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DIE RÖMISCHE MEDIZIN DES GALEN (200 N. CHR.)

Die Verbindung von medizinischer Theorie und medizinischer Praxis, die mit Hippokrates begann, wurde als Dogmatismus bekannt.22 Gleichwohl spaltete sich der Dogmatismus in Alexandria in zwei Parteien. Die eine bildete sich bei den Nachfolgern von Erisastratos aus, die ihre Philosophie der Medizin auf anatomische Daten gründeten. Die andere bildete sich unter den Nachfolgern des Herophilos aus, die ihre Philosophie auf klinische Daten gründeten.23

Keine Partei im Alexandria dieser Zeit war in der Lage, die Denkschulen darüber zu versöhnen, wie der Körper funktioniert und entsprechend die beiden behaupteten Ursachen von Krankheit und Gesundheit zu versöhnen. Mit Claudius Galen erhielt die Medizin einen ‚Zweiten Vater der Medizin‘ und gelangte zu einer Versöhnung von theoretischem und klinischem Wissen, die 18 Jahrhunderte stabil blieb.

Galen wuchs in Pergamon in Kleinasien auf und studierte am dortigen Asklepeion (bzw. dem Aeskulapischen Tempel), ein Ort der Gesundheit, der viele reisende Patienten anzog. Galen studierte Anatomie und Physiologie in Smyrna, Korinth und Alexandria, bevor er die verwundeten Gladiatoren in Pergamon versorgte. Hier kombinierte er Theorie und Praxis, die Lehren von Erasistratos und Herophilos:24

„Als Arzt der Gladiatoren war er zumeist als Chirurg tätig. Dabei entwarf er vorgeblich neue [klinische] Methoden (z. B. tränkte er in Fällen ernster Verletzung die Verbände mit Rotwein, um die Entzündung zu vermindern). Doch er achtete scharf auf ähnliche Fälle, die er zu seinem anatomischen und physiologischen Wissen hinzufügen konnte. Er nutzte sorg fältig seine Beobachtung von Athleten, was Ernährung und körperliche Übungen betraf.“25

Mit anderen Worten bemerkte Galen, dass die Ansätze von Erasistratos und Herophilos nicht in einem kontradiktorischen Verhältnis zueinander standen, sondern in unterschiedlichen Weisen nützlich waren, da sie aus verschiedenen Perspektiven entwickelt worden waren.

Galens Berufserfolg führte ihn nach Rom als Arzt des Kaisers Mark Aurel. Dabei konnte er fast seine gesamte Zeit darauf verwenden, seine vielen Bücher zu schreiben. Insofern er sein großes theoretisches Wissen in Anatomie und Physiologie mit seinen intensiven klinischen Erfahrungen bei den Gladiatoren kombinierte, drehten sich seine Bücher um die Konzepte von Struktur und Funktion des Körpers:

„Das harmonische Wirken der organischen Funktionen gibt es jedoch nur, wenn die materielle Struktur normal ist […] Organerkrankungen sind durch Veränderungen der Struktur verursacht […]26„Die Anwendung dieser allgemeinen Ideen auf die Theorie der Gesundheit und Krankheit verlangte […] nach direkter Erforschung der Struktur und Funktionen des menschlichen Körpers.“27

Galen nahm wie Hippokrates an, dass die vier Körpersäfte verschiedene Typen von Personen hervorbrachten. Er wollte ebenso vorhersagen, was als nächstes geschehen werde, d. h.: es ging um eine genaue Prognose. Gleichwohl führten ihn sein anatomisches Wissen und sein logischer Verstand dazu, eine solide Fundierung für Prognosen zu suchen. Daher begründete er seine Prognose mit der klinischen Diagnose.28 Er lehrte, dass die abschließende Diagnose durch den Ausschluss von Möglichkeiten erreicht werden solle. Auf diese Weise schrieb Galen seine Bücher, indem er die Prognose mit der Diagnose verband. Obgleich er in manchen Einzelheiten falsch lag, schenkte er der Welt eine Philosophie der Gesundheitsfürsorge, die sich als so nützlich erwiesen hat, dass sie bis zu diesem Tag den Hauptansatz der medizinischen Praxis bildet.

DIE PERSISCHE MEDIZIN DES AVICENNA UND DIE SPANISCHE MEDIZIN DES MAIMONIDES (1100 N. CHR.)

