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Mamić spielte in seinem Post auf das Jahr 2011 an, als Hajduk nach Jahren des Missmanagements und der Korruption beinahe in die Insolvenz geschlittert wäre. Allerdings erwähnte er nicht, dass die Torcida mit einem Mamićs Profitmaximierung entgegengesetzten Modell zur Rettung des Klubs beigetragen hatte. Eine Gesellschaft namens Naš Hajduk (»Unser Hajduk«) war gegründet worden, um den Klub nach strengen, demokratisch überwachten Grundsätzen zu führen. Die Torcida erwarb Anteile des Vereins, bis sie über annähernd 25 Prozent verfügte und damit eine Kontrollfunktion ausüben konnte.

Der Leiter von Naš Hajduk und Hajduk-Fan Ivan Rilov sagte: »Das einzige Ziel, die einzige Absicht war, ein Modell durchzusetzen, das eine demokratische und transparente Führung gewährleistet. Der Aufsichtsrat wird demokratisch gewählt. Dann wählt der Aufsichtsrat den Vorstandsvorsitzenden, und der Vorstandsvorsitzende leitet den Verein.« Die Torcida hatte kein Interesse daran, selbst den Verein zu führen. Die Fanbasis sollte lediglich das letzte Wort haben, wer das tat. Rilov strich die Ehrenhaftigkeit der Fans heraus: »Letzten Sommer gab es hier in der Nähe von Split einen großen Brand. Und wer war ganz vorn dabei, um den Menschen zu helfen? Torcida. Als es vor ein paar Jahren in Nordkroatien große Überschwemmungen gab, waren die Torcida-Mitglieder sofort vor Ort. Wenn in Split ein Krankenhaus Blutspenden braucht, stehen die Torcida-Mitglieder als erste auf der Matte.«

Das neue Modell funktioniert. Inzwischen zählt die Gesellschaft 40.000 zahlende Mitglieder. Rilov erhält E-Mails und Briefe aus aller Welt, nicht nur von Fußballfans, sondern auch von Menschenrechtsaktivisten und -anwälten, die Naš Hajduk als ein rares – noch dazu erfolgreiches – kroatisches Modell ansehen, das für andere zum Beispiel werden sollte. Auch wenn es bisher dennoch nicht zu einem Meistertitel gelangt hat. Gleichzeitig zeigt die Geschichte die Janusköpfigkeit der Ultra-Bewegung. Rilov sagte: »In Split sind wir immer gegen etwas. Das ist nicht unbedingt gesund, aber manchmal kann das auch ganz nützlich sein.«

Vor dem Derby versammelten sich die Torcida-Mitglieder auf einem Platz unweit der Altstadt und erfreuten sich am Bier und ihren Gesängen. Eine wichtige Aufgabe lag bereits hinter ihnen. Sie hatten an ZOB und Bahnhof die Ausweise aller Ankommenden überprüft, damit nicht etwa einer der Bad Boys Blue auf diesem Weg in die Stadt gelangte. Von dem Platz führte der Weg nach Norden, vorbei am alten Stadion Stari plac, vorbei am Hauptquartier der Torcida, vorbei an den Grillständen mit ćevapčići, bis man zu einem kleinen Park kam, von wo man den Ausblick auf das prachtvolle Poljud-Stadion am Adriaufer genießen konnte. Das Stadion mit seinem muschelartig zweigeteilten Dach wurde von Boris Magaš entworfen und gilt als eine der letzten Perlen der jugoslawischen Architektur. Als Zeugnis des vor Titos Tod herrschenden jugoslawischen Utopismus wurde es kürzlich in einer Ausstellung im New York Museum of Modern Art präsentiert.15

