Читать книгу: «Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens», страница 5

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»Ich verstehe, Sie wollen den mystischen Nimbus nicht zerstören,« versetzte der Bürgermeister mit etwas pedantischer Geringschätzung. »Aber wir haben größere Pflichten gegen den Mitmenschen als gegen das Unikum Caspar Hauser. Lassen Sie sich das ernstlich gesagt sein, lieber Professor. Es erscheinen heutzutage keine Engel mehr und wo Unrecht geschehen ist, muß Sühne sein.«

Daumer zuckte die Achseln. »Glauben Sie denn, daß Sie damit etwas zum Heile Caspars tun?« fragte er mit einem Ton von Fanatismus, der dem Bürgermeister lächerlich erschien. »Nur Erdenschwere und Erdenschmutz heften Sie ihm an. Schon jetzt erhebt sich ja ein Gezänke um ihn, daß mir mein Anteil an seiner Sache verbittert wird. Es werden böse Geschichten zutage kommen.«

»Das sollen sie; wenn sie nur zutage kommen,« erwiderte Binder lebhaft. »Im übrigen tue jeder, was seines Amtes.«

Am nächsten Vormittag stellte sich der Bürgermeister in Daumers Wohnung ein und sie gingen mit Caspar zur Burg hinauf. Herr Binder läutete an der Pförtnerwohnung; der Pförtner kam mit einem großen Schlüsselbund und geleitete sie hinüber.

Als sie vor dem mächtigen zweiflügeligen Tor standen, war es, als ob sich Caspars Gesicht plötzlich entschleiere. Er reckte sich auf, sein Oberleib bog sich nach vorn und er stammelte: »So eine Tür, genau so eine Tür.«

»Was meinst du, Caspar, was schwebt dir vor?« fragte der Bürgermeister liebevoll.

Caspar antwortete nicht. Mit gesenktem Auge und nachtwandlerischer Langsamkeit schritt er durch die Halle. Die beiden Männer ließen ihn vorangehen. Immer nach ein paar Schritten blieb er stehen und sann. Seine Erschütterung wuchs zusehends, als er die breite Steintreppe hinaufstieg. Oben blickte er sich seufzend um; sein Gesicht war bleich, die Schultern zuckten. Daumer hatte Mitleid mit ihm und wollte ihn seiner Hingenommenheit entreißen, doch wie er zu sprechen begann, sah ihn Caspar mit einem fernweilenden Blick an, lispelte: »Dukatus, Dukatus« und lauschte dabei, als wolle er dem Wort einen heimlichen Sinn abhorchen.

Er gewahrte die lange Reihe der Burggrafenbildnisse an den Wänden, er schaute durch die Flucht der offenen Säle, er stand in der Galerie und schloß die Augen, und endlich, auf eine leise Frage des Bürgermeisters, wandte er sich um und sagte mit erstickter Stimme, es sei ihm so, als habe er einmal ein solches Haus gehabt, und er wisse nicht, was er davon denken solle.

Der Bürgermeister sah Daumer schweigend an.

Nachmittags suchten sie Herrn von Tucher auf und entwarfen in Gemeinschaft mit ihm den Bericht an den Präsidenten Feuerbach. Das ausführliche Schreiben wurde noch selbigen Tags zur Post gegeben.

Sonderbarerweise erfolgte darauf weder ein Bescheid noch überhaupt ein Zeichen, daß der Präsident das Schriftstück erhalten habe. Der Brief mußte verloren gegangen oder gestohlen worden sein. Baron Tucher ließ unter der Hand und auf privatem Weg bei Herrn von Feuerbach anfragen, und man erfuhr wirklich, daß dieser von nichts wisse. Unruhe und Bestürzung bemächtigte sich der drei Herren. »Sollte da ein unsichtbarer Arm im Spiel sein wie bei jenem Zettel, den man mir ins Fenster geworfen hat?« meinte Daumer ängstlich. Nachforschungen bei der Post hatten kein Ergebnis, und so ward der Bericht zum zweitenmal abgefaßt und durch einen sicheren Boten dem Präsidenten persönlich eingehändigt.