Avicenna forschte in der Bibliothek des Sultans von Bukhara in Persien. Er war ein Arzt von großer Bildung, der Organisationsstrukturen der muslimischen Religion entwickelte, indem er die aristotelische Ethik auf die Lehren des Qur’an (Koran) anwendete. Dies regte einen anderen Arzt, Maimonides aus Cordoba in Spanien an, ähnliche Strukturen bzw. Prinzipien für die jüdische Religion zu entwickeln, wobei er ebenfalls die aristotelische Ethik verwendete. Weiterhin – nachdem das Werk von Maimonides in die lateinische Sprache übersetzt wurde – entwickelte Thomas von Aquin Prinzipien für die christliche Religion, die auf der aristotelischen Ethik basierten. Auf diese Weise besitzen nun drei größere Weltreligionen ein gemeinsames Substrat an ethischen Prinzipien. Können wir ein gemeinsames Substrat an medizinischen Prinzipien besitzen?

Die Tatsache, dass Avicenna und Maimonides Philosophen und Ärzte waren, sollte nicht überraschen, weil sie beide Galen sehr bewunderten, der zum Studium der Philosophie ermutigte. Ihre philosophische Neigung ermöglichte ihnen, in ihren Büchern medizinische Wirkungen mit Ursachen zu verbinden. Die Verbindung von Ursache und Wirkung wird sich als bedeutsam erweisen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ihrer Arbeiten besteht darin, dass sie Körper und Seele in ihre medizinischen Überlegungen einbezogen. Maimonides wurde dazu durch seinen Lehrer Averroës gebracht, der ihn ebenfalls über die Werke von Avicenna belehrte. In der Tat enthielt die muslimische Medizin durch ihren Versuch, klinische Wirkungen mit diagnostischen Ursachen zu verbinden, die Anfänge einer allgemeinen Philosophie der Gesundheitsfürsorge.

Avicennas Mammut-Enzyklopädie Canon medicinae besteht aus fünf Büchern, die nach ihrer Übersetzung in die lateinische Sprache über mehrere Jahrhunderte an christlichen Universitäten der medizinischen Lehre zugrunde lag.29 Allein sein Umfang machte das Werk zur Autorität. Doch dies könnte auch eine weitere Entwicklung verhindert haben. Der Westen musste auf unabhängige Denker wie Leonardo da Vinci († 1519) warten, um die Anatomie des Canons herauszufordern, obgleich viel davon offensichtlich falsch war. Paracelsus († 1544) verbrannte sein Exemplar des Canons öffentlich in Basel. William Harvey stellte 1628 fest, dass der Abschnitt über den Blutkreislauf falsch war. Zur Zeit von Thomas Syndenham († 1689) bezogen sich viele medizinische Lehrer nicht auf muslimische Ärzte.30 Gleichwohl brachten diese Philosophen und Ärzte die Lehren von Hippokrates, Aristoteles und Galen nach Westeuropa und verschafften den folgenden Generationen Anhaltspunkte, die erforderlich waren, die grundlegenden Geheimnisse der Wissenschaften vom Menschen zu lüften.

DIE FORMULIERUNG VON THEORIEN

An dieser Stelle müssen wir die Lehren über die Formation von medizinischen Theorien bekräftigen. Dies wird uns bei der folgenden Analyse jüngerer Theorien hilfreich leiten.

Die erfolgreichen Theorien der Vergangenheit erforderten einen Menschen, der eine induktive Einsicht hatte, um eine Schlüsselbeziehung zu entdecken. So kann es sich um eine Beziehung zwischen Pulstypen und Organfunktionen oder zwischen Persönlichkeitstypen (Körpersäften) und Krankheit, darüber hinaus zwischen Diagnose und Krankheit handeln. Jemand musste eine bestehende Veränderung zwischen zwei Sachverhalten bemerken: zwischen einem potenziellen Maß und einem körperlichen Problem.

Der zweite Schritt, den wir in unserem historischen Bericht beobachtet haben, bestand in der Formulierung eines Modells bzw. eines einfachen Wegs um die oben dargestellten Beziehungen auszudrücken. Das Modell kann in einer Sprache über Pulstypen bestehen wie ‚Weiden-Brise‘ oder in klinischen Beobachtungen, wie in den Büchern des Hippokrates bzw. in Struktur-Funktion-Interaktionen, wie sie Galen darstellt. Ein Modell ermöglicht es einer Sprache, ein Maß mit einem Phänomen zu verbinden.