Sämtliche Gebäude, Hochhäuser, Läden und Einkaufszentren auf dem Weg zum Stadion waren nicht nur mit Hajduk-Graffiti, sondern auch mit rechtsextremen Symbolen übersät, mit Hakenkreuzen, dem keltischen Kreuz, faschistischen Zahlencodes. Auf eine Wand war Nazi Ragazzi (italienisch für »Nazi-Jungen«) aufgesprüht. Hajduk mochte eine antifaschistische Tradition haben,doch im 21. Jahrhundert ist alles ein wenig komplizierter geworden. Wie viele Kroaten steht auch ein beträchtlicher Anteil der Torcida-Mitglieder der Ustascha aus nationalsozialistischer Zeit wieder wohlwollend gegenüber. Immer wieder kann man die Ustascha-Parole »Za dom spremni« (»Für die Heimat – Bereit!«) vernehmen, das kroatische Pendant zu »Sieg Heil« – insbesondere rund um das Gedenken an die Operation Sturm, die entscheidende Offensive des »Vaterländischen Krieges« für Kroatiens Unabhängigkeit, bei der Hunderte Zivilisten starben und mindestens 200.000 Serben in Todesangst flohen.16 In Kroatien wird die Operation von vielen gefeiert, in Serbien dagegen als im Grunde ungesühnt gebliebenes Kriegsverbrechen verurteilt. Ante Gotovina, einer der verantwortlichen Kommandanten, wurde zunächst vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (UN-Kriegsverbrechertribunal) zu 24 Jahren Gefängnis verurteilt, doch in der Berufungsverhandlung freigesprochen. Laut einem Ex-Torcida-Mitglied bieten die Gesänge zu Verdis »Triumphmarsch« mit dem wechselseitigen Gruß von Nord- und Westtribüne immer wieder einen willkommenen Vorwand für den Hitlergruß, da man anschließend jegliche Absicht glaubhaft abstreiten kann.

Polizisten tasteten an den Stadiontoren die Besucher grob ab. Auf der zur Haupthalle hinaufführenden Treppe sammelten mit Eimern ausgestattete Torcida-Mitglieder Spenden. Normalerweise wurde damit die Choreo finanziert, doch an diesem Tag war das Geld für eine ehemalige Klublegende gedacht. Der Mann war krank und mittellos. Die Torcida wollte 1.000 Euro zusammenbekommen, damit er dennoch Anteile am Verein erwerben konnte. Trotz der Durchsuchungen durch die Polizei waren Hunderte Bengalos ins Stadion gelangt. Nach der Choreo, nach dem Rauch und dem Feuer, stand schließlich noch ein Fußballspiel an. Es endete mit einem tristen 1:0-Sieg für Dinamo Zagreb. Der aufregendste Moment auf dem Spielfeld war noch, als Hajduks Mijo Caktaš mit einem Ellbogenschlag eine Rudelbildung sämtlicher 22 Spieler auslöste. Auch nach dem Schlusspfiff gingen die Gesänge weiter: gegen Mamić, gegen Zagreb, gegen den HNS, gegen die Serben. Gesänge gegen alles. Mit der Nordtribüne hatte die Torcida sich einen Freiraum geschaffen, dessen Regeln allein sie bestimmte. Zugleich war das, was man hier erlebte, eine flüchtige Erfahrung. Von der Choreografie über die Gesänge und Banner bis zu den Klagen über das Kapital und den Forderungen nach Gerechtigkeit war alles real. Doch kaum war die Show vorbei, trat Saison für Saison, Spieltag für Spieltag eine andere, neue Show an ihre Stelle. Jede Aktion war bereits Vergangenheit, kaum dass sie begonnen hatte. Doch jede würde eine Spur zurücklassen, den Hauch einer Erinnerung im kollektiven Gedächtnis. Wie die versteinerten Überreste eines urzeitlichen Tieres, das vergangen und vergessen sein mochte, doch dessen Umrisse sich für immer dem Gestein eingeprägt haben.

TEIL EINS: LOS PRIMEROS HINCHAS

»Sind Sie schon jemals in einem leeren Stadion gewesen? Machen Sie einmal die Probe. Stellen Sie sich mitten auf den Platz und lauschen Sie genau. Es gibt nichts volleres als ein leeres Stadion. Es gibt nichts lauteres als die Ränge, auf denen niemand steht.«

Eduardo Galeano, Der Ball ist rund und Tore lauern überall

1
Uruguay
MONTEVIDEO

Vor dem Estadio Centenario wartete nicht eine Menschenseele, dennoch öffnete das Museo del Fútbol um Punkt 10 Uhr seine Pforten. Das Stadion war 1930 für die allererste WM-Endrunde erbaut worden und hatte schon bessere Tage gesehen, doch aus der Nähe war es nach wie vor ein architektonisches Wunderwerk mit seinem geflügelten, einhundert Meter hohen Art-Deco-Turm La Torre de los Homenajes und dem abgesenkten Spielfeld in der Betonschüssel. Die Fertigstellung des Stadions hatte sich wegen sintflutartiger Regenfälle verzögert, sodass die ersten WM-Partien in anderen Stadien hatten stattfinden müssen. Doch einige Wochen nach dem geplanten Termin war es schließlich fertig, und so konnten noch eine Handvoll Gruppenspiele, beide Halbfinals und das erste WM-Finale der Geschichte zwischen Uruguay und Argentinien hier ausgetragen werden. Mehr als 60.000 Zuschauer – darunter rund 20.000 per Schiff über den Río de la Plata gekommene Gästefans – sahen den 4:2-Sieg Uruguays, nachdem das Team zur Pause noch 1:2 zurückgelegen hatte.

