Читать книгу: «Happy Endstadium», страница 3

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Bei einem derart schwachen Aufschlag war es ein Leichtes, den Ball knapp hinters Netz zurückzuspielen: »Ach, wir entscheiden jetzt also, wer sich hier ansiedeln darf und wer nicht?!«

»Nee, das vielleicht nicht … Aber wir sollten wenigstens dafür sorgen, dass sich die Scheiß-Yuppies hier nicht noch breiter machen, als sie’s ohnehin schon getan haben.« Kleingeld war wirklich ein Geschenk des Himmels.

»Na, klar, die Yuppies«, höhnte ich mit süßlicher Stimme. »Die sind natürlich an allem schuld.« Den Zusatz vielleicht sind sie sogar unser Unglück konnte ich mir gerade noch verkneifen. Stattdessen sagte ich: »Und wer legt das fest, wer Yuppie ist und wer nicht? Du? Oder ich? Oder das Komitee zur Reinhaltung des Stadtteils? Und wenn die so ’nen fiesen Yuppie ausgemacht haben, darf der das Viertel dann nicht mehr betreten? Oder nur noch tagsüber? Vielleicht mit Passierschein? Oder steckt man so einen nicht besser gleich ins Umerziehungslager beziehungsweise ins Latte-macchiato-Ghetto? Alter, es ist doch völlig aberwitzig zu glauben, das Glück dieses Planeten hinge vom Verschwinden einer bestimmten Bevölkerungsschicht ab, mal ganz davon abgesehen, dass die Gruppe, über die wir hier sprechen, noch nicht mal klar zu definieren ist.«

Kleingeld starrte mich über seine Mate-Flasche hinweg feindselig an, blieb aber, wie ich es erwartet hatte, vollkommen still.

Es war Jan, der die Antwort übernahm: »Es geht doch überhaupt nicht um Yuppies, oder wenn, dann nur vordergründig. Es geht darum, dass hier seit Jahren die Mieten explodier’n, dass alteingesessene Bewohner verdrängt und aus ihren sozialen Bindungen gerissen werden und dass wir dem irgendwas entgegensetzen müssen.«

Damit hatte er natürlich Recht. Trotzdem wollte oder konnte ich jetzt nicht einfach klein beigeben. Außerdem stellte sich immer noch die Frage, ob der Angriff auf ein Bekleidungsgeschäft tatsächlich ein probates Mittel war, um den Prozess, von dem Jan gesprochen hatte, aufzuhalten.

»Und du meinst, mit ein paar eingeschmissenen Schaufenstern lässt sich der Zuzug von unliebsamen Personengruppen stoppen?«

»Na, klar, das schreckt ab. Die Versicherungsprämien steigen und die Angst auch. Davon ab: Wir sind ja gar nicht gegen Veränderungen, auch nicht gegen den Zuzug von Reichen oder Yuppies oder wie auch immer du die Leute nennen willst, die sich hier ’ne Eigentumswohnung klarmachen. Nur: Die Mischung muss stimmen. Aber wieso erklär ich dir das eigentlich?! Du weißt das doch alles selbst.«

»Ja, klar«, gab ich zögerlich zu. »Und trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob unsere Methode die richtige ist. Das System als Ganzes ist der Fehler. Ist es da nicht kontraproduktiv, den Fokus auf seine einzelnen Teile zu legen?«

Die Replik kam augenblicklich. Und zwar von Julia: »Für jemanden, der vor zwei Tagen noch Ulrike Meinhof zitiert hat, hast du ’ne Menge gequirlter Scheiße im Kopf. Aber hey, sobald du herausgefunden hast, wie das System beseitigt werden kann, ohne seine Einzelteile anzugreifen, kannst du uns dazu ja mal ’n erhellendes Referat halten. Aber vielleicht übst du vorher noch ’n bisschen sprühen.«

Treffer! Versenkt! Ich sah hilfesuchend zu Jan, aber der ignorierte meinen Blick geflissentlich.

»Und damit weiterhin viel Spaß bei eurer Kaffeehaus-Revolution«, setzte Julia noch einen drauf, bevor sie sich abrupt umwandte und erhobenen Hauptes das Zimmer verließ.

Kleingeld folgte ihr, ohne Jan oder mich eines Grußworts für würdig zu befinden.

Ich trank in einem Zug mein restliches Bier aus, entnahm dem Kühlschrank zwei neue und ließ mich Jan gegenüber auf einen Stuhl fallen.

