebt.“

„Nicht genau das Gleiche. Du hast deine Hoden noch“, versuchte Turel die Stimmung aufzulockern.

Otto lächelte, die Falten in seinem Gesicht verzogen sich: „Ja und sie sind inzwischen genauso nützlich wie deine. Aber wir wurden beide gefoltert. Jeder auf seine Art.“

Turel kippte den Apfelbrand hinter, der sich seine Kehle hinunter brannte, sogar die sichelförmige Narbe an seinem Hals begann zu prickeln. „Du wurdest viel länger gefoltert. Über Monate hinweg. Bei mir war es nur eine einzige Nacht.“

„Spiel es nicht runter. Ich hatte Mathilda. Sie hat mich damals geküsst, als ich nicht mal mehr wusste, wie das ging“, lachte er leicht und nostalgisch. „Die Welt ist einfach nicht mehr sicher, wenn du einmal so was durchgemacht hast. Die Folter, nicht den Kuss natürlich.“

„Natürlich“, stimmte Turel zu.

Otto betrachtete Turel. „Ich versteh dich nicht. Wie lange lagst du im Krankenhaus? Ein Jahr?“

„Genau ein Jahr, ja.“

„Und jetzt sitzt du hier und tust so, als wärst du der Alte.“

„Ich bin der Alte. Ich habe überlebt. Meine Sünden quasi abgebüßt.“

Otto mochte Turel, aber manchmal konnte er sich nur über diesen Kerl ärgern. Das Schlimmste daran war, dass Turel kein Grünschnabel mehr war. Früher hatte er gewusst, Turel redete eben Stuss und wusste nicht, was für welchen. Aber er war übel gefoltert worden und redete noch den gleichen Stuss. Es brachte Otto auf den Gedanken, dass Turel damals vielleicht doch keinen Blödsinn gequakt hatte. Sie waren beide gebrandmarkte Männer. Er mit seiner Nummer und Turel voller Narben.

„Welche Sünden denn?“, fragte Otto erschöpft.

„Aus dem letzten Leben vielleicht. Oder welche, die ich erst noch begehe“, er beugte sich vor, stützte sich auf den Tisch auf: „Weißt du, was ich schon immer komisch fand? Jesus ist doch angeblich für all unsere Sünden am Kreuz gestorben. Das bedeutet, er krepierte und alle unserer Sünden sind weg. Damit müsste doch die Erbsünde sich erledigt haben, oder? Eva hat Mist gebaut, Jesus hat die Sache wieder gerichtet. Wir können demnach doch quasi keine Sünden mehr begehen. Ich meine, praktisch schon, aber im Prinzip sind die doch von Jesus schon gesühnt worden. Wir können sündigen, soviel wir wollen. Jesus hat es gerichtet. Und der Witz an der Sache ist, ich habe mehr gelitten als der Kerl.“

Otto wollte gerade einen Schluck trinken, als er plötzlich lachen und husten musste. Er hustete und räusperte sich, hielt Turel die Hand vor, stellte sein Glas fest auf den Tisch und bekam sich schließlich wieder ein.

„Du lehnst dich verdammt weit aus dem Fenster … aber du hast recht. Wahrscheinlich hast du tatsächlich mehr gelitten als Jesus“, er schüttelte den Kopf. „Und gerade deshalb verstehe ich dich nicht. Warum sagst du, es geht dir gut? Wie kann es dir so kurzfristig nach solch einem, ich nenne es mal Horror, gut gehen? Erkläre mir das. Ich versteh dich wirklich nicht. Erkläre einem alten, gefolterten Sack wie mir, warum du nicht total am Ende bist? Ich meine, es ist schön, dass du die Sache so einfach weggesteckt hast, aber wie?“

„Immer an morgen denken“, war Turels einfache Antwort.

Otto lehnte sich in seinem alten, fusseligen, grünen Sessel zurück. „Ich verstehe dich immer noch nicht. Wie kann es ein Morgen geben nach so was? Als ich aus dem Lager raus war, war ich so erschöpft, dass mir fast alles egal war, solange Mathilda bei mir blieb. Die Welt da draußen war nach dem Lager einfach nicht mehr dieselbe wie vorher. Sie hatte sich verändert.“

Turel sah auf seine vernarbten Finger. Nur an den Spitzen, rund um die Fingernägel, lauter kleine Narben. Turels Fingernägel waren recht lang, ein weißer Streifen stand über.