Dass ein Land mit gerade einmal 1,75 Millionen Einwohnern (wie Uruguay 1930) Weltmeister wird, ist normalerweise in etwa so wahrscheinlich wie ein Lottogewinn. In diesem Fall jedoch nicht. Uruguays Fußball konnte in den zurückliegenden mehr als 90 Jahren außergewöhnliche Erfolge feiern, eine Geschichte, die das Museo del Fútbol auf zwei Stockwerken des Stadionturms genauer präsentiert. Unzählige Vitrinen voller Fotografien und Devotionalien führen anschaulich vor Augen, wie ein winziges Land einen derart überproportionalen Einfluss auf die Geschichte einer weltumspannenden Sportart gewinnen konnte. In einem flachen Glaskasten im Erdgeschoss befindet sich ein zerrissenes, fadenscheiniges Exemplar der blau-weiß gestreiften Flagge Uruguays mit der charakteristischen, auf den Sonnengott der Inkas zurückgehende Maisonne in der linken oberen Ecke; eben diese Flagge hatte bei den Olympischen Spielen von Paris 1924 geweht, bei denen das uruguayische Team Gold gewann. Im Obergeschoss sind die Schuhe ausgestellt, mit denen der Mittelfeldspieler Roberto Figueroa bei den Olympischen Spielen von Amsterdam 1928 bei dem 2:1-Sieg über Argentinien im Final-Wiederholungsspiel traf.

Das Herzstück des Museums bildet ein gewaltiges zeitgenössisches Gemälde, das Vergangenheit und Gegenwart der Celeste verbindet. »Los 23 Orientales« (»Die 23 aus dem Osten«) wurde von dem uruguayischen Künstler Santiago Vecino zur WM 2018 in Russland gemalt. Das einen auf zwei Meter große Querformat gleicht einem modernen Historiengemälde. Egidio Arévalo Rios stemmt nach dem Triumph 2011 die Copa América in die Höhe, die Uruguay insgesamt bereits 15 Mal gewonnen hat, häufiger als jedes sonstige südamerikanische Land. Rechts präsentiert eine vorwärts gebeugte Figur, vermutlich Edinson Cavani, den Jules-Rimet-Pokal, den Uruguay nach 1930 ein zweites Mal 1950 durch den berühmten Triumph über Brasilien vor 200.000 Fans im Maracanã-Stadion gewann. Links wird Alvaro Pereira von zwei Mannschaftskameraden gestützt, nachdem er bei der WM 2014 in der Partie gegen England durch einen Knietreffer Raheem Sterlings ausgeknockt worden war. Uruguay entschied die Partie mit 2:1 für sich; beide Treffer erzielte Luis Suárez, aktuell der unbestritten größte Star des uruguayischen Fußballs. Selbstverständlich ist er es, der im Zentrum des Bildes die himmelblaue Fahne hält. Im Hintergrund sitzt Mannschaftskapitän Diego Godin aus unerfindlichen Gründen auf einem Schimmel, in der Hand ein mittelalterlich anmutendes blaues Banner mit vier goldenen Sternen für Uruguays zwei WM-Titel und die beiden Olympiasiege. Im Hintergrund ragen der Eiffelturm, die Erlöserstatue, das Estadio Centenario und die Moskauer Basilius-Kathedrale in den Himmel.

Lässt man das Gemälde hinter sich, folgt am Ende eines Seitenganges ein Tribut an einem Mann, dem in der Geschichte des Fußballs eine ganz andere, doch keineswegs weniger bedeutsame Rolle zukommt. Die gerahmte, im Lauf der Zeit leicht grünlich ausgeblichene Fotografie zeigt einen kräftigen Mann mittleren Alters in dreiteiligem Anzug mit Krawatte. Die Enden seines ausladenden Schnurrbarts neigen sich nach unten, sein Kinnbart ist graugesprenkelt. Das Porträt von 1905 ist leicht zu übersehen. Es zeigt Prudencio Miguel Reyes. Reyes war weder aktiver Fußballer, noch bekleidete er in einem uruguayischen Verein oder im nationalen Verband ein hohes Amt. Der Sattler war für den wenige Jahre zuvor in Montevideo gegründeten criollo (»kreolischen«) Club Nacional de Football tätig, den ersten Verein des Landes, bei dem Uruguayer, nicht Engländer, das Sagen hatten. Seine Funktion an Spieltagen war ebenso praktisch wie notwendig: Als hinchador oblag es ihm, vor und während des Spiels die schweren Lederbälle aufzupumpen. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war er aus dem Estadio Gran Parque Central nicht wegzudenken. Und er war anders als die anderen im Stadion.