Der dritte Schritt bei der Formation einer erfolgreichen Theorie in der Vergangenheit schien darin zu bestehen, dass Lehren gezogen und Voraussagen zukünftiger Entwicklungen ermöglicht wurden (Prognose). Als wichtigster Faktor erwies sich dabei die Fähigkeit zu lernen, wenn wir jemals das Wissen verbessern und vermehren wollen.

ZUSAMMENFASSUNG

Während des Berichts über antike Methoden erkannten wir einen wiederholten – wenn auch unbewussten – Gebrauch der Autosuggestion bzw. des heute so genannten Placebo-Effekts. Dabei bestand bei vielen Beispielen der Gesundheitsfürsorge eine Verbindung des Körpers mit mentalen Prozessen und dem Geist. Dieser holistische Ansatz wurde in der äskulapischen Tradition am deutlichsten. In den Schriften früherer Entwickler von Konzepten der Gesundheitsfürsorge erkannten wir verschiedene Versuche, körperliche Maße mit körperlichen Funktionen zu verbinden. Dies wurde im letzten Abschnitt über die Formulierung von Theorien zusammengefasst. Insbesondere Hippokrates und Galen verbanden körperliche Strukturen und Funktionen, darunter innere Einstellungen und körperliche Funktionen.

Aristoteles wurde aufgrund seines Beitrags zur wissenschaftlichen Methode und wegen seiner Versöhnung von vier Vorgängertheorien über Veränderung und Ursache dargestellt:

1. PYTHAGORAS – die Formen der Veränderung

2. THALES – das Material der Veränderung

3. HERAKLIT – die ‚Macher‘ der Veränderung

4. PLATO – die Ziele der Veränderung

Im nächsten Kapitel stellen wir Beispiele biologischer Theorien in den jüngsten Jahrhunderten dar. Die Beispiele unterscheiden sich von der üblichen Bezugnahme, insofern einige berühmte Individuen betrachtet werden. Diese schwer verständlichen, aber wesentlichen Einsichten waren bei den Jahrtausende übergreifenden Integrationen einer weithin unbekannten Arbeit eines Arztes im Amerikanischen Mittleren Westen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts grundlegend. Wir werden ihm und seinen außergewöhnlichen Synthesen im nächsten Kapitel begegnen.


KAPITEL 2
DIE JÜNGSTEN JAHRHUNDERTE DER MEDIZIN UND GESUNDHEITSFÜRSORGE

„Das Wesen der Wahrheit besteht darin, dass sie bloß erscheinen möchte.“

Thomas Paine

Dieses Kapitel diskutiert zusammenfassend die Einsichten einiger Individuen in den letzten beiden Jahrhunderten. Manche Ausführung mag etwas knapp erscheinen. Zusammen werden sie uns jedoch zu einem allgemeinen Verständnis der Gesundheitsfürsorge führen.

RUSH AUS DEN VEREINIGTEN STAATEN (1800)

Dr. Benjamin Rush gilt als ‚Hippokrates von Amerika‘ und als ‚amerikanischer Galen‘. Doch seine Ausführungen sind quantitativ und qualitativ erheblich begrenzter als diejenigen dieser Vorläufer. Obschon manche Menschen denken mögen, dass der Fortschritt kontinuierlich verlaufe, zeigt die Geschichte der Medizin das vorherrschende Praktiken manchmal rückschrittlich sind. Der Mangel an historischer Einsicht zwang Berufstätige gelegentlich, Fehler zu wiederholen oder im Kreis fortzuschreiten.

Rush unterzeichnete die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten und glaubte differenziert an die Freiheit:

„Die Verfassung dieser Republik sollte besondere Vorsorge für medizinische und religiöse Freiheit treffen. Die Einschränkung der Praxis der Heilkunst auf eine Art von Ärzten und die Verweigerung der gleichen Privilegien für andere stellt die Bastille unserer Wissenschaft dar. All diese Gesetze sind unamerikanisch und despotisch. Es handelt sich um Rudimente der Monarchie und in der Republik ist kein Platz für sie.“ 31

Rush wurde aufgrund seiner Arbeit während einer Gelbfieber-Epidemie in Philadelphia in 1762 berühmt. Er schloss jedoch aus dieser Krise, dass die Natur kontrolliert oder zumindest gelegentlich korrigiert werden musste. Diese Philosophie, wie Medizin ausgeübt werden sollte, wird noch heute von manchen amerikanischen Ärzten aufrechterhalten.

