Читать книгу: «Happy Endstadium», страница 4

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Schnell hatte ich zwei leere Plastikflaschen aus der Sammlung gefischt. Der einen säbelte ich unter Zuhilfenahme eines Brotmessers den Boden ab, die andere beließ ich, wie sie war. Ja, so würde es gehen. Zufrieden setzte ich mich an den Tisch und steckte mir eine Zigarette an. Nun hieß es weiter trinken und abwarten.

Als ich mich nach etwa einer Stunde in der Lage sah, den zweiten Versuch in Angriff zu nehmen, gestaltete sich der Vorgang so glatt, als ob ich ein Leben lang darauf hintrainiert hätte. Ich agierte wie eine Laborfachkraft, die sich auf dem Gebiet der Natursektfabrikation bereits ein beachtliches Renommee erworben hat, füllte in aller Ruhe zuerst die unbeschädigte Flasche, um hernach die gewünschte Menge durch den improvisierten Filter laufen zu lassen, über dessen Ende ich vorher eins der Präservative gestreift hatte.

Nachdem die Packung, die mir Julia in die Hand gedrückt hatte, dergestalt verarbeitet war, verfügte ich über vier vorschriftsmäßig verschlossene Ballons, die in etwa der gewünschten Größe entsprachen (nur das Exemplar aus der ersten Versuchsreihe war ein wenig praller geraten). Zusätzlicher Pluspunkt: Ich hatte noch nicht mal wirklich herumgesaut. Nichtsdestotrotz spülte ich die Urin-Castoren noch einmal mit Wasser ab, bevor ich sie vorsichtig in eine Plastiktüte gleiten ließ.

Etwas unangenehm war es mir schon, als ich mit der unappetitliche Fracht kurz darauf in Julias Zimmer trat.

Julia dagegen schien völlig frei von derartigem Erziehungsballast.

»Und?«, fragte sie erwartungsvoll.

»Erledigt.«

»Wunderbar, dann können wir ja loslegen. Zieh dich möglichst schick an. Wir geh’n shoppen.«

Schick anziehen? Heute war offenbar der Tag der persönlichen Herausforderungen. Ich kämpfte mich durch meine Garderobe, die zu einem nicht geringen Teil noch immer in Umzugskisten lagerte. Nach diversen Anproben entschied ich mich schließlich für ein schlichtes schwarzes Poloshirt und die einzige Blue Jeans, die ich besaß. Danach brachte ich meine Frisur in Form und ließ ausgiebig Deo an meine Achseln. Was Jacke und Schuhwerk betraf, hatte ich leider nicht allzu viel Auswahl. Also zog ich das an, was ich bei dem vorherrschenden Wetter täglich zu tragen pflegte: Meine guten Allround und das Carhartt Brooks Jacket (Nylon lined). Immerhin war beides frei von größeren Verunreinigungen. Ein abschließender Blick in den Spiegel ließ mich folgendes Fazit ziehen: Richtig schick sah ich nicht aus. Passabel traf es wohl eher (um mal die Ausdrucksweise meine Mutter zu bemühen). Aber wenn Julia mich nicht gerade zu den teuersten Adressen der Stadt schleppen wollte, sollte es reichen.

Ihr Anblick ließ allerdings darauf schließen, dass es genau dort hingehen sollte: kniehohe Stiefel, Strumpfhose, halblanger Rock, Steppjacke mit Kunstpelzbesatz, überdimensionierte Handtasche – alles in diesem Stil, der trotz des Verzichts auf allzu offensichtlichen Luxus nicht verhehlen will, dass er für ein Leben ohne finanzielle Sorgen steht. Wenn ich Julia nicht gekannt hätte, hätte ich sie ohne zu Zögern für die Hauseigentümerin gehalten, die mal eben von der Elbchaussee herübergekommen war, um eine Inspektion ihres Besitzstands vorzunehmen. Der Sonnenbrille, die Julias penibel zum Pferdeschwanz gebundenes Haar zierte, hätte es gar nicht mehr bedurft.

»Wow!«, entfuhr es mir in einem Ausbruch unkontrollierter Begeisterung.

Julia verdrehte die Augen.

»Spar dir deine sexistische Einzellerscheiße. Und bevor du fragst: Nein, die Klamotten sind nicht bezahlt. Die gab’s umsonst von der Frauenbefreiungsfront, um Typen wie dich zu paralysieren, ohne dafür Munition zu vergeuden.«

Ich hielt es für geboten, das Thema zu wechseln.