Zu jener Zeit galt der Fußball in Uruguay als Kunstform, die man wie eine Oper oder ein Theaterstück genoss. Matches beim Fußball, Tennis, Polo oder sogar Kricket glichen sich mehr oder weniger. Die in Festtagsgarderobe gekleideten Zuschauer verfolgten das Geschehen im – laut Nacionals Comision de Historia y Estadistica – »klassischen angelsächsischen Stil«. Auf den Holztribünen des Parque Central ging es bei den Spielen ordentlich und gesittet zu, »das Publikum bewahrte bei den Partien eine gewisse Ernsthaftigkeit«17, außer bei einem Treffer, doch selbst dann »beschränkte sich die Beteiligung auf gedämpften Applaus oder einen Ausruf der Freude oder Enttäuschung«18.

Reyes war das vollkommene Gegenteil. Soweit bekannt, war er außerhalb des Parque Central ein stiller und zurückhaltender Mann. Doch sobald er im Stadion seinen Platz am Spielfeldrand einnahm und der Schiedsrichter die Partie anpfiff, war er wie ausgewechselt. Musste er nicht gerade einen Ball aufpumpen, tigerte er an der Seitenlinie auf und ab und feuerte die Spieler lauthals an, um sich im nächsten Moment an die Zuschauer zu wenden und sie nicht minder lautstark aufzufordern, in seine Anfeuerungen einzustimmen, bis sie schließlich von ihm angeleitet im Chor »Nacional vor, Nacional vor, Nacional vor« skandierten und die Mannschaft nach vorn peitschten. Bei den ersten Spielen reagierten die Menschen verblüfft. Die Reporter berichteten über Nacionals El Hincha Pelotas, den Ballaufpumper, der ebenso viel zum Spektakel beitrug wie das Spiel selbst. Unbeirrt brüllte und rannte er weiter, bis er die Zuschauer auf seiner Seite hatte. Mit jedem Heimspiel schlossen sich mehr Anhänger dem Beispiel des »feisten Reyes« mit den »Salamifingern« an, wie ihn der berühmte uruguayische Autor Diego Lucero einmal beschrieb. Etwas Derartiges hatte bis dahin noch niemand gesehen. Unter dem Eindruck von Reyes begannen auch die Gästefans,ihre Mannschaft mit Sprechchören anzufeuern, um anschließend die neue Form des Supports im eigenen Stadion zu übernehmen. Der Verein bemerkt in seiner offiziellen Geschichte zu Reyes: »Bald wurden die Nacional-Anhänger, die am lautesten schrien, als hincha bezeichnet. Später dann ging der Begriff auch auf die Fans der anderen Vereine über, überquerte den Río de la Plata und ging schließlich um die ganze Welt.«

Heute werden verrückte Fußballfans in der gesamten spanischsprachigen Welt als hinchas bezeichnet. Prudencio Miguel Reyes hat niemals eine WM oder eine olympische Medaille gewonnen und starb weitgehend vergessen im Februar 1948. Noch nicht einmal seine Grabstätte ist bekannt. Doch seine bis dahin unbekannte Form der Unterstützung der eigenen Mannschaft erwies sich als revolutionär. Sie trug maßgeblich dazu bei, die imaginäre vierte Wand der Fußballbühne zu durchbrechen, und veränderte dauerhaft das Verhältnis zwischen Zuschauern und Spielern. Die Fans verharrten nicht länger in der Passivität. Sie waren von der Kette gelassen und verbreiteten den Virus ihrer Leidenschaft. Prudencio Miguel Reyes war der Patient null: der erste barra brava, der erste torcedore, der erste Ultra, der erste Fan, El Primer Hincha.