Nachdem wir beide eine Weile auf die Türöffnung gestarrt und schweigend an unseren Flaschen genuckelt hatten, durchbrach Jan die Stille schließlich mit genau der Frage, mit der zu rechnen gewesen war.

»Sag mal, was ist eigentlich los mit dir?« Sein Gesicht trug einen Ausdruck, wie er normalerweise Menschen zu eigen ist, die in Therapieeinrichtungen arbeiten.

»Keine Ahnung«, stöhnte ich leise, während ich mir eine Zigarette aus der Packung fingerte. »Ist wohl einfach nicht mein Tag heute. Dieser Anfängerfehler vorhin hat mich völlig aus der Spur gebracht.«

»Versteh ich ja. Aber das kann doch nicht der Grund dafür sein, hier mal eben den großen Rundumschlag zu führen.«

»Nein«, sagte ich, »das liegt wohl eher an was anderem.«

Jan hakte zum Glück nicht weiter nach, setzte allerdings ein wissendes Lächeln auf. Dann sagte er: »Du solltest morgen auf jeden Fall noch mal mit Julia sprechen. Und mit Kleingeld besser auch.«

Ja, das sollte ich wohl. Sonst hatte es sich bald erledigt mit aufregenden Begegnungen im Badezimmer.

»Wie frei willst Du sein?«

[Howard Carpendale]

In Anbetracht des Bußgangs, der mir bevorstand, hatte ich es unterlassen, mir einen Rausch anzutrinken. Die Vorstellung, Julia mit einem mittelschweren Kater gegenüberzutreten, war nicht gerade stimulierend gewesen. Zwei Bier mit Jan, zwei weitere in meinem Zimmer, dann hatte ich brav das Licht gelöscht. Das Ergebnis dieser klugen, dieser zumindest theoretisch klugen Maßnahme: ein halbgarer Promille-Level, der mich nicht schlafen ließ. Stunde um Stunde wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, während meine Gedanken mal zu den Ereignissen des vergangenen Abends wanderten, mal Sätze formulierten, die Julia milde zu stimmen vermochten, mal die Antwort auf die Frage abwogen, ob ich nicht vielleicht doch noch ein Bier …

Es musste fünf oder sechs geworden sein, bevor sich die Notbeleuchtung in meinem Kopf endlich abgeschaltet hatte.

Entsprechend spät war es, als ich erwachte. Längst war die Phase des Tages angebrochen, in der man sich in einer anständigen deutschen Firma mit Mahlzeit zu begrüßen pflegt. Rasch befriedigte ich mein Verlangen nach Nikotin, dann zog ich mich an. Die Idee, mir eine weitere Kippe und damit eine Gnadenfrist zu genehmigen, verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war. Der Wunsch, die lästige Angelegenheit hinter mich zu bringen, war stärker. Und so nahm ich all meinen Mut zusammen und trat hinaus auf den Flur.

Der Rest der Wohnung empfing mich mit einer ungewohnten Stille – weder war Musik zu hören, noch Stimmengewirr, noch das enervierende Geräusch unserer für gewöhnlich in der Heavy Rotation vor sich hin rumpelnden und pfeifenden Vorkriegswaschmaschine. Offenbar war der Rest der Rasselbande ausgeflogen. Einem ersten Moment der Erleichterung folgte die Erkenntnis, dass ich die Ungewissheit und dieses flaue Gefühl, das eben jener Ungewissheit wie ein liebeskranker Sonderschüler hinterherdackelte, nun noch länger, ja, möglicherweise stundenlang mit mir herumzutragen hatte.

Als ich auf dem Weg zum Bad an Julias Zimmer vorbeikam, meinte ich hinter ihrer Tür allerdings ein Geräusch zu vernehmen. Ich presste mein Ohr ans Holz, und tatsächlich: Da war ein leises Klirren, so, als würde jemand mit Gläsern hantieren. Sie war also doch zu Hause! Das flaue Gefühl gewann an Größe. Nun gab es keinen Aufschub mehr. Oder vielleicht doch? War es nicht wesentlich cleverer, eine unverfängliche Gesprächssituation herbeizuführen? Sich beispielsweise in die Küche zu setzen und dort auf Julia zu warten? Ich könnte Brötchen holen und Kaffee kochen … Ohnehin hatte ich mich zuallererst einmal in einen halbwegs präsentablen Zustand zu versetzen, mir also wenigstens eine Berberdusche angedeihen zu lassen.

Ich hatte meinen Gehwerkzeugen gerade den Befehl erteilt, wieder Fahrt aufzunehmen, als in erschreckend geringer Entfernung plötzlich Julias Stimme erklang.