»Hast du die Kondome?«

Julia ließ mich einen Blick in ihre Tasche werfen.

Ich erkannte die Tüte, die ich mir gegriffen hatte, entdeckte daneben aber noch mindestens zwei weitere Plastebeutel. Hatten die anderen etwa auch …?

»Haben die anderen etwa auch …?«

»Aber sicher.«

Nachdem wir eine Weile durchs Viertel geschlendert waren, hakte sich Julia bei mir ein. Dann ging es in den ersten Laden, eine Klitsche namens Rarer Stoff, die sich auf sündhaft teure Designermode spezialisiert hatte. Für mich hätte der Film in diesem Moment ruhig an Geschwindigkeit verlieren können. Denn war das nicht eine dieser Szenen, die sich das von Geldsorgen und Figurproblemen gebeutelte Publikum stets so sehnlich herbeiwünscht: Ein junges, sorgloses Paar, das da voller Lebensfreude ein exklusives Geschäft betrat, um die werktätigen Massen am ererbten Vermögen teilhaben zu lassen, ohne auf den Cent zu achten? Sicher, neben der blonden Schönheitskönigin fiel der männliche Teil des Duos deutlich ab, aber die MasterCard Platinum, die er gleich zücken würde, wog seine optischen Unzulänglichkeiten mehr als auf …

Julia ließ mich los und begann mit einer bemerkenswerten Mischung aus Neugier und Überdruss an den wenigen im Raum verteilten Kostbarkeiten vorbeizuschlendern, während ich Ulrike halten durfte, der heute ausnahmsweise an der Leine geführt wurde.

Da wir aktuell die einzige Kundschaft darstellen, war es nur natürlich, dass sich die Inhaberin, eine zierliche Mittfünfzigerin im nadelgestreiften Hosenanzug, verpflichtet fühlte, ein wenig Smalltalk zu betreiben.

Sie ging in die Hocke und begann, Ulrikes Quadratschädel zu tätscheln.

»Wie heißt er denn?«

»Ulrich«, log ich, während ich aus dem Augenwinkel registrierte, dass Julia mit einem Fetzen über dem Arm in der Umkleidekabine verschwand.

»Schönes Tier. Rottweiler-Labrador, oder? Ich hatte auch mal auch so einen. Ist in Spanien leider von der Guardia Civil erschossen worden, als er einen Mountainbiker vom Rad geholt hat.«

Sie sah mit einem wehmütigen Lächeln zu mir auf, gönnte mir einen Blick in ihr sonnengebräuntes, von Lachfalten durchzogenes Gesicht, das den Eindruck vermittelte, sie hätte ihr halbes Leben auf Segelbooten verbracht.

Verdammt, die Dame schien ausgesprochen nett zu sein. Zum Glück unterbrach Julia unseren Plausch.

»Liebling, kannst du mir mal helfen, bitte?«

Mit einer Geste des Bedauerns ließ ich meine Gesprächspartnerin zurück, befahl Ulrike sich abzulegen und schlüpfte hinter den Vorhang.

Natürlich erwartete mich dort kein klemmender Reißverschluss, sondern ein technisches Problem ganz anderer Art.

»Ich komm da nicht ran«, flüsterte Julia und zeigte an die Decke. Dann drückte sie mir eins der Kondome in die Hand und holte eine Tube Sekundenkleber aus ihrer Handtasche.

Während sie das Haftmittel großzügig auf der Latexhülle verteilte, sagte sie, immer noch im Flüsterton: »Möglichst direkt neben die Lampe, damit es auch wirklich platzt.«

Ich machte mich lang und drückte die heimtückische Fracht vorsichtig gegen den metallenen Rand des Deckenstrahlers, damit sie nicht jetzt schon kaputt ging und Julia und mir eine ungewollte Golden-Shower-Party bescherte.

Aber der Kleber hielt, was er versprach.

Julia schenkte mir ein diabolisches Grinsen. Dann sagte sie so laut, dass es auch im Verkaufsraum zu vernehmen sein musste: »Nee. Also das geht ja mal gar nicht. Das ist so dermaßen retro …« Währendessen gab sie mir mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ich die Kabine wieder verlassen durfte.

Eine halbe Minute später kam sie selbst heraus, drückte der Inhaberin das Stück Stoff in die Hand, das ihr als Alibi für die Umkleide gedient hatte, und steuerte auf den Ausgang zu.