„Meine Nägel sind nachgewachsen. Das Herausreißen hat den Pennern nichts gebracht. Ich trau mich jetzt bloß nicht mehr so recht, sie zu schneiden“, lächelte Turel verträumt und schaute seine Fingernägel an. „Aber ich muss wohl irgendwann, weil sie sonst zu lang werden, abbrechen“, er zog die Lippen zurück, sodass Otto seine Goldzähne sehen konnte. Turel fuhr von der Innenseite mit der Zunge darüber. Sie fühlten sich ganz natürlich an, als wären seine alten Zähne wie seine Fingernägel nachgewachsen. „Ich habe wieder ein volles Gebiss“, grinste er. „Du kennst dich doch mit der christlichen Mythologie aus. Mathilda war schließlich überzeugte Christin“, meinte Turel.

„Ja?“, meinte Otto gespannt auf Turels Ausführung.

„Dann kennst du das Fegefeuer?“

„Ja.“

„Was ist das Fegefeuer?“

„Das Fegefeuer ist ein Ort der Reinigung. Wenn du nicht gut genug für den Himmel bist, kannst du dort deine Sünden ableiden. So was wie die Wiederholung der Aufnahmeprüfung. So habe ich das zumindest verstanden, als Mathilda mir das mal erklärte.“

„Ja. Man leidet im Fegefeuer seine Sünden ab. Danach darf man ins Paradies. Die Folter war mein Fegefeuer. Ich bin sauber, für immer“, meinte Turel etwas nervös. „Scheißegal was ich tue, der Himmel steht mir weit offen. Ich habe also das Fegefeuer mit Bravour bestanden und jetzt will ich meinen verdammten Himmel haben“, meinte er. Trank seinen Brand mit einem Schluck aus. „Und glaube mir, ich bekomme meinen Himmel auf Erden noch“, sagte Turel, während er sich das schimmernde Glas im Licht der Lampen besah. Wie sie glänzten und sich darin spiegelten.

4. Testosteron-Tango

An diesem ersten Abend saß Laura wie an diesem ersten Morgen auf dem Bett und sah Turel an.

Dieser warf die weinrote Krokodillederjacke, die ihm bis in die Kniekehlen hing, über den weißen Stuhl, dessen Sitzfläche und Rückenfläche nur aus einer Bahn Leder bestand, in den man so herrlich einsank.

In den Händen hielt Laura die Brieftaschen und sah sie durch. Diesmal drei an der Zahl. Lukrativ.

„Und? Wie sieht die Beute aus?“, fragte Turel und ließ die Hose herunter, warf sie ebenfalls zur Jacke über den Stuhl.

Laura zog die raschelnden Scheine hervor und sah diese durch. Ließ die Brieftaschen zwischen ihre Füße fallen. Sie trug immer noch das mausgraue Kleid.

„Sieht ganz gut aus“, meinte sie. „Zwanzig – vierzig – sechzig – achtzig“, die Zwanziger gingen durch ihre Finger. „Neunzig – hundert – fünf – zehn – fünfzehn – zwanzig“, sie sah zu Turel auf. „Durchschnittlich. Hatte schon mal mehr … allerdings auch schon mal weniger. Was hast du heute gemacht?“

„Nicht viel. Otto getroffen“, meinte Turel und ging, nur sein riffliges, dunkles Hemd an, zum Schrank hinüber und legte sich seine Utensilien zurecht.

Eingeschweißte Spritze. Eingeschweißte Nadeln. Ampullen.

„Was machst du da?“, fragte Laura. Sie sah zu Turels Beinen, wo nun sein Schwanz vor nichts hing.

„Ich mach mich startklar“, meinte er und entriss die Nadel der Verpackung, schraubte sie auf die kleine Plastikspritze, die er eben der Verpackung entrissen hatte. Legte sie ordentlich beiseite.

„Das Zeug hier hat mir Dr. Ruben mitgegeben. Ist ein toller Kerl, weißt du. Total verrückt.“

Ein wenig machte sich Laura Sorgen um ihn. „Nein, ehrlich, was machst du da? ‚Startklar‘, was soll das bedeuten?“

„Testosteron“, meinte Turel. „Ich habe keine Hoden mehr … irgendwo muss der Antrieb ja herkommen, oder?“, er hielt die kleine Ampulle einen Moment in der Faust und schüttelte sie ein wenig.

„Du setzt dir eine Testosteronspritze?“, fragte Laura.