Ich hatte mir Mikael größer vorgestellt. Wir hatten uns mehrere Wochen auf WhatsApp über unsere bevorstehende Reise ausgetauscht, und vereinbart, uns im 12.000 Kilometer entfernten Montevideo zu treffen, um den uruguayischen clásico zwischen Nacional und Peñarol zu verfolgen. Mikael ist einer der bestvernetzten Protagonisten der europäischen Ultra-Szene, ein Schwede, der zu Beginn der 1990er-Jahre bei seinem Klub Hammarby die erste Ultra-Gruppierung des Landes gegründet hatte. Auch wenn sein Herz Hammarby gehört, war ihm stets bewusst gewesen, dass die Welt sehr viel größer ist. Er hatte mir erzählt, wie er 1978 als Neunjähriger gebannt das WM-Finale zwischen Argentinien und den Niederlanden verfolgt hatte – nicht etwa wegen des Spiels, sondern wegen des blau-weißen Konfettigestöbers, das von den Rängen auf den Rasen des Estadio Monumental in Buenos Aires niederging. Eine solche Atmosphäre hatte er irgendwie auch in Hammarby erschaffen wollen. Er war um die Welt gereist, ausgiebig in andere Fußballkulturen eingetaucht und mit seinen Eindrücken im Gepäck nach Schweden zurückgekehrt. Tiefe Freundschaften verbanden ihn unter anderem mit den Roma-Ultras, denen von Rapid Wien oder den Griechen von Panathinaikos. Doch der eigentliche Grund für unseren Kontakt war, dass er ein Jahr unter den argentinischen barras bravas verbracht hatte, insbesondere bei der barra der Boca Juniors, der womöglich berüchtigsten Fangruppierung der Welt, La Doce (»Die Zwölf«), die ihren Namen der Tatsache verdankt, dass sie Bocas zwölfter Mann ist.

Die Grundpfeiler der globalen Ultra-Bewegung sind einerseits Vertrauen, andererseits Misstrauen. Kein Ultra vertraut einem Journalisten, doch unter den Gruppierungen besteht weltweit ein inoffizieller Ehrenkodex. Sofern sich jemand für einen verbürgt, stehen einem alle Türen offen. Wenn nicht, bleiben sie verschlossen. Wie bei den europäischen Ultras und Hooligans war es auch bei den barras bravas außerordentlich schwierig, Gesprächspartner zu finden. Diese organisierten Fangruppierungen werden oftmals als die südamerikanische Variante der Ultras bezeichnet. Ihre ersten Vorläufer tauchten in den 1920er-Jahren in Argentinien auf und breiteten sich von dort schon bald über den gesamten spanischsprachigen Subkontinent aus. In den barras versammeln sich die heißblütigsten hinchas eines Vereins, ihnen verdankt sich die einzigartige Atmosphäre in den südamerikanischen Stadien, die weltweit ihresgleichen sucht und den Stadionbesuch zu einem einzigartigen Erlebnis macht. Doch zugleich haben die barras auch eine finstere und gewalttätige Seite und den Schritt von der ritualisierten Fußballgewalt zum organisierten Verbrechen vollzogen. In Argentinien und Uruguay kontrollieren die äußerst mächtigen barras sämtliche Geschäfte rund um das Stadion, von den Parkplätzen über Tickets und Drogen bis zu den Imbiss- und Fanartikelständen. Die Begegnung Nacional gegen Peñarol gehört zu den größten clásicos Südamerikas – und zu den gewalttätigsten. Doch während in Argentinien die Gewalt derart eskaliert war, dass seit sechs Jahren keine Auswärtsfans mehr zugelassen waren, konnte Nacionals barra La Banda del Parque das Spiel vor Ort im Stadion verfolgen. Mikael würde mein Fremdenführer, Mittelsmann und, so hatte ich gedacht, Bodyguard sein.

Mikael ging auf die 50 zu und war rund 30 Zentimeter kleiner als ich. Er hatte einen langen Pferdeschwanz und einen Rauschebart. Sein hellblaues West-Ham-United-Shirt mit dem Aufdruck »Cockney Rejects« verdeckte nur unzureichend seine Tattoos. Gleich mehrere zogen sich über Hals und Nacken, darunter ein großer rosa Kussmund. An anderen Stellen seines Körpers hatte er – neben Hammarby, natürlich – die Klubs verewigt, zu denen er im Lauf der Jahre freundschaftliche Bande geknüpft hatte und die ihn bei seinen Besuchen am meisten beeindruckt hatten: Roma, Rapid Wien und natürlich die Boca Juniors. Ein Tattoo am Bein zeigte Andy Capp, einen politisch inkorrekten britischen Cartoonhelden, der weltweit zu einem Symbol der Ultra-Bewegung avanciert ist. Über Mikaels Bauchpartie zog sich in großen Lettern der Schriftzug ULTRAS.