Ich folgte ihr mit Ulrike im Schlepp, konnte aber dem Drang nicht widerstehen, mich in der geöffneten Tür noch einmal umzudrehen.

Die Hundeliebhaberin winkte mir freundlich zu.

»Schauen Sie bald mal wieder rein«, rief sie. »Und bringen Sie Ulrich mit.«

»Ulrich?!«, fragte Julia, als wir auf der Straße standen.

»Klingt ziemlich retro, was?« Ich hielt ihr den Arm hin. »Wollen wir weiter, Liebling

Julia verpasste mir einen Stoß in die Rippen, hakte sich dann aber erneut bei mir unter.

Die Strecke bis zum nächsten Einsatzort nutzte ich, um meine Neugier zu befriedigen.

»Meinst du, die Hitze der Lampe reicht wirklich aus, um das Gummi zerplatzen zu lassen?«

»Aber klar. Wir haben das vor ein paar Jahren schon mal in Peepshows und Videokabinen probiert, als diese PorNO-Kampagne lief. Ein paar der notgeilen Arschlöcher hat es tatsächlich erwischt, auch wenn das in der Öffentlichkeit natürlich nie die große Welle gemacht hat. Dafür gab’s mächtig Aufregung bei den Betreibern. Zumal am Anfang keiner wusste, wer überhaupt dahintersteckt.«

Ich dachte an meinen ersten und bisher letzten Peepshowbesuch, der, na klar, an meinem achtzehnten Geburtstag stattgefunden hatte, also ebenfalls ein paar Jahre zurücklag. Da konnte ich ja nachträglich von Glück reden, die Lokalität trockenen Hauptes verlassen zu haben.

»Aber die Chance, dass sich gerade jemand in der Umkleide befindet, wenn sich die Schleusen des himmlischen Strafgerichts öffnen, ist doch ziemlich gering.«

»Stimmt. Es reicht allerdings völlig aus, wenn es einmal funktioniert. Du darfst die psychologische Komponente nicht unterschätzen.«

Da hatte sie Recht. Psychologie ist ja bekanntlich alles, gerade beim Erwerb von Kleidung.

Getreu dieser Devise verteilten wir die restlichen Kondome – eine Prozedur, die wenn es nach mir gegangen wäre, ewig hätte dauern können.

Aber Hosianna, nur drei Tage später gab es eine Fortsetzung. Und wieder war ich es, der Julia begleiten durfte. Klar, Kleingeld kam aufgrund seines Äußeren noch nicht einmal ansatzweise in Frage. Auch Jan hätte mit seinem rasierten Schädel und seiner Bauernvisage schon einen Smoking tragen müssen, um an Julias Seite nicht wie ein Barbar zu wirken. Warum allerdings Lasse nicht in die engere Wahl genommen wurde, erschloss sich mir nicht. Na, vielleicht hatte ich beim ersten Mal einfach einen guten Job gemacht.

Dergestalt motiviert genoss ich auch die zweite Exkursion in die Welt der höherpreisigen Mode. Und siehe da: Wir schafften es tatsächlich in die Zeitungen. Noch am selben Abend traf es eine Unternehmergattin aus dem Umland, die den Reportern voller Entsetzen die Worte in die Notizblöcke diktierte, sie hätte im ersten Moment geglaubt, der heimtückische Säureanschlag würde ihr das gesamte Gesicht verätzen. Schon am nächsten Tag meldete sich ein weiteres Opfer, das bisher aus Scham geschwiegen hatte. Und damit wurde die Sache auch überregional interessant. Die Frankfurter Rundschau titelte gar mit der Schlagzeile Eine Stadt sucht den Pipi-Bomber.

Das Bekennerschreiben sparten wir uns diesmal. Denn imagefördernd war die Angelegenheit für die Bewegung, der wir uns zugehörig fühlten, nun wahrlich nicht. Vielmehr genossen wir die Entwicklung im Stillen. Und die war nicht ohne. Der Einzelhandel wurde spürbar nervös. Einige Läden hatten schon damit begonnen, Taschenkontrollen an den Eingängen durchzuführen, andere gaben sich öffentlich der Überlegung hin, ihre Umkleidekabinen mit Kameras auszustatten.

So hätte es weitergehen können. Und das wäre es sicher auch, hatten Julia und ich unseren nächsten Einkaufsbummel doch schon terminiert, wenn, ja, wenn sich nicht Kräfte in unseren beschaulichen Alltag gedrängt hätten, die zu bekämpfen uns in den nächsten Wochen all unsere Zeit kosten sollte.