Rush arbeitete ebenfalls im Bereich mentaler Gesundheit und verband Geisteskrankheit mit Erkrankungen des Gehirns. Ironischerweise wurde er selbst 179432 der Geisteskrankheit verdächtigt. Er erregte eine Menge Opposition, als er versuchte, Reformen in Philadelphia durchzuführen. Sogar die Gesundheitsbehörde der Stadt Philadelphia beteiligte sich aktiv an der Opposition gegen ihn.33

Nach seinem Tod schätzte man Rush mehr. Obgleich er nur wenige Verbesserungen eingeführt hat, könnte er eine ‚Tendenz‘ der medizinischen Praxis etabliert haben, die jetzt noch in den Vereinigten Staaten existiert. Er ist dafür bekannt, die medizinische Begrifflichkeit zu vereinfachen. Am besten kennt man ihn wegen der Praxis der ‚Heroischen‘ oder intervenierenden Medizin. Damit ist gemeint, dass er und viele andere amerikanische medizinisch Praktizierende zur Intervention neigten, anstelle darauf zu warten, dass die Natur handele. Entweder vertrauten sie der Natur nicht oder sie waren davon überzeugt, es besser zu können.

VIRCHOW AUS DEUTSCHLAND (1850)

Die Existenz von Zellen war seit dem 17. Jahrhundert bekannt. Doch die Entwicklung neuer Mikroskope weckte neues Interesse an der Rolle der Zellen in der Gesundheitsfürsorge.34 1858 veröffentlichte Rudolf Virchow sein Buch Die Cellularpathologie in ihrer Begruendung auf physiologischer und pathologischer Gewebelehre, in dem er feststellte, dass Zellen gute Ernährung und eine gute Beseitigung des Abfalls benötigten.35 Virchow stellte eine ‚Einheit des Körpers‘ vor, in der allgemeine Gesundheit darin bestand, dass alle Körperzellen individuell gesund seien, weil sie miteinander verbunden wären.

Virchow schloss aus seinen mikroskopischen Beobachtungen von Zellen, dass die verschiedenen Bereiche jedes Gewebes von gutem Blutfluss zur Ernährung und Ausscheidung abhingen und dass verschiedene Bereiche irgendwie dazu fähig waren, aus dem Blut Substanzen aufzunehmen, um Material zur Reparatur zu gewinnen. Virchow schloss, dass eine dysfunktionale Zelle den Beginn der Krankheit markiere.36

PASTEUR AUS FRANKREICH (1850)

Louis Pasteur war ein Chemiker, der die Prozesse der Entwicklung verschiedener Arten von Bier und Wein erklärte. Er erfand eine Methode, Milch vor dem Verderben zu bewahren (Pasteurisierung). Er rettete die Seidenraupen-Industrie. Zudem entwickelte er Wege, wie mit Milzbrand und Tollwut verfahren werden konnte. Sein Buch über Gärung (1857) wurde zur Basis einer neuen Philosophie der Medizin und der Gesundheitsfürsorge.

Man bat ihn zu untersuchen, warum Alkohol aus Rübensaft oft verseucht war. Er benutzte ein Mikroskop und entdeckte Hefe, dazu eine Substanz, die später als Bakterien erfasst wurde. Er fand heraus, dass die Hefe, wenn sie gedreht wurde, Licht polarisierte, ein Zeichen für Stereoisomere, die ausschließlich in lebenden Substanzen vorkamen. Wie später erklärt wurde, entdeckte Pasteur, dass Hefen pflanzenähnlich und Bakterien tierähnlich sind, wie sich die mikroskopische Flora und Fauna aufdrängt.37

Die weiteren Experimente Pasteurs ergaben, dass er die Menge von Hefe und Bakterien kontrollieren konnte, indem er die Umgebung von Säure, Hitze, Licht usf. kontrollierte. Daher schmecken verschiedene Biere und Weine unterschiedlich. Sie gären (balanciert) in unterschiedlichen Umgebungen, die verschiedene Mengen an Hefe und Bakterien hervorbringen. Dies führt zu Geschmacksdifferenzen.38