»Warte, ich hol ’ne neue«, sagte sie.

Dann wurde auch schon die Tür aufgerissen, und ich hatte alle Mühe, den entscheidenden Schritt zur Seite zu machen, um nicht umgerannt zu werden. Julia, die sich gezwungen sah, ihrerseits auszuweichen, stieß einen ärgerlichen Laut aus und blieb abrupt stehen. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine Falte, die nichts Gutes verhieß.

»Ich wollte gerade zu dir«, sagte ich schnell, bevor ihr noch der Gedanke kam, ich könne an der Pforte zu ihrem Privatgemach gelauscht haben. Verdammt, ich hatte mir noch nicht mal die Zähne geputzt!

»Ja?«

»Ich wollte … also wegen gestern …«, setzte ich an, verlor den Faden aber gleich wieder, als mir Julias Aufzug bewusst wurde.

Sie trug nichts als Slip und T-Shirt und hielt eine leere Sektflasche in der Linken. Und dann gab sie, während ich dieses Bild noch einzuordnen versuchte, plötzlich den Blick auf ihr Bett frei. Und in diesem Bett saß, den freien Oberkörper an die Wand gelehnt, ein Sektglas in der Hand … Lasse!

Aber das konnte nicht sein. Lasse stand doch auf Männer. Zumindest hatte Jan das erwähnt. Und der kannte Lasse schließlich schon länger. Oder war Lasse vielleicht bi?

»Ja?«, sagte Julia wieder.

Ich war nicht der Lage, meine Verwirrung zu verbergen: »Sollte Lasse nicht im Krankenhaus sein?«

»Ah, du wolltest mit mir über die nachlassende Arbeitsmoral im Gesundheitswesen sprechen«, gab Julia belustigt zurück. Und dann etwas weniger sarkastisch: »Lasse macht blau.«

Der Simulant prostete mir fröhlich zu: »Gastritis.«

»Ach so … ja, das ist natürlich, äh …« Ich wandte mich wieder an Julia: »Eigentlich wollte ich mich bei dir wegen gestern Abend entschuldigen. Ich habe mich da irgendwie in Rage geredet. Warum, kann ich gar nicht sagen. Was ich aber sagen kann, ist, dass so etwas nie wieder vorkommen wird. Nie wieder. Versprochen!«

»Deine Versprechungen kannst du dir erst mal sonst wohin schieben«, entgegnete Julia, sah dabei aber längst nicht so verstimmt aus, wie es ihre Worte hätten vermuten lassen. »Es geht doch hier einzig und allein um die Frage, ob du hinter dem stehst, was wir wollen. Falls ja, müssen wir über gestern Abend kein Wort mehr verlieren. Falls nein, sollten wir besser getrennte Wege geh’n. Denn eins brauchen wir ganz bestimmt nicht, und das ist Unentschlossenheit.« Damit ließ sie mich stehen, um endlich die leere Flasche gegen eine volle auszutauschen, die sie dann gleich gemeinsam mit Lasse …

»Hey, ich bin entschlossen!«, rief ich ihr hinterher, während ich wie ein Drogenopfer auf ihre sich wiegenden Hinterbacken starrte. Und dann, mehr zu mir selbst: »Ich bin fest entschlossen.«

Nachdem Julia in der Küche verschwunden war, begab ich mich ins Bad, klappte die Klobrille hoch und entleerte meine Blase im Stehen – ein Vergnügen, das ich mir schon lange nicht mehr gegönnt hatte.

Als ich danach erneut an Julias Zimmer vorbeikam, war die Tür wieder verschlossen. Von drinnen waren Musik und unangenehm vertrauliches Gekicher zu hören. Ich zog mir die Jacke an und schlüpfte in meine Adidas Allround. Ich brauchte frische Luft.