»Flieg nicht so hoch, mein kleiner Freund«

[Nicole]

Wann genau die Inbreeding Criminals in unserer Wohngegend aufgetaucht waren, hätte ich gar nicht sagen können, wobei der Begriff aufgetaucht den Vorgang ohnehin nicht richtig beschrieb. Denn gelebt hatten sie ja schon immer hier. Nicht wenige von ihnen konnten Eltern ihr Eigen nennen, die in den Achtzigern die hiesige Hausbesetzerszene und damit den Ruf des Viertels begründet hatten, von dem heute so viele Interessengruppen zu profitieren versuchten. Andere hatten türkische oder kurdische Vorfahren, die weit weniger freiwillig in den seinerzeit abgewirtschafteten Stadtteil gezogen waren.

Miteinander rumgehangen hatten sie sicher schon seit Kindertagen. In den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung traten sie später, im Teenageralter, als ihnen erste kleinere Straftaten zur Last gelegt wurden. Zu diesem Zeitpunkt zierten ihre Tags schon zahlreiche Wände. Aber wem hätte das auffallen sollen, bei den Unmengen vergleichbarer In- und Aufschriften?! Davon ab, hätte den neumodischen Scheiß ohnehin kaum jemand entziffern können.

Mittlerweile war sie allerdings ein fester Teil unseres Gemeinwesens: die Gangunsere Gang, unser vierteleigener Gangsternachwuchs mit einem Faible für HipHop und krummbeinige, muskulöse Hunde. Im Durchschnitt waren die Buben ein paar Jahre jünger als ich, also um die zwanzig, und obwohl sie gern mal mit Messern herumfuchtelten, hielt sich die Furcht vor ihnen in Grenzen. Denn für gewöhnlich lebten sie nach dem Grundsatz Wenn du uns nicht in die Quere kommst, lassen wir dich ebenfalls in Ruhe.

Ein paar Mal hatten sie vor linken Treffpunkten herumgestresst. Aber das waren samt und sonders testosteron- und drogensubstituierte Schubsereien gewesen, die sich durch den Einsatz von ein wenig Diplomatie noch jedes Mal schnell erledigt hatten.

Es gab also keinerlei Anzeichen dafür, dass es ausgerechnet mit den Inbreeding Criminals, oder dem IC, wie die Rasselbande in der Nachbarschaft gern genannt wurde, zu einer folgenschweren Konfrontation kommen würde. Und das wäre es wohl auch nicht, wenn mir nicht dieser grenzdebile Sexshopverkäufer den letzten Nerv geraubt hätte.

Doch der Reihe nach: Im Verlauf unserer Nachschubproduktion waren uns die Kondome ausgegangen, also war ich schnell zum Fachhandel an der Ecke gelaufen. Nachdem ich dem schmalbrüstigen Jüngling, der dort hinterm Tresen agierte, mein Begehr angetragen hatte, entspann sich folgender absurder Dialog:

»Irgendwelche Extras? Mit Noppen oder Rillen? Gerippt vielleicht?«

»Nein, danke.«

»Wir haben auch welche mit Geschmack. Schoko oder Banane zum Beispiel.«

»Vielen Dank.«

»Tutti-Frutti? Oder Spearmint?«

Ich verzog das Gesicht, um anzuzeigen, dass ich hier nicht den halben Tag verbringen wollte, und schüttelte den Kopf.

»Wie wär’s mit Orangenduft?«

»Hör mal, ich brauch einfach nur ’n paar stinknormale Gummis.«

Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte der Schmalbrüstige derartig beleidigt, dass ich schon glaubte, er würde die Verkaufsverhandlungen abbrechen. Dann fing er sich wieder: »Und die Größe?«

»Ist egal.«

Er sah mich misstrauisch an.

Verdammt, bei der aktuellen Hysterie da draußen war es vielleicht ratsam, in diesem Punkt nicht zu nachlässig zu sein.

»Tschuldigung, was rede ich denn?!«, korrigierte ich mich also und nutzte die Gelegenheit für eine wohltuende Lüge: »XXL natürlich.«

»Okay«, sagte er, hörbar erleichtert. »Latexfrei? Oder sonst noch was, das zu beachten wäre? Extrastark vielleicht?«

Ich hatte alle Mühe, einen Tobsuchtsanfall zu unterdrücken.