»Hey, Kumpel«, begrüßte er mich herzlich und mit leichtem Cockney-Akzent. Ein Freund hatte sich dafür verbürgt, dass er kein Psychopath war. Genau genommen war er ein pazifistischer, Death Metal hörender Ultra, der kein Interesse an der gewaltsamen Seite der Szene hatte. Er hatte schlechte Neuigkeiten für mich. Der uruguayische clásico war von einem Tag auf den anderen abgeblasen worden. Und La Banda del Parque hatte dringendere Probleme. »Einer der Anführer der barra sitzt im Knast, weil er jemanden umgebracht haben soll«, teilte Mikael mir nüchtern mit. Er zweifelte an dem Vorwurf. »Ich vermute mal, es geht um Macht und Geld, wie immer in Südamerika.«

Der Fall war entsetzlich. Sechs Wochen zuvor waren die Leichen von zwei Männern – Mitglieder von La Banda del Parque – in einem ausgebrannten VW-Lieferwagen im Stadtbezirk Tres Ombues gefunden worden. Einen Monat darauf waren drei andere Mitglieder der barra verhaftet worden, einer von ihnen auf dem Flughafen von Montevideo, als er von Nacionals Copa-Libertadores-Auswärtsspiel bei Atlético Mineiro aus Brasilien zurückgekehrt war. Zu Beginn der gerichtlichen Anhörungen hatte einer der Anwälte der Angeklagten erklärt, dass sein Mandant von Nacional pro Spiel 40.000 uruguayische Pesos (gut 830 Euro) erhalte – dafür, dass er Banner und Trommeln organisiere und die hinchas in Zaum halte.19 Der Verein stritt das ab, dennoch war das ein Skandal, weil sich viele Uruguayer in ihrer Vermutung bestätigt sahen, dass die Klubs sich nach wie vor mit Jobs und Tickets das Wohlwollen der barras erkauften. Uruguay ist das wohlhabendste und sicherste Land Südamerikas, dennoch sind auch dort in und vor den Stadien Dutzende Menschen gestorben. Eine Zäsur hatten die Schüsse auf zwei Peñarol-Fans vor dem clásico 2016 dargestellt. Einer von ihnen hatte eine Niere verloren, der andere war einen Monat darauf seinen Verletzungen erlegen. Die Liga war unterbrochen und ein Dutzend Mitglieder von La Banda del Parque verhaftet worden. Der darauffolgende clásico im Centenario war kurzfristig abgesagt worden, da Mitglieder von Peñarols Barra Amsterdam Gasflaschen auf Polizisten geworfen hatten; es hatte 150 Verhaftungen gegeben. Die Regierung hatte ein entschiedenes Vorgehen gegen die Vereine angekündigt, sollten diese weiterhin enge Beziehungen zu den barras pflegen. Die Polizei wiederum hatte erklärt, keine Beamten mehr in die Stadien zu entsenden; die Vereine sollten selbst für die Sicherheit aufkommen. Wie die Ermittlungen in dem Fall der beiden Leichen in dem ausgebrannten Transporter zeigten, pflegten die Vereine dennoch weiterhin enge Beziehungen zu den barras. Vor dem uruguayischen Parlament warnte der Sicherheitsbeauftragte des nationalen Fußballverbands, Rafael Peña, die barras seien zu »wahrhaften Kartellen geworden, die sich sogar Kämpfe wegen ihrer Reviere und der kriminellen Machenschaften, in die sie verwickelt sind, liefern«. Jeder Versuch, gegen ihre Geschäfte vorzugehen, würde »immer und ausnahmslos Erpressungen nach sich ziehen«.20