„Ja“, Turel nahm ein kleines, silbernes Metallstück. Es ähnelte einem Miniaturbrotmesser mit kleinen Zacken. Damit sägte Turel den Hals der Ampulle durch. „Normalerweise macht es der Arzt, aber Dr. Ruben schien kurz angebunden zu sein. Er meinte, es sei besser als Salbe, weil ich von der Pickel kriegen würde, keine Ahnung, ob das ernst gemeint war“, Turel steckte die Nadel in die klare, ölige Flüssigkeit und zog etwas davon in die Spritze. Er tastete mit der Linken an seiner linken Arschbacke herum. Setzte sich dort schließlich die Spritze. Die ölige Flüssigkeit schmerzte ein wenig. Als er die Spritze aus seinem Fleisch zog, markierte ein kleiner, öliger Tropfen die Einstichstelle. Turel wischte ihn mit der Hand flüchtig weg.

Für Laura wirkte es befremdlich. Turel spritzte sich Testosteron. „Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob du noch der Alte bist“, meinte sie.

„Zwischen dem alten und dem neuen Turel liegen nur ein übler Tag und ein zugedröhntes Jahr im Krankenhaus. Ich habe mich nur äußerlich verändert“, meinte er.

„Dir kam es vielleicht nicht so lange vor, aber mir schon. Du lagst eben im Krankenhaus unter irgendwelchem Zeug, aber ich habe hier in deinem Bett geschlafen. Habe in deiner Wohnung gelebt. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, die du weg warst.“

„Es fühlt sich irreal an, weißt du“, begann Turel und ging zu ihr hinüber er. „Als ob die Nacht auf dem Feldweg das letzte Reale gewesen wäre. Ich weiß, dass ich wieder Zuhause bin, das ist mir klar. Ich weiß, dass hier eine wunderbare Laura vor mir sitzt“, dabei musste sie lächeln. „Aber ich bin noch nicht richtig angekommen. Ich nehme es hin, aber richtig bewusst ist es mir nicht“, er sah sie einen Moment in diesem rosaroten Lichtschein der bunten Birnen an, der über ihre Haut strich. Den grauen Stoff ihres engen Kleides entlang. Das Geld wirkte rosa in ihren Händen. Es beschien ihre leichten Rundungen. Ihr Gesicht.

„Andererseits brauchen wir nie wieder ein Kondom zu benutzen“, meinte Turel spontan.

Laura wusste nicht, ob es ein Witz sein sollte. „Warum? Können wir denn noch Sex haben, du hast schließlich keine …“

„Ja“, fuhr ihr Turel dazwischen. „Die produzieren aber nur Samen. Den Rest macht die Prostata. Der Schwellkörper ist in Ordnung und arbeitswillig“, er hob seinen Schwanz kurz an, was die Leere zwischen seinen Beinen noch unterstrich, und ließ ihn wieder fallen. „Was denkst du, wozu ich mir Testosteron spritze?“, meinte er und stützte sich kurz auf seine Knie.

Eine leichte Traurigkeit ergriff von ihrem runden Gesicht Besitz: „Das muss schlimm gewesen sein“, meinte sie.

„Der Schock kümmert sich schon drum“, meinte Turel. Setzte sich neben sie aufs Bett. „Weißt du was? Ich könnte den Schmerz nicht mehr beschreiben. Nicht, weil er unbeschreiblich wäre, sondern weil ich mich nicht mehr erinnere. Es ist wie bei Schwangeren. Man vergisst den Schmerz, sonst würde man ja durchdrehen. Guck dir zum Beispiel eine dieser fetten Frauen da draußen an. Zum Beispiel die Hildrichen, du weißt, welche ich meine? Deine frühere Nachbarin. Die hat … wie viel? Fünf Kinder? Jedes ein Souvenir von einer früheren Beziehung. Denkst du, die hätte auch nur ein zweites rausgequetscht, wenn sie sich genau noch an die Schmerzen erinnern könnte? Weißt du, die übelsten Schmerzen von allen, an die ich mich noch erinnere, waren die, als die Nägel aus meinen Händen und Füßen gezogen wurden“, meinte Turel und hob demonstrativ beide Hände mit den runden Löchern zwischen den Speichen des Ring- und Mittelfingers.

„Ich kann mich nicht erinnern, außer an das Gefühl der Kälte und dass was fehlte. Gesehen habe ich auch nicht, wie sie mir die Eier abtrennten. Ich hatte Blut in den Augen. Konnte kaum was sehen. Unnützes Fleisch muss weg, was?“, scherzte Turel.

„Ich finde das echt nicht witzig“, meinte Laura. „Die haben dir die Eier abgeschnitten … das ist wie … als hätten sie einer Frau die Brüste …“, sie wollte sich das lieber nicht vorstellen.