Als ich endlich wieder auf der Straße stand, war mir der Sinn nach weiteren Frage-und-Antwort-Runden verständlicherweise abhanden gekommen. Ich brauchte dringend einen Moment der Stille, ein paar Sekunden der inneren Einkehr und der Kontemplation. Ein frommer Wunsch, dessen Erfüllung das Schicksal erfolgreich zu sabotieren wusste. Kaum dass ich mir nämlich eine Zigarette angezündet und mich in Bewegung gesetzt hatte, passierte ich zwei minderjährige Eckensteher, von denen einer unaufgefordert das Wort an mich richtete.

»Hast mal ’ne Kippe, Digger?«

Unter normalen Umständen wäre ich diesem Wunsch wahrscheinlich nachgekommen. Entnervt wie ich war, sah ich mich allerdings noch nicht mal in der Lage, meinen Schritt zu verlangsamen. Während ich vorbeieilte, reichte es gerade mal für ein gereiztes: »Tut mir leid, ich bin Nichtraucher.«

»Çüş, Mann, der Penner will dich verarschen«, hörte ich den Begleiter des Schnorrers noch sagen. »Siehste das nich’? Der raucht doch, ey, der raucht doch grad eine, Digger-Aller.«

Es brauchte einen Augenblick, bis der Angesprochene diese Information verarbeitet hatte. Dann reagierte er, wie er reagieren musste: »Ey, warte! Komm zurück! Komm zurück und entschuldige dich. Oder hast du keinen Respekt, du Missgeburt?!«

Das hätte mir noch gefehlt, dass ich mich bei einer Rotznase, der gerade die ersten zwei Schamhaare gewachsen waren, dafür entschuldigte, ihren Weg in die Nikotinabhängigkeit nicht gefördert zu haben. Ich nahm eine minimale Tempoverschärfung vor, drückte das Kreuz durch und entfernte mich, ohne mich noch einmal umzusehen.

Dieses Verhalten nahmen die Knaben zum Anlass, mir weitere Verwünschungen hinterherzuschicken.

»Komm zurück, du Hurensohn. Ich schlag dir deine behinderte Fresse ein.«

»Wir sind IC, wir ficken dich, Junge!«

Ich blieb einen Moment an der seltsamen Titulierung Junge hängen – vom Alter her hätte ich schließlich locker als staatlich bestellter Fürsorger der beiden Schreihälse durchgehen können –, bevor die Buchstabenkombination IC (in diesem Fall englisch ausgesprochen) an die Tür meines Bewusstseins klopfte. Falls diese Information nicht dem weiten Reich der Lüge entstammte, die Gang mittlerweile also wirklich eine Krabbelgruppe unterhielt, hatte ich es mir gerade mit einem ganzen Rudel lästiger Zeitgenossen verdorben. Unsinn! Ich schob diese Überlegung kurzerhand beiseite. Die Vorstellung, dass die Buben einem kriminellen Zusammenschluss angehörten, war einfach zu albern. Unvermittelt ärgerte ich mich darüber, der lachhaften Drohung überhaupt einen Gedanken gewidmet zu haben. Stattdessen hätte ich besser umkehren und die zwei Flachpfeifen übers Knie legen sollen.

Zurück in der Wohnung, kam ich nicht umhin, mir Luft zu verschaffen, indem ich eine ausführliche Schilderung des Vorfalls vom Stapel ließ, den ich nun meinerseits mit allerlei Beschimpfungen anreicherte.

Julia hörte sich die Tirade artig an, nur um mich anschließend unverhohlen auszulachen.

»Du bist doch nicht etwa unter die NPD-Wähler gegangen?! Zumindest klingst du schon wie einer. Fehlen nur noch der Schäferhund und der Hausmeisterkittel.«

»Sehr witzig«, gab ich gekränkt zurück.

Sie legte mir eine Hand auf die Schulter.

»Mensch, beruhige dich wieder. Die kleinen Pisser sind doch harmlos.«

»Harmlos? Das ist übelstes Macker- und Sexistenpack. Und komm mir jetzt bloß nicht damit, dass wir es hier mit Kindern zu tun hätten. Die verändern sich auch nicht, wenn sie älter werden.«

»Schon mal was von struktureller Gewalt gehört?«

»Ja, klar. Aber …«

Julia schnitt mir das Wort ab.

»Na, dann weißt du ja, warum die so drauf sind.«

Ich wollte dem noch etwas entgegenhalten, aber für Julia war die Diskussion offenbar beendet.

»Komm, wir haben zu arbeiten«, sagte sie und wies auf die Kanne äußerst harntreibenden Brennnessel-Tees, die sie während meiner Abwesenheit gekocht hatte.