Die Nacional-Fans hingegen suchten, wie immer, Zuflucht zu einer Verschwörungstheorie. Die offizielle (und einigermaßen haarsträubende) Begründung des Verbands für die Verschiebung des anstehenden clásico lautete, dass vier Nacional-Fans, darunter ein zehnjähriges Mädchen, am Verbandssitz gegen die Schiedsrichterleistung bei der vorangegangenen Begegnung protestiert hatten. Nach Überzeugung der Fans zeigte das nur die verzweifelte Suche des Verbands nach einem Vorwand, um die Austragung des clásico an jenem Wochenende zu verhindern, in erster Linie, da Peñarol in der Copa Libertadores das letzte und entscheidende Gruppenspiel gegen Flamengo aus Brasilien bevorstand. Peñarol sollte nun in einem halbleeren Estadio Centenario gegen River Plate Montevideo spielen und Nacional später am Abend im Parque Central gegen Progreso. Es war dunkel und schüttete wie aus Kübeln, als Mikael und ich am Stadion ankamen. Hier hatte das allererste WM-Spiel der Geschichte stattgefunden: USA gegen Belgien (parallel zu der Partie Frankreich gegen Mexiko im mittlerweile abgerissenen Estadio Pocitos, Peñarols einstiger Heimat). Mikael verfügte über einen schier unerschöpflichen Vorrat an Hammarby-Stickern, mit denen er Laternenmasten und Straßenschilder pflasterte: »Barra Brava Hammarby«, »Love Football, Hate Cops« und Andy Capp im grün-weißen Dress von Hammarby. Ein einsamer Posaunist spielte sich vor der Westtribüne, dem Revier von La Banda del Parque, warm. Die Mitglieder der barra zogen mit Trommeln und anderen Schlaginstrumenten in ihren Block ein. Lediglich der untere, nicht überdachte Rang war gefüllt. Dutzende blau-weiß-rote Banner und Fahnen trugen etwa die Aufschrift »Nacional, wir geben unser Leben für dich« oder wurden von einem überdimensionalen Hanfblatt und dem kreisförmigen Schriftzug Piedras Blancas (»Weiße Steine«, ein Stadtteil Montevideos) geschmückt, außerdem zog sich ein Banner mit der Aufschrift »La Primer Hinchada del Mundo« (»Die erste Fangruppe der Welt«) auf halber Höhe über die gesamte Breite des Ranges. Die Fans begannen zu singen und zu hüpfen und hörten nicht mehr auf, noch nicht einmal in der Halbzeitpause, als ihr Team bereits 3:0 führte. Im Mittelkreis wartete der Schiedsrichter auf zwei Bereitschaftspolizisten in voller Montur mit Helmen und Schilden, die die Spieler und Unparteiischen vom Feld geleiteten, obwohl nichts auf mögliche Krawalle hindeutete. Pablo von Nacionals vereinseigenem TV-Sender erklärte, dass schon seit Monaten Spannungen in der Luft lägen, daher wolle man kein Risiko eingehen.

Die Partie endete 4:0, und die kleine Kohorte der La Banda del Parque sang auch nach dem Schlusspfiff unentwegt weiter.

Wohlan, Trikolore,

Heute müssen wir gewinnen.

El Primer Hincha,

Er kam, um euch zu unterstützen.

Mir ist vollkommen gleich,

Wo ihr spielt,

Denn wo auch immer ihr seid,

Werde ich euch unterstützen.

Nacional, ich gehe überall mit euch hin.

Nacional, ich will euch als Champions sehen.

Im Estadio Gran Parque Central wurde nicht nur der Begriff des hincha geboren, der Ort war auch der Schauplatz einer Reihe bedeutender und gelegentlich makabrer Momente der uruguayischen Geschichte. Nacionals verantwortlicher Historiker Ignacio Pou erklärte mir auf dem Rasen des nunmehr leeren Parque Central: »Miguel Reyes’ Geist spukt hier noch herum. So wie viele andere Geister.« Das Stadion sei an eben der Stelle errichtet worden, an der 1811 der Revolutionsheld und Unabhängigkeitskämpfer José Gervasio Artigas, der sein Leben dem Kampf gegen das koloniale Streben Spaniens, Portugals und Großbritanniens gewidmet hatte, zum Führer der Uruguayer ausgerufen worden war. Nacional hatte bei der Gründung 1899 die von Artigas populär gemachten Farben Blau, Weiß und Rot übernommen und damit den Grundstein für die ewige Rivalität mit Peñarol gelegt.

In dem Buch Golazo erklärt der uruguayische Autor Andreas Campomar: »Mein Vater war Fan von Nacional, die in dem Blau, Rot, Weiß unseres nationalen Befreiungshelden José Artigas aufliefen. Dagegen schloss ich mich Peñarol an, einem Arbeiterverein, der im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts als Central Uruguay Railway Cricket Club gegründet wurde.« Laut Campomar hüllten sich die Nacional-Anhänger in ihr vermeintlich einzigartiges Uruguayertum und verhöhnten Peñarol als Klub der Ausgeschlossenen und Einwanderer. »So kam es zu Peñarols Spitznamen mangare merda (›Scheißefresser‹).« Peñarols Fans erledigten die Jobs, die sonst niemand machen wollte, und entschärften die gegen sie gerichteten dünkelhaften Spitzen, indem sie sich diese kurzerhand aneigneten.