Pasteur verstand, dass Gärung als Atmung ohne Luft betrachtet werden konnte. Dies eröffnete eine Möglichkeit, um Krankheit von Tieren zu erklären.39 Pasteur lernte von seinem Rivalen Claude Bernard, dass der Körper ein ökologisches Gleichgewicht (ein inneres Milieu) brauchte, um verschiedene biotische und chemische Interaktionen kontrollieren zu können.40 Daraus entsteht die Schlüsselfrage für die Gesundheitsfürsorge, wie eine gesunde körperliche Umgebung (Terrain) aufrechterhalten werden kann, um die mikroskopische Flora und Fauna in Balance und unter natürlicher Kontrolle zu halten.

Zurzeit befolgen die meisten Mediziner Pasteurs Arbeiten über Bakterien und andere Keime. Sie übersehen freilich seinen Rat zur Balance ihrer Zahl im körperlichen Terrain. So haben wir nun eine Gruppe von ‚Mikroben-Jägern‘ anstelle von ‚Mikro-Ökologen‘. Unsere Aufmerksamkeit gilt dem Töten statt dem Kontrollieren der Keime.

DARWIN AUS ENGLAND (1850)

Charles Darwins Schriften über die Evolution und die natürliche Selektion erbauten die Bühne für einen neuen Sinn dafür, wie die Natur funktioniert. So war Darwin der Überzeugung, dass die natürliche Selektion allen biologischen und medizinischen Wissenschaften als Mechanismus zugrunde lag.41 Darwins Buch Der Ursprung der Arten war am ersten Tag ausverkauft, als es 1859 veröffentlicht wurde.42 Die meisten Kommentatoren seines Buches haben sich auf die (Jahrtausende dauernden) Langzeit-Effekte der natürlichen Selektion bzw. inneren Optimierung, die Organismen vollziehen, konzentriert. Gleichwohl erkannte Darwin auch Kurzzeit-Wirkungen, die aus laufenden, alltäglichen Anpassungen entstanden:

„Man darf sagen, dass die natürliche Selektion dabei ist, täglich und stündlich zu untersuchen […] Dabei weist sie zurück, was schlecht ist, erhält und vermehrt all das, was gut ist. Es handelt sich um ein stilles und unmerkliches Wirken – wann immer und wo immer sich Möglichkeiten ergeben – an der Verbesserung jedes organischen Wesens bezogen auf seine organischen und anorganischen Lebensbedingungen.“43

2002 erklärte Stephen Gould, PhD, von der Harvard University die zentrale Stellung der Interaktion von Struktur und Funktion in der Evolution in seinem Buch Die Struktur der Evolutionären Theorie:

„Um die Quellen des kreativen evolutionären Wandels durch Verschmelzung der positiven Zwänge struktureller […] Pfade, die der Anatomie und Entwicklung von Organismen innewohnen, […] mit der externen Führung der natürlichen Selektion (dem funktionalistischen Ansatz) zu erklären, [benötigt man] ein interaktives Modell.“44

Goulds Erklärung stellt eine Resonanz der Ansätze von Erasistratos (innewohnende, anatomische Strukturen) und Herophilos (externe, klinische Funktionen) und ihrer unterschiedlichen Versuche dar, körperliche Wirkungsweisen zu erklären. Genau wie Galen die beiden Denkschulen des Erasistratos und Herophilos mittels einer Erklärung im zweiten Jahrhundert n. Chr. versöhnte, indem er eine Interaktion von Struktur und Funktion unterstellte, werden wir als nächstes betrachten, wie ein Mann namens Still die Einsichten von Virchow, Pasteur und Darwin verband.