Ich besorgte mir beim Bäcker einen Kaffee, ließ mich auf einer der Bänke nieder, die den – heute wohltuend unbelebten – Kinderspielplatz säumten, und überdachte meine Lage: Jan hatte ich, was die Teilnehmerliste für den großen Hahnenkampf betraf, natürlich von Anfang an auf dem Zettel gehabt. Schließlich war er aus demselben Grund in die WG gezogen wie ich. Auch Kleingeld war zweifelsohne in Julia vernarrt. Allerdings gestand ich ihm aufgrund seines Äußeren eher geringe Chancen auf den Turniersieg zu. Er war nicht nur mit einer Figur gestraft, die sich zuallererst durch einen gewaltigen Schmerbauch auszeichnete, der von den Stelzen eines Bulimikers getragen wurde, sondern auch derart schlampig gekleidet, dass er Julias Anforderungsprofil unmöglich entsprechen konnte. Was nützt das teuerste Mob-Action-Jöppchen, wenn es wie ein blutverkrusteter Leichensack am Leib hängt?! Demgemäß war ich bisher von einem lockeren Dreikampf ausgegangen, der sich eher früher als später zum Duell verschlanken würde. Dass nun Lasse die Schar der Anwärter verstärkte, ja, offenbar schon einen Vorrundenentscheid gewonnen hatte, versetzte mich in nicht geringe Aufregung.

Aber Halt! Nur ruhig. Vielleicht pflegten Julia und Lasse ja nur eine ganz eigene Form der Freundschaft, eine, die ein gewisses Maß an körperlicher Nähe nicht ausschloss. Und wenn nicht? Wenn nicht? Nun, wenn da doch mehr stattfand, würde ich mich eben doppelt ins Zeug legen müssen.

Keineswegs entspannt ob dieser Aussicht, erhob ich mich und begann ziellos durch die Straßen zu streifen. Immer wieder schob sich dabei die Szene aus dem Flur hinter meine Pupillen, und ich hörte mich selbst, wie ich Julia voller Pathos meine uneingeschränkte Loyalität versicherte. Was dieses Dilemma betraf, war die Lösung zum Glück eine leichtere. Zwar würde ich mich hüten, meine innersten Überzeugungen zu verraten. Und natürlich würde ich mich auch weiterhin an sämtlichen Diskussionsprozessen innerhalb unseres Quintetts beteiligen – wenn auch vielleicht etwas zurückhaltender. Zukünftige Aktionen allerdings sollten ab sofort meine vorbehaltlose Unterstützung genießen.

Für den Fall, dass sie meinen politischen Ansichten noch einmal zuwiderliefen, hatte ich mir in der zurückliegenden Nacht bereits einen simplen Kniff zurechtgelegt: Ab sofort würde ich alles, was wir taten, unter der Rubrik Freizeit und Abenteuer verbuchen. In der genormten Gesellschaft stellte ja schon das kleinste Aufbegehren gegen die staatliche Ordnung einen Akt der – wenn auch temporären – Freiheit dar, den es unabhängig vom sonstigen Nutzen zu feiern galt. Außerdem war das Leben kurz und die Liebe gewiss wichtiger als sture Prinzipienreiterei.

Unterdessen hatten mich meine Schritte in die Nähe der Morbus Hansen geführt. Und obwohl ich nun wirklich jeden Grund gehabt hätte, mein Heil im Vergessen zu suchen, konnte ich der Verlockung nicht widerstehen, kurz am Tatort vorbeizuschlendern. Vielleicht hatte ja ein übereifriger Hausmeister meinem jämmerlichen »Graffito« schon den Garaus gemacht.

Leider war dem nicht so. Zwar waren die Scheiben bereits notdürftig mit Klebeband stabilisiert worden. Die fünf zusammenhängenden Lettern, die mein ganz persönliches Versagen dokumentierten, leuchteten allerdings nach wie vor in einem grellen Rot, das an die Wangen eines Harlekins erinnerte. Verpi verkündeten sie dem aufmerksamen Flaneur – was ja nichts anderes heißen konnte als Verpickelte Teenager mit sexuellen Problemen haben versucht, dieses Geschäft mit einer ihrer albernen Parolen zu verunstalten, mussten sich am Ende aber dem eigenen Analphabetismus geschlagen geben.

Ich wäre dem Schandmal am liebsten selber zuleibe gerückt, zur Not mit den Fingernägeln. Da mir das aus naheliegenden Gründen versagt war, meldete sich der für Frustbewältigung zuständige Teil meines Gehirns mit einem anderen Vorschlag. Er forderte jählings Bier ein. Und damit lag er – wie so häufig – goldrichtig: Ein kleiner Tröster aus der Flasche war nun wahrlich das Mindeste, was ich mir gönnen durfte.

Am Ende der Straße gab es einen Imbiss namens Astrids Aalverwandtschaften. Und den steuerte ich jetzt an. Da konnte ich die Freuden, die ein kaltes Holsten zu bereiten vermochte, gleich noch mit den Wonnen einer Portion Fischfrikadellen multiplizieren.