Mit neuen Urin-Bomben ausgestattet, drehten wir kurz darauf eine weitere Runde durch den lokalen Haute-Couture-Handel. Wir hatten schon zwei Läden abgeklappert, als wir an der unlängst eröffneten Starbucks-Filiale vorbeikamen.

Julia verlangsamte ihren Schritt.

»Willst du da rein?«, fragte ich erstaunt.

»Nur kurz die Toilette bestücken.« Sie zwinkerte mir zu. »Nimm du mal Ulrike. Bin gleich wieder da.«

Ich ließ mir die Leine geben und friemelte mit der freien Hand das Päckchen Kippen aus meiner Hosentasche. Dann schlenderte ich – dem Hund folgend, der ein paar Duftmarken kontrollieren wollte – an der Glasfassade entlang. Während ich der Kundschaft gedankenverloren beim Latte-Schlürfen zusah, hörte ich hinter mir plötzlich eine sich überschlagende Stimme: »Ey, das issa! Das is der Asi, der mich gestern gedisst hat. Und guck ma, ey, die Sau raucht ja schon wieder.«

Ich drehte mich um und erblickte einen schlaksigen Burschen, der aufgeregt in meine Richtung zeigte. Obwohl ich mich an das mintgrüne, mindestens zwei Nummern zu kleine Baseballkäppi, das wie ein Wasserkopf auf seinem Haupt thronte, nicht erinnern konnte, brauchte es kein Übermaß an Kombinationsvermögen, um zu erraten, dass ich es hier mit der Zigarettenschnorrenden Nervensäge zu tun hatte. Der Kompagnon, den er diesmal dabei hatte, war allerdings ein anderer: ungefähr mein Alter, kahl rasiert, von eher kleinem Wuchs, dafür muskelbepackt wie ein Zuchtbulle. Im Falle einer sofortigen Freigabe von Anabolika-Werbung hätte er zweifelsohne einen längerfristigen Modelvertrag erhalten – wenn auch die Tätowierungen an Hals und Händen vielleicht nicht die ganz großen Gagen eingespielt hätten.

Immerhin konnte er sprechen.

»Der Mongo da drüben, oder was?«, hakte er unnötigerweise nach, während er schon auf mich zukam. »Hey, du Penner, hast vorhin meinen Kumpel hier angemacht, ne?!«, tönte er. »Große Fresse gehabt, ne?!«

Ich hätte jetzt gerne angeführt, dass der Begriff große Fresse gewiss Auslegungssache sei. Eine derartige Äußerung aber hätte den närrischen Gedanken vorausgesetzt, dass Debattieren in Fällen wie diesen auch nur einen Hauch von Sinn ergab. Stattdessen war hier die alte Devise des großen Faustkämpfers Philipp Schiemann gefragt, die da lautet: Irre gucken und dann voll durchzieh’n! Also schmiss ich meine Kippe weg und griff – nachdem ich den schiemannschen Rat den aktuellen Gegebenheiten angepasst hatte – nach meinem Pfefferspray. Zeitgleich zog ich Ulrike näher zu mir heran.

»Na, dann zeig mal, ob du dich auch grade machen kannst«, sagte das wandelnde Wachstumshormon und baute sich drohend vor mir auf.

Der mintgrüne Wasserkopf ließ es sich nicht nehmen, die Situation mit blutdürstigen Handlungsanweisungen zu befeuern.

»Box ihn wech, Digger-Aller-Digger! Schlag ihm seine Spastifresse kaputt!«, feixte er aus der wohligen Sicherheit der zweiten Reihe.

Ich sah auf Ulrike herab, der sich zu meiner großen Erschütterung den Schwanz zwischen die Hinterbeine geklemmt hatte, und entgegnete so ruhig, wie es mein galoppierender Herzschlag zuließ: »Wenn du noch einen Schritt näher kommst, kann ich für den Kampfhund hier nicht garantier’n.«