STILL AUS DEN VEREINIGTEN STAATEN (1900)

Andrew Taylor Still gründete 1892 einen neuen Typ medizinischer Schulen in Kirksville, Missouri. Zurzeit ist das Kirksville College of Osteopathic Medicine (KCOM) Teil der A. T. Still University (ATSU). Die Motivation, die Schule zu gründen, entstand bei einem Besuch von William Smith, der seinen medizinischen Grad an der Edinburgh University erworben hatte, die damals eine der hervorragendsten medizinischen Schulen darstellte. Nachdem er einen großen Teil des Tages damit verbracht hatte, Still bei der Behandlung von Patienten und der Erklärung seiner Theorien zu beobachten, sagte Smith:

„Es ist Ihnen gelungen das zu entdecken, nach dem alle [medizinischen] Philosophen in 2000 Jahren gesucht und es nicht gefunden haben!“45

Darauf bot Still Smith an, ihm seine Prinzipien und Techniken, die er als Osteopathie bezeichnete, zu lehren. Im Gegenzug sollte Smith den Studierenden an seiner neuen Schule Anatomie lehren. Als Kollegen für Smith stellte er einige Personen ein, darunter einen Dr. med. von der Harvard University, einen gleichwertigen Dr. med. von der Glasgow University, dazu einen Dr. phil. von der Columbia University. Bei dem Letzteren handelte es sich um John Martin Littlejohn (möglicherweise der Dekan), der gleichfalls medizinische und juristische Grade erworben hatte. Still sagte, sein Buch Die Philosophie der Osteopathie solle

[…] der Welt einen Start in die Philosophie ermöglichen, der ein Leitfaden für die Zukunft sein kann.“46

„Mein Ziel besteht darin, den Osteopathen zu einem Philosophen zu machen und ihn auf dem Felsen der Vernunft zu platzieren. Dann muss ich mich nicht darüber beunruhigen, wie ich in meinen Schriften Details über konkrete Behandlungen eines Organs des menschlichen Körpers darlege. Denn der Osteopath kann aufgrund seines Wissens erkennen, was Veränderungen aller Art in Form und Bewegung hervorgerufen hat [Struktur und Funktion].“47

Still war davon überzeugt, dass der Mensch in sich alle Heilmittel besaß, um Gesundheit aufrechtzuerhalten:

„Wenn alle Teile des menschlichen Körpers an ihrem Platz sind, haben wir vollkommene Gesundheit erreicht. Ist dies nicht der Fall, dann ist die Wirkung Krankheit. Wenn die Teile wieder zur Ordnung zurückgeführt sind, tritt Gesundheit an die Stelle der Krankheit.“ 48

Da Still behauptet hat, er habe alle früheren medizinischen Philosophen einschließlich der Griechen gelesen49, können wir ziemlich sicher sein, dass er die Werke von Hippokrates und Galen gelesen hatte. Beide waren von den inneren Kräften der Heilung überzeugt und allgemein davon, dass die Strukturen in Ordnung sein müssen, damit die Funktionen in Ordnung sind. Als Wilborn Wilson, DO, einst Still besuchte, beobachtete er, dass dieser Rudolf Virchows Buch über die Zelle las. Still war von Virchows Beobachtung fasziniert, dass die Gesundheit des Körpers von der Gesundheit der einzelnen Zellen bestimmt sei, die wiederum davon abhängt, wie gut die Zellen ernährt sind und den Abfall beseitigen können. Daher erkannte Still, wie bedeutend der ungehinderte Fluss in den Systemen des Blutkreislaufs, der Lymphe und der Nerven ist.50

Still teilte Deason bei derselben Gelegenheit mit, wie nützlich er die Theorie (Pasteurs) der Fermente und der Gärung fand.51 Still unterstellte, dass ökologische Strukturen dazu genutzt werden können, um zu erklären, warum eine Person gesund bleibt, während eine andere sich eine Krankheit zuzieht: Dies ist der Fall, wenn nämlich die Zellen nur dazu in der Lage sind, zu fermentieren, aber nicht den Abfall zu beseitigen. Die ‚Struktur‘ einer Zelle besteht nach Still in einem lebendigen, dynamischen System, das in Ordnung ist, wenn angemessene Inputs und Outputs bestehen, sofern der Körper als Ganzer funktionieren kann. Daher schätzte Still die Bedeutung der Wiederherstellung der Körperflüsse und der Nervenkommunikation hoch ein:

„Dr. Still entdeckte, dass eine Manipulation der Wirbelsäule und der davon abhängenden Gewebe bestimmte überraschende und besondere Reaktionen hervorruft. Dies war auffallend der Fall, wenn an der Wirbelsäule irgendeine sichtbare oder tastbare Unregelmäßigkeit, Dysfunktion bzw. Deflektion bestand.“ 52