Ich war derart auf die schnelle Befriedigung meiner oralen Sehnsüchte fixiert, dass ich der restlichen Gästeschar erst Beachtung schenkte, nachdem ich dem sympathischen Muttchen mit der vorbildlich besudelten Kittelschürze, das ja nur Astrid selbst sein konnte, euphorisch meine Bestellung ins Ohr trompetet hatte. Viel los war ohnehin nicht: Ein Pärchen in den Fünfzigern, das sich schweigend eine Portion Labskaus teilte, und ein junger, leicht heruntergelebter Bursche, der mich anstarrte, als hätte er den Leibhaftigen persönlich vor sich, während er gleichzeitig versuchte, einen sogenannten Riesenknacker in seiner Jackentasche verschwinden zu lassen … Kleingeld! Was machte der denn hier?

Nun, das war ja allzu offensichtlich. Ich schob mich an den Stehtisch, an dem er lehnte, und schenkte ihm ein breites Lächeln.

»Na, schmeckt’s?«

»Ich war schnorren«, kam es ohne direkten Bezug zu meiner Frage aus Kleingelds Mundhöhle zurück, in der hektisch letzte Schweinefleischbrocken zermalmt wurden.

Eine Aussage, die vielleicht darauf hinweisen wollte, dass das ketzerische Tun, dessen Zeuge ich hier wurde, seinen Ursprung in der harten Fron des Geldverdienens hatte. Mir war das herzlich egal. Hauptsache, der Sünder fühlte sich ertappt, ergab sich doch dadurch die für mich strategisch günstige Gelegenheit, ihm einen Beweis meines Großmuts zu liefern.

»Keine Sorge«, sagte ich also, »du kannst dein Stück Aas ruhig wieder aus der Tasche holen. Ich bin ja auch nicht nur wegen der Beilagen hier.«

Das schien den Verängstigten ein wenig zu beruhigen. Er brachte den phosphathaltigen Prengel wieder zum Vorschein, zögerte aber noch, hineinzubeißen.

Ich nahm einen Schluck Bier und schielte zum Tresen, um zu sehen, was meine Bestellung machte. Dann sagte ich: »Ich wollte mich übrigens bei dir entschuldigen. Ich hätte mich gestern Abend auf keinen Fall dermaßen hinreißen lassen sollen. Aber in der politischen Auseinandersetzung verliere ich manchmal jedes Maß, weißt du.«

Kleingeld nahm den Themenwechsel mit sichtbarer Erleichterung auf.

»Kein Ding«, sagte er, während er sich mit Daumen und Zeigefinger der freien Hand ein Stückchen Pelle aus dem Oberkiefer zog, das er nach einem kurzen prüfenden Blick wieder zwischen den Lippen verschwinden ließ. »Und vielleicht hast du mit dem, was du gesagt hast, gar nicht mal so Unrecht.«

»Lass uns einfach nicht mehr davon sprechen, zumindest nicht beim Essen.«

Kleingeld nickte bedächtig und sah sich endlich in der Lage, seine Mahlzeit fortzusetzen.

Nachdem ich mir zwischenzeitlich meine Frikadellen an den Tisch geholt hatte, herrschte eine geradezu vertraute Stimmung.

»Julia war gestern echt sauer auf dich«, bemerkte Kleingeld.

»Ist mir nicht entgangen.«

»Sie hat schon darüber nachgedacht, dich rauszuschmeißen.«

»Und? Was hältst du davon?«

»Also was mich betrifft, kannst du bleiben.«

Als wir den Laden verließen, brachte Kleingeld eine Dose Pfefferminzpastillen zum Vorschein.

»Hier, für den Atem.«

Ich griff dankbar zu.

»Immer wieder kommt ein neuer Frühling«

[Peter Alexander & Heintje]

»… keine exklusiven Shopping-Gelegenheiten, keine trendy Brandstores, in denen sich ohnehin nur die bedienen können, die der Mahlstrom namens Kapitalismus seit jeher an die Oberfläche spült. Wir brauchen auch keine Wellnesstempel oder Wohlfühloasen und erst recht keine gediegene Erlebnisgastronomie. Unsere Erlebniswelten schaffen wir uns immer noch selbst. Und solange Standortlogik und Stadtmarketing-Strategien das Recht auf Wohnraum tagtäglich der Lächerlichkeit preisgeben, behalten wir uns das Recht vor, ebenfalls aktiv in die Umgestaltung unserer Umgebung einzugreifen – stellvertretend für die Vielen, die niemals eine Chance hatten, den Kampf um ein menschenwürdiges Dasein überhaupt zu beginnen. Grundbesitz vergesellschaften! Kommando Schwarzer Freitag«

Ich ließ das Blatt, von dem ich abgelesen hatte, auf die Tischplatte segeln und blickte erwartungsfroh in die Runde.