Eine Sekunde lang sah es so aus, als ob diese Strategie Erfolg haben würde. Der Muckibuden-Ochse kniff nachdenklich die Augenbrauen zusammen, was mich schon glauben ließ, in seinem vakuumversiegelten Gehirn würde so etwas wie Sorge um die eigene Unversehrtheit aufsteigen, bis er unvermittelt den Körperschwerpunkt nach hinten verlagerte und mit voller Wucht in Ulrikes Schnauze trat. Der Hund jaulte auf. Ich brachte das Pfefferspray zum Vorschein. Zum irre gucken blieb keine Zeit mehr. Während der erste Schlag meine Schulter streifte, begann ich die Dose zu leeren, wobei ich mich darauf konzentrierte, dass der heimtückische Reizstoff, den sie enthielt, aus möglichst geringer Entfernung das Gesicht meines Widersachers einnebelte. Das tat er auch, nur Wirkung wollte er keine entfalten. Der entfesselte Mittelgewichtler prügelte weiter auf mich ein, als ob ich ihm lauwarme Luft in die Visage gepustet hätte. Entweder war bei der Abfüllung des Behälters etwas grob schief gelaufen, oder – was wahrscheinlicher schien – mein Gegner merkte einfach nichts mehr. Vielleicht hatte er Tilidin oder ein anderes dieser neuen Mittel genommen, die sich bei den Sido-, Bushido- und Frauenarztverstehern so großer Beliebtheit erfreuen – dieses Zeug, das dich vollkommen unempfindlich gegen Schmerzen macht.

Davon hätte ich jetzt auch gern eine Dosis intus gehabt. Denn die Schläge setzten mir langsam zu. Zwar versuchte ich den Fäusten, die auf mich zukamen wie ein Meteoritenhagel, so gut es ging auszuweichen, ja, ich schlug sogar selbst ein paar Luftlöcher, aber der Urgewalt, die da auf mich eindrang, hatte ich einfach nichts entgegenzusetzen. Die logische Folge dieses ungleichen Gefechts war ein schwerer Kopftreffer, der mich zu Boden gehen ließ.

Um den Sturz abzufedern, ließ ich instinktiv die Leine los. Ulrike nutze die Gunst des Augenblicks und spurtete davon, während ich bereits die ersten Tritte in den Unterleib kassierte. Ich krümmte mich zusammen und schloss die Augen. Jetzt half nur noch beten. Dummerweise kannte ich keine längeren Fürbitten, und so blieb es bei einem kläglichen lass mich nicht im Stich, Herr, bevor sich unvermittelt die BILD-Schlagzeile des morgigen Tages hinter meine Pupillen schob: Sozialschmarotzer ins Koma geprügelt! Verdammt, sollte es das schon gewesen sein? Sollten all meine hochtrabenden Pläne tatsächlich hier und heute ihr Ende finden?

Offenbar nicht. Denn während ich noch mit den Launen des Schicksals haderte, vernahm ich plötzlich das vom Stimmbruch gebeutelte Organ des Käppiträgers.

»Çüş, Mann, was will denn die Fotze?!«, höhnte er.

Und dann hörte ich ihn nur noch schreien, und zwar so wie jemanden, der sich nicht entscheiden kann, ob ihm der Schmerz oder die Angst vor weiteren Schmerzen mehr zu schaffen macht.

Keine Sekunde später hatten die Tritte aufgehört. Dafür entbrannte in nächster Nähe neuer Kampfeslärm.

Ich öffnete die Augen und meinte im ersten Moment einem Flashback aufzusitzen. Mein Peiniger sah sich in die Auseinandersetzung mit einer Blondine verwickelt. Und diese Blondine, die auch noch vortrefflich austeilte, war keine Geringere als … Julia! Ich rappelte mich auf und kam gerade noch rechtzeitig in die Senkrechte, um den Fleischklumpen umkippen zu sehen. Nun war es an mir, ein paar Tritte an den Mann zu bringen.

Julia packte mich am Arm und riss mich zurück.

»Lass gut sein«, keuchte sie, »der hat genug.«

Tatsächlich machte der gefallene Kirmesboxer nicht den Eindruck, als ob er an einer Fortsetzung des Fights interessiert gewesen wäre. Zwar reichte es, während er bäuchlings davon robbte, noch für ein paar herausgepresste Flüche. Aber nachdem er sich am nächsten Laternenpfahl mühsam in die Höhe gezogen hatte, humpelte er schließlich von dannen, ohne uns noch eines Blickes zu würdigen. Von seinem Schutzbefohlenen war zu diesem Zeitpunkt schon nichts mehr zu sehen.

Julia, die noch immer schwer atmete, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte mich an.