Im April 1920 duellierten sich in dem Stadion der vormalige uruguayische Präsident José Batlle y Ordóñez und der Journalist und Politiker Washington Beltrán. Batlle hatte in seinen beiden Amtszeiten entscheidend an der Einführung eines Sozialstaats in Uruguay mitgewirkt und insbesondere Arbeiterrechte durchgesetzt. Doch in einem Schmähkommentar hatte Beltrán ihn als »Meister des Betrugs« bezeichnet. Batlle verlangte, die Geschichte mithilfe eines Duells im Parque Central zu klären, und Beltrán ließ sich darauf ein. Die New York Times berichtete: »Die Duellanten trafen sich in strömendem Regen auf einem Fußballfeld. Wegen des Regens behielten beide ihre Hüte auf, doch Beltrán tauschte seinen Strohhut gegen ein Modell aus Filz, damit die Voraussetzungen für beide gleich waren.« Der Hutwechsel sollte Beltrán nichts nützen. Beide verfehlten mit dem ersten Schuss den anderen, doch »bevor Beltrán ein zweites Mal feuern konnte, wurde er von einer Kugel aus Batlles Pistole getroffen und sank tödlich verwundet zu Boden«.21

Zwei Jahre zuvor hatte sich die wohl bemerkenswerteste Geschichte zugetragen. In ihrem Mittelpunkt stand einer von Nacionals größten Spielern. Abdón Porte war ein harter, doch zugleich kultivierter Mittelläufer und von 1911 bis 1918 sieben Saisons lang Nacionals Kapitän. Wegen seiner indigenen Herkunft erhielt er den Spitznamen El Indio, doch während im brasilianischen und argentinischen Fußball der Zeit noch komplizierte ethnische Hierarchien herrschten, stand Porte in Uruguay der Weg nach ganz oben offen. Er absolvierte mehr als 200 Partien und wurde viermal Meister. Doch 1918 erlitt er im clásico gegen Peñarol eine schwere Knieverletzung. Da Auswechslungen noch nicht erlaubt waren, wurde Porte einfach nach vorne beordert. Nacional siegte mit 4:2, allerdings erholte Porte sich nie mehr vollständig von der Verletzung und Nacional musste ihn ersetzen. Das letzte Mal lief er bei einem 3:1-Sieg gegen Charley auf. Trotz einer guten Leistung betrat Abdón Porte später am Abend ein allerletztes Mal den Rasen des inzwischen stillen und dunklen Parque Central, stapfte zum Mittelkreis und schoss sich mit einem Revolver ins Herz. Man fand ihn am folgenden Morgen, zwei Abschiedsbriefe in seinem Hut. Der eine lautete:

Nacional,

Obwohl zu Staub verwandelt,

Und im Staub auf ewig geliebt,

Werde ich nie auch nur einen Moment vergessen,

Wie sehr ich dich geliebt habe.

Leb wohl.22

Die uruguayischen Profis erschienen geschlossen bei Portes Beerdigung, und der Trauerzug soll eine Länge von 15 Kilometern gehabt haben. Mehr als 100 Jahre danach schmückte sein Gesicht ein Banner auf der nach ihm benannten Westtribüne des Parque Central, zusammen mit dem Schriftzug Por la Sangre de Abdón (»Für Abdóns Blut«). Porte ist zu einem Symbol für die bedingungslose Hingabe geworden, die von den Zuschauern erwartet wird.

Der Fußball trug entscheidend zur Entwicklung der uruguayischen Identität bei. So ließ das Land zum Beispiel laut Pou als erstes in Südamerika ausdrücklich »dunkelhäutige Spieler im Fußball« zu. Das kleine Land war durch Sklaverei und die Einwanderungswellen aus Europa ausgesprochen multikulturell, zugleich war es umgeben von weit mächtigeren Nachbarn mit kolonialen Ambitionen. Pou sagte: »Fußball war der Kitt, der die Nation vereinte. Als vergleichsweise junges Land waren wir zwischen Brasilien und Argentinien eingeklemmt. Doch Fußball? Durch ihn hatten wir das erste Mal das Gefühl, dass es etwas gibt, was unser ist. […] Er veränderte die uruguayische Gesellschaft.«

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