Die Begeisterung hielt sich in Grenzen.

»Schwarzer Freitag? Da fällt mir nichts zu ein … außer Robinson Crusoe natürlich.« Kleingeld wieherte, als ob ihn dieser Beleg seines Erstklässlerhumors tatsächlich begeistern würde.

Um unser gutes Verhältnis nicht gleich wieder zu gefährden, verzichtete ich darauf, ihm übers Maul zu fahren. Stattdessen sagte ich so ruhig wie möglich: »Damit ist natürlich der Zusammenbruch der Börse gemeint. Also eigentlich der Ende der Zwanziger. Aber so ein Ereignis ist ja wiederholbar.«

»Okay, ganz putzig. Aber: Kommando? Ist das nicht ein bisschen sehr dick aufgetragen?«, wandte Jan ein.

»Na, wenn wir Angst und Schrecken verbreiten wollen, sind Formulierungen, die an die Zeit des bewaffneten Kampfs erinnern, doch gar nicht das Schlechteste«, gab ich zurück.

»Ja, für den Staatsschutz vielleicht. Die warten doch nur auf so was. Und die Zeitungen sowieso.«

»Die Pfeifen vom Staatsschutz sollten, was unsere inhaltliche Ausrichtung angeht, nun wirklich die Letzten sein, die uns interessieren. Und wenn du dich an dem orientieren willst, was die Medien mögen, organisierst du vielleicht besser ’ne Lichterkette.«

Julia unterbrach unser Geplänkel.

»Also ich find’s gut. Was meinst du, Lasse?«

Was meinst du, Lasse?! Warum nicht gleich: Was meinst du, Lasse-Schatz?!

»Ich denke auch, dass wir’s so stehen lassen können. Das mit dem Kommando klingt allerdings wirklich zu abgehoben. Das sollten wir ändern. Vielleicht in Autonome Zusammenhänge

Autonome Zusammenhänge?! Jesus, wie ich diesen Ausdruck verabscheute. Natürlich bezog er sich auf Menschen, also auf einen (losen) Personenzusammenhang. Wem das allerdings nicht bekannt war (und dazu zählte sicher das Gros der Bevölkerung), konnte auf den Begriff nur mit Verwirrung reagieren. Denn Zusammenhänge hat es ja nicht wenige auf diesem Planeten. Von welchen war also hier die Rede? Etwa von dem zwischen mangelnder Hygiene und der Ausbreitung von Krankheiten? Oder dem zwischen einem katastrophalen Fernsehempfang und einer erhöhten Geburtenrate? Und was hatte schließlich der Zusatz autonom im Zusammenhang mit derlei Zusammenhängen zu bedeuten? Da hatte selbst der Kreuzworträtselfreund eine schöne Nuss zu knacken. Davon ab, klang der Begriff einfach altertümlich, genau wie Volksküche (am besten noch mit x statt sk geschrieben) oder Lauti und was da sonst noch alles an sprachlichen Blindgängern durch die Welt irrlichterte, als ob die Achtziger nie zu Ende gegangen wären. Kein Wunder, dass die hiesige Linke seit Jahren keinen Fuß mehr auf den Boden bekam. Wer schon in seiner Wortwahl eine derart strenge Traditionspflege betrieb, musste von Außenstehenden zwangsläufig als altbackener Trachtenverein wahrgenommen werden, dem beizutreten nur trüben Tassen Gewinn versprach.

Das alles hätte ich jetzt natürlich sagen können. Aber ich hielt hübsch den Mund, auch als Lasses Vorschlag unter dem zustimmenden Gemurmel der anderen angenommen wurde. Ich hatte mein Ziel längst erreicht, müßig jetzt noch über Nebensächlichkeiten zu debattieren.

Als Julia ein paar Tage zuvor laut darüber nachgedacht hatte, ob es Sinn machen würde, unsere nächsten Aktionen mit einer Art Bekennerschreiben zu unterfüttern, hatte ich mich ohne zu zögern bereiterklärt, einen entsprechenden Entwurf zu verfassen. Denn da war sie, die Gelegenheit zur allumfassenden Rehabilitation.