»Und? Mit dir alles klar?«

Am liebsten hätte ich ihr in diesem Moment die Klamotten vom Leib gerissen und sie wie ein vor dem Ertrinken Geretteter, der ich in gewisser Weise ja auch war, darum gebeten, gleich hier auf dem Bürgersteig ein Rudel Sechslinge mit mir zu zeugen. Stattdessen befühlte ich mein Gesicht und sagte: »Scheint soweit alles heil geblieben zu sein.«

»Vielleicht solltest du trotzdem zum Arzt.«

»Nee, lass mal«, beruhigte ich sie und klopfte meine Taschen in guter alter Charles-Bronson-Manier nach Zigaretten ab. »Erzähl mir lieber, wo du so zu kämpfen gelernt hast.«

»Muay Thai. Seit sechs Jahren«, entgegnete sie nicht ohne Stolz. Und dann: »Shit, wo ist eigentlich Ulrike?«

»Äh, der hat wohl weniger Kampfsporterfahrung und ist sicherheitshalber stiften gegangen.«

Zum Glück war der Fahnenflüchtige schnell wieder eingefangen. Wir fanden ihn unter der Bank einer nahen Bushaltestelle, von wo aus er uns halb verängstigt, halb freudig entgegenstarrte.

»Scheiße«, sagte Julia, nachdem sie ihn hervorgelockt und sich sein blutendes Maul besehen hatte.

Vorläufige Diagnose: ein abgebrochener Eckzahn.

Ich musste an unser Gespräch vom Vortag denken und konnte es mir nicht verkneifen, auf eine von Julias Bemerkungen Bezug zu nehmen: »So harmlos sind die kleinen Pisser dann doch nicht.«

»Nein«, sagte sie ernst und sah auf Ulrike herab, »harmlos ist wirklich das falsche Wort.«

Trotz ihrer Sorgenfalten wurde mein Gefühlshaushalt angesichts der gewonnenen Schlacht immer noch von Euphorie regiert, und so fiel es mir nicht schwer, ein paar aufmunternde Worte fallen zu lassen.

»Komm, jetzt geh’n wir erst mal nach Hause. Dann seh’n wir zu, dass wir Ulrike zum Tierarzt kriegen. Und wenn das erledigt ist, feiern wir. Schließlich hast du gerade ein echtes Schwergewicht zur Strecke gebracht.«

Sie lächelte schwach.

»Das mit dem Feiern überleg ich mir noch.«

Wieder in der Wohnung erhielt meine Hochstimmung einen ersten Dämpfer. Nachdem wir Lasse und Kleingeld Bericht erstattet hatten – Jan hatte sich nach einer knappen Beschreibung von Ulrikes Verletzungen umgehend bereit erklärt, den Gang zum Tierarzt zu übernehmen –, sagte Lasse etwas, das bis zu diesem Moment noch keinerlei Einlass in mein von Dopamin und Noradrenalin geflutetes Hirn gefunden hatte.

»Wenn die beiden Klappspaten wirklich von den Criminals waren, könnte es hier im Viertel bald ungemütlich werden.«

Augenblicklich sah ich eine entfesselte Meute vor mir, die mit Baseballschlägern und Eisenstangen bewaffnet die Straßen nach Julia und mir durchkämmte. Dann fiel mir etwas ein, das geeignet schien, meine aufkeimende Furcht in Schach zu halten.

»Meinst du wirklich, dass die vor ihren Freunden zugeben werden, von einer Frau aufgemischt worden zu sein?«

»Das vielleicht nicht«, entgegnete Lasse. »Trotzdem können sie diese Demütigung unmöglich auf sich sitzen lassen.«

»In jedem Fall gehst du bis auf weiteres nicht mehr allein vor die Tür«, sagte Julia an mich gewandt.

Na, wunderbar. Nun hatte ich also den Status eines Fünfjährigen, und das nur, weil ich mich einer Übermacht an Muskelsträngen und Gewaltbereitschaft nicht hatte erwehren können.

Selbstredend protestierte ich gegen diese Herabwürdigung, sprach erbost davon, dass ich durchaus in der Lage sei, auf mich selbst aufzupassen, und man mir doch bitte im Hinblick auf meine Bewegungsfreiheit keine Vorschriften machen möge. Insgeheim hatte ich da allerdings längst beschlossen, meine Ausflüge in die Außenwelt fürs Erste tatsächlich auf ein Minimum zu beschränken – natürlich, ohne dass es auffiel – und mich dabei zumindest vorzusehen.

Die anderen ließen meine Einwände unkommentiert, tauschten aber vielsagende Blicke aus.

Ich erhob mich, um das Kühlelement zu wechseln, das ich mir bis eben an die Wange gedrückt hatte, und mir bei dieser Gelegenheit ein neues Bier zu holen.

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