Turel sprang auf: „Quatsch! Was soll ich denn machen? Rumheulen, weil ich meine Hoden los bin?!“, fragte er. „Ich kriege sie ja eh nicht wieder“, meinte er und stand ganz plötzlich nutzlos mit hängenden Armen da, nur mit dem Hemd bekleidet, im Raum. Die gelochten Füße auf dem arabischen Teppich. Das Testosteron gluckerte in ihm herum. Laura hatte all ihre Anziehungskraft, die mit seinen Hoden gegangen war, wieder. Nicht dass er sie zwischenzeitlich unansehnlich gefunden hätte. Sie war immer noch schön, aber eher wie eine Statuette, wie ein Kunstwerk. Nun übten ihre Waden wieder die starke Anziehungskraft auf ihn aus, wie sie da so brav zusammen standen. Er erinnerte sich an das Gefühl, ihre Brüste zu kneten. An ihren Geruch und ihre Geräusche, wenn sie stoßweise ausatmete.

„Vielleicht kannst du mich ja trösten“, meinte Turel.

Laura verstand nicht recht.

Turel ging auf sie zu. Lächelte: „Leg schon das Geld zur Seite“, dabei kickte er eins der Portemonnaies weg.

Schließlich sah Laura schon, was los war, vergaß ihre Bedenken, warf sich zurück und stopfte das Geld in die Schublade des Nachtschränkchens. Für Turel hatte das Geld vorläufig seinen Wert verloren, er griff sie an den Knöcheln und zog die kichernde Laura zu sich zurück, wobei ihr Kleid bis zu dem Gürtel hochrutschte: „Nicht wegkrabbeln“, meinte er und machte sich sogleich an die Arbeit.

Ein kleiner Bannzauber gegen alles, was geschehen war. Das Testosteron arbeitete und hängte ihm imaginäre Hoden an. Turel machte sich nicht die Mühe, den Gürtel zu lösen, sondern zog das Kleid einfach von ihren kleinen, weichen Brüsten. Ein kleines Spektakel und Gerangel im Garten irdischer Genüsse. Das rosa Licht hüllte alles ein, Laura schlang ihre Beine um ihn. Zog seinen ungewohnt kahlen Kopf näher zu sich heran. Seine vernarbten Finger gruben sich in ihr Fleisch. Ein Gegengift in Form von elektrischen Signalen gegen den Schmerz der herausgerissenen Nägel, die schon lange wieder nachgewachsen waren.

Turel wie auch Laura spürten, dass sich an dem Vorgang und den freigesetzten Stoffen nichts merklich verändert hatte. Erst nachdem Turel sie zurücksinken ließ und sich aufsetzte, spürte er den fehlenden Widerstand zwischen seinen Beinen. Aber mehr auch nicht.

„Du hast recht“, meinte Laura. „Es hat sich nichts verändert“, meinte sie mit hochgeschobenen Kleid und heraushängenden Brüsten im rosa Schein des Lichtes.

Turel wurde etwas Bestimmtes klar und er rollte sich zur Seite neben sie. „Wir haben gerade die Natur beschissen“, meinte er lächelnd, die Hände hinter dem Glatzkopf verschränkt.

„Wie meinst du das jetzt wieder?“

„Hast du dich je gefragt, warum alle so verrückt nach Sex sind?“, stellte Turel seine Gegenfrage.

„Weil’s geil ist.“

„Und warum ist es so geil?“, fragte er und sah zu ihr hinüber.

„Warum?“, fragte Laura. Spielte einfach mit.

„Weil die Natur will, dass wir uns fortpflanzen. Warum sollte uns Sex sonst gefallen? Wir sollen unsere Art erhalten.

Doch jetzt können wir das Ganze haben, ohne die geringste Gefahr. Meine Hoden sind dahin. So bleibt für mich nur noch das Gefühl übrig. Wie ich schon sagte, wir bescheißen die Natur. Sieht fast so aus, als hättest du damals recht gehabt.“

„Womit denn?“

„Weißt du nicht mehr, was du damals meintest, als die Frage aufkam, ob wir nun ein Paar sind oder nicht?“

„Nein, was habe ich denn gesagt?“, fragte Laura.

„Du meintest, wir wären einfach zwei verlorene Seelen, die den Weg gemeinsam beschreiten. Das gefiel mir schon immer, wie du das so gesagt hast“, meinte er.

Laura drehte sich auf die Seite: „Daran kann ich mich nicht mal mehr erinnern. Soll ich das wirklich gesagt haben?“

„Ja. Hat sich denn was an der Aussage geändert?“

„Nein, ich glaube nicht“, meinte Laura lächelnd. „Wir sind wohl immer noch verlorene Seelen. Mehr denn je.“

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23 декабря 2023
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