Eine Hoffnung, die sich bewahrheitet hatte. Ob nun Kommando Schwarzer Freitag, Autonome Fenstervorhänge oder Landschlachterei Herbert Schygalla & Söhne unter der Erklärung stand, spielte keine Rolle. Wie es auch zu verzeihen war, dass man meinen agitatorischen Fertigkeiten nicht den Tribut gezollt hatte, der ihnen doch unzweifelhaft zustand. Allein die Formulierung behalten wir uns das Recht vor, ebenfalls aktiv in die Umgestaltung unserer Umgebung einzugreifen hätte nach meinem Empfinden stehende Ovationen verdient gehabt. Eine bessere Umschreibung für die unverhohlene Androhung von Krawall ließ sich wohl schwerlich finden, oder? Na, sei’s drum. Die Erklärung selbst war akzeptiert worden. Und damit war ich wieder im Geschäft, genauer: im Rennen um die Schürfrechte auf dem steinigen Acker der Minne.

Tatsächlich gewährten mir die anderen die Teilnahme an den nächsten Aktionen mit einer Selbstverständlichkeit, als ob es mein anfängliches Versagen nie gegeben hätte. Auch in die Vorbereitungen war ich von nun an miteinbezogen. Ich gab dieses Vertrauen zurück, indem ich mich meinen Aufgaben mit der Hingabe eines Gläubigen widmete. Nach dem bewährten Muster nahmen wir uns die Filiale eines Mobilfunkanbieters vor, der wir einen hübschen Farbbeutel-Anschlag auf einen dieser Gourmettempel folgen ließen, die sich mittlerweile auch in unserer Gegend ausbreiteten wie Staphylokokken in der Latrine eines Pfadfinderlagers.

Kurz darauf erledigten wir in einer Nacht zwei Läden gleichzeitig. Kleingeld und ich brachten die Scheiben eines Maklerbüros zum Bersten, während sich Julia in Begleitung der anderen Buben noch einmal um die Klamotten-Klitsche in der Morbus Hansen kümmerte.

Auf das Mitführen von Sprühdosen wurde bei all diesen Gelegenheiten dankenswerterweise verzichtet. Dafür hatten wir ja unser Flugblatt, von dem wir stets ein paar Exemplare am Ort des Geschehens zurückließen. Jan hatte den Schrieb in der Uni-Bibliothek noch einmal abgetippt und dort auch vervielfältigt.

Wie nicht anders zu erwarten, interessierten sich die Zeitungen für den theoretischen Hintergrund unseres Wirkens jedoch herzlich wenig. Es war wie gewohnt von Chaoten und gewissenlosen Gewalttätern die Rede. Und das noch nicht mal in großer Aufmachung und nur selten bebildert. Nun, wir waren natürlich nicht die Einzigen, die es häufiger hinaus in die Nacht zog, und so hatte der Nachrichtenwert unserer und vergleichbarer Taten im Verlauf der letzten Monate naturgemäß nachgelassen. Stattdessen wurden die Schlagzeilen seit kurzem von einer anderen Form des Feierabendvergnügens beherrscht, hinter dem allerdings ebenfalls linksradikal motivierte Volksfeinde vermutet wurden: In schöner Regelmäßigkeit gingen in den frühen Morgenstunden Personenkraftwagen in Flammen auf, hauptsächlich Modelle der gehobenen Preisklasse. Und wenn es um das Wohl seines Lieblingsfetischs geht, legt der Deutsche ja bekanntlich eine Sensibilität an den Tag, der kein noch so großer medialer Aufwand gerecht werden kann.

»Warum Autos?«, fragte Jan beim morgendlichen Studium des örtlichen Boulevardblatts.

»Warum nicht?!«, lautete Lasses lapidare Antwort.

Und damit war zu diesem Thema auch schon alles gesagt.

Glaubten wir zumindest, bis wir feststellen mussten, dass das Treiben der Hassbrenner und Schizo-Zündler auch auf unser Leben erhebliche Auswirkungen hatte. Zwar war die Zivi-Dichte in unserem Viertel schon immer recht hoch gewesen. Nun aber nahm die Bullenpräsenz orwellsche Ausmaße an. Wannen und Staatsschutzschleudern, wohin das Auge blickte. Um den Feinden der Fortbewegung das Handwerk zu legen, ließen die Sicherheitsorgane immer häufiger sogar Hubschrauber in den Nachthimmel aufsteigen. Die Brandstifter störte das wenig, sie wichen einfach auf andere Bezirke aus. Wir aber sahen uns aufgrund dieser Entwicklung gezwungen, unseren stadtplanerischen Aktivitäten erst einmal eine Pause zu verordnen.