Anders als frühere medizinische Philosophen, die schlicht Modelle entwickelten, um körperliche Funktionen zu verstehen, entdeckte Still einen grundlegenden Weg, um die Heilungskräfte zu befreien:

„In der Osteopathie ereignete sich nicht bloß Evolution, sondern eine Revolution. Jedes frühere Behandlungssystem war primär dazu entwickelt worden, um Wirkungen zu bekämpfen. Dr. Stills große Leistung besteht in der Bestimmung der Ursache – und aufgrund des Wissens um die Ursache – in der Anwendung einer wirksamen Behandlung.“53

Stills jahrelange Praxis des Knocheneinrenkens und spinaler Manipulationen verschaffte ihm eine allgemeine ‚Landkarte‘ davon, wie die Organe des Körpers mit den verschiedenen Teilen der Wirbelsäule durch das Nervensystem und zwischen Herz und dem System des Blutkreislaufs verbunden waren. Entsprechend benutzte Still das Konzept von Struktur und Funktion, um zu erklären, wie die Strukturen von Nerven, Blutkreis und Lymphe (z. B. durch Manipulation) von Einschränkungen befreit werden mussten, um ihnen und allen verbundenen Organen eine angemessene Funktion zu ermöglichen.

Ein osteopathischer Behandler definierte Osteopathie als Teil der Evolution:

„Das grundlegende Gesetz, das jede – physische, chemische, lebende, mentale und spirituelle – Existenz reguliert, ist die Evolution. Die Evolution ist durch konstante interne Anpassung des Organismus an seine Umgebung ausgezeichnet – an die physischen, chemischen, lebenden, mentalen und spirituellen Kräfte, die auf ihm, in ihm und durch ihn spielen.“ 54

Die evolutionären Aspekte der Osteopathie wurden Still durch die Werke von Charles Darwin, Alfred Russel Wallace und Herbert Spencer vermittelt. Diese Wissenschaftler erkannten den laufenden Selbstheilungsprozess, der als natürliche Selektion bzw. Neigung alles lebendigen Seins da ist. Andrew Still nahm auf das Konzept der natürlichen Selektion häufig mittels der Worte die Natur wählt aus Bezug.55 Dieselbe allgemeine Philosophie empfing Still von seinem Vater Abram, der Arzt und methodistischer Prediger war. Die Methodisten waren davon überzeugt, dass die Selbstvervollkommnung die Pflicht jedes Menschen sei. Daher war das Konzept der Selbstheilung bzw. der Vervollkommnung der Natur eine offensichtliche Überzeugung für ihn. Tatsächlich erkannte er das Hauptprinzip der Osteopathie, als ihm blitzartig deutlich wurde, dass die Natur in jedem Moment versucht, sich zu ihrem Besten hin zu entwickeln. Wie Still sagte, erschloss sich ihm diese Einsicht am 22. Juni 1874. Diese natürliche Reaktion ist gemeinhin als natürliche Selektion, als Sich-Vollenden bzw. Selbstheilung des menschlichen Körpers bekannt.

Andrew Still brachte mithin die großen Einsichten von Virchow, Pasteur, Darwin und Hippokrates zusammen, um die folgenden grundlegenden Prinzipien zu formulieren:

1. INTERAKTIVE EINHEIT. Die verschiedenen Teile des Körpers sind miteinander (wechselseitig) verbunden. Krankheit oder Fehlfunktion in einem Teil kann die Funktion anderer Teile beeinflussen.

2. DIE INTERDEPENDENZ VON STRUKTUR UND FUNKTION. Es bestehen Interdependenzen zwischen körperlichen Strukturen und Funktionen. Das Wiederherstellen natürlicher Strukturen befördert die Funktionen. Dazu können verschiedene Typen von Funktionen die wirkenden Strukturen des Körpers beeinflussen.

3. SELBSTHEILUNGSMECHANISMEN. Der Körper besitzt eine natürliche Prädisposition zur Selbstkorrektur oder -anpassung, um natürliche Strukturen und Funktionen wiederherzustellen.

4. HOLISTISCHE BEHANDLUNG. Alle genannten Grundprinzipien sollten beachtet werden, um umfassend in der Analyse und deswegen wirksam bei der Behandlung vorgehen zu können.

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22 декабря 2023
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183 стр. 6 иллюстраций
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9783941523753
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