So plätscherte das WG-Leben eine Weile recht unspektakulär dahin, beschränkte sich auf gemeinsames Kochen und andere häusliche Aktivitäten, bis Julia eines Vormittags in meinem Zimmer erschien.

Ich war gerade dabei, CDs in ein Regal zu räumen, hatte ihr Eintreten nicht bemerkt und fuhr erschrocken herum, als sich mir ihre Hand auf die Schulter legte.

»Hey«, sagte sie und lächelte mich an.

Ich lächelte zurück. Und dann drückte sie mir, ohne dass sich ihr Gesichtsausdruck dabei veränderte, eine Packung Kondome in die Hand.

Eine unendliche Sekunde lang sah ich mich am Ziel all meiner Sehnsüchte. Die stummen Gebete, die ich Nacht für Nacht an den Schutzpatron der Onanisten gesandt hatte, waren endlich erhört worden. Denn was konnte diese zugegebenermaßen unkonventionelle Geste anderes bedeuten, als …

Und dann sagte Julia: »Vollmachen!« Und die Seifenblase, die sich in dem törichten Zellhaufen ausgebreitet hatte, den ich mein Gehirn nannte, zerplatzte.

»Äh, vollmachen? Aber … womit denn?«, stotterte ich, aufrichtig durcheinander, weil ich mir auf dieses Ansinnen partout keinen Reim machen konnte.

Wollte Julia Wasserbomben anfertigen und damit auf Passanten zielen? Aber um den Hahn aufzudrehen, brauchte sie ja wohl kaum meine Hilfe. Nein, sie musste etwas anderes im Schilde führen. Aber was? Vielleicht eine künstliche Befruchtung, für die sie eine Samenspende …

Julia erlöste mich aus meiner Verwirrung.

»Na, mit dem hoffentlich harnsäurereichen Inhalt deiner Blase natürlich. Weniger vornehm ausgedrückt: Du sollst die Dinger mit Pisse füllen.«

Mit den Wasserbomben hatte ich also gar nicht so falsch gelegen.

»Ah, ich verstehe. Und was machen wir, nachdem ich den hoffentlich harnsäurereichen Inhalt meiner Blase diesen Latexhüllen überantwortet habe?«

»Das erfährst du später. Wäre nur gut, wenn die Kondome nicht gleich bei der ersten Berührung platzen würden. Drittel Tennisballgröße reicht in etwa. Meinst du, du schaffst das innerhalb der nächsten zwei Stunden?«

»Ich werde mich auf nichts anderes konzentrieren, Genossin Waffentechniker.«

Und so stand ich kurze Zeit später vor der Kloschüssel – den ersten Präser etwa einen halben Zentimeter über die Spitze meines Schwanzes gezogen – und übte mich im Unterbrechen meines Harnflusses. Das gelang zuerst auch ganz gut. Als es dann aber ans Zuknoten ging – eine Tätigkeit, die mir schon als Kind das Spielen mit Ballons verleidet hatte –, ließ meine Selbstbeherrschung gewaltig nach. Schließlich sah ich mich gar genötigt, das Gefummel mit der glitschigen Hülle zu unterbrechen und mich dem (im wahrsten Sinne des Wortes) brennenden Verlangen meines Leibes vollständig zu unterwerfen. Nun konnte ich zwar das erste Kondom, das ich immer noch in der Linken hielt, in aller Ruhe mit einem hübschen Doppelknoten versehen, verfügte aber über keinerlei Möglichkeiten mehr, diesem ersten Erfolgserlebnis weitere folgen zu lassen. Ich war das Manöver deutlich zu euphorisch angegangen.

Jetzt waren Forschergeist und vor allem Bedacht gefragt. Der nächste Versuch musste gelingen. Als Erstes ging ich in die Küche und setzte eine Kanne Kaffee auf. Zusätzlich entnahm ich dem Kühlschrank einen halben Liter Pepsi.

Während ich beiden Getränken abwechselnd zu Leibe rückte, dachte ich angestrengt nach. Ich brauchte unbedingt ein paar Hilfsmittel, in jedem Fall einen Trichter. Kurz kam mir der Filter der Kaffeemaschine in den Sinn, aber selbst der größte revolutionäre Eifer sollte Grenzen kennen. Nein, es musste noch etwas anderes geben. Sorgfältig sah ich mich um, scannte die Schränke und Regale, die Ablage und den Boden … und dann hatte ich es: Natürlich! Unser Leergut!

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9783955756048
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