Feuerbach erwiderte in seiner kategorischen Art, daß er die Sache im Auge behalten wolle und sich aus naheliegenden Gründen einer schriftlichen Meinungsäußerung enthalte. »Ich entnehme aus dem Gesundheitsattest des Amtsarztes, worin bei einem sonst befriedigenden Befund von Caspars bleicher Gesichtsfarbe die Rede ist, daß es dem jungen Menschen an regelmäßiger Bewegung in freier Luft fehlt,« schrieb er; »hier ist Abhilfe dringend nötig. Man lasse ihn reiten. Es ist mir der Stallmeister von Rumpler dortselbst empfohlen worden. Hauser soll dreimal wöchentlich eine Reitstunde bei ihm nehmen, die Kosten soll der Stadtkommissär auf Rechnung setzen.«

Vielleicht waren es die Träume, die Caspar blaß machten. Fast jede Nacht befand er sich in dem großen Haus. Die gewölbten Hallen waren von silbernem Licht durchflutet. Er stand vor der geschlossenen Tür und wartete, wartete ...

Endlich eines Nachts, die dämmernden Räume des großen Hauses dehnten sich schweigend und leer, tauchte vom untersten Gang her eine schwebende Gestalt auf. Caspar dachte zuerst, es sei der Mann im weißen Mantel; aber als die Gestalt näherkam, gewahrte er, daß es eine Frau war. Weiße Schleier umhüllten sie und flogen bei den Schultern durch den Hauch eines unhörbaren Windes empor. Caspar blieb wie festgewurzelt stehen; sein Herz tat ihm wehe, als hätte eine Faust danach gegriffen und es gepackt, denn das Antlitz der Frau zeigte einen solchen Ausdruck des Kummers, wie er ihn noch an keinem Menschen bemerkt. Je näher sie kam, je furchtbarer schnürte sein Herz sich zusammen; ernst schritt sie vorbei; ihre Lippen nannten seinen Namen, es war nicht der Name Caspar, und doch wußte er, daß es sein Name war oder daß ihm allein der Name galt. Sie hörte nicht auf, denselben Namen zu nennen, und als sie schon wieder in weiter Ferne war und die Schleier wie weiße Flügel um ihre Schultern flatterten, hörte er immer noch den Namen; da wußte er, daß die Frau seine Mutter war.

Er wachte auf, in Tränen gebadet; und als Daumer kam, stürzte er ihm entgegen und rief: »Ich hab’ sie gesehen, ich habe meine Mutter gesehen, sie war es, sie hat mit mir gesprochen!«

Daumer setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in die Hand. »Sieh mal, Caspar,« sagte er nach einer Weile, »du darfst dich solchen Wahngebilden nicht gläubig hingeben. Es bedrückt mich aufrichtig und schon lange. Es ist, wie wenn jemand in einem Blumengarten lustwandeln darf und, statt freudigem Genuß sich zu überlassen, die Wurzeln ausgräbt und die Erde durchhöhlt. Versteh mich wohl, Caspar; ich will nicht, daß du auf das Recht verzichtest, alles zu erfahren, was auf deine Vergangenheit Bezug hat und auf das Verbrechen, das an dir verübt wurde. Aber bedenke doch, daß Männer von reicher Erfahrung, wie der Herr Präsident und Herr Binder, dafür am Werke sind. Du, Caspar, solltest vorwärts schauen, dem Lichte leben und nicht der Dunkelheit; im Lichte ruht dein Dasein, dort ist das Glück. Jeder Mensch von Vernunft kann, was er will; tu mir die Liebe und wende dich ab von den Träumen. Nicht umsonst heißt es ja: Träume sind Schäume.«

Caspar war bestürzt. Der Gedanke, daß in seinen Träumen keine Wahrheit sein solle, wurde ihm zum erstenmal entgegengehalten, aber zum erstenmal war die eigne Gewißheit von einer Sache fester als die Meinung seines Lehrers. Das zu empfinden, bereitete ihm keine Genugtuung, sondern Bedauern.

Religion, Homöopathie, Besuch von allen Seiten

So war es Dezember geworden und eines Morgens fiel der erste Schnee des verspäteten Winters.

Caspar wurde nicht müde, dem lautlosen Herabgleiten der Flocken zuzuschauen; er hielt sie für kleine beflügelte Tierchen, bis er die Hand zum Fenster hinausstreckte und sie auf der warmen Haut zerrannen. Garten und Straße, Dächer und Simse glitzerten, und durch das Flockengewühl kroch lichter Nebeldampf wie Hauch aus einem atmenden Mund.

»Was sagst du dazu, Caspar?« rief Frau Daumer. »Erinnerst du dich, daß du mir nicht glauben wolltest, als ich dir einmal vom Winter erzählte? Siehst du, wie alles weiß ist?«

Caspar nickte, ohne einen Blick von draußen zu wenden. »Weiß ist alt,« murmelte er, »weiß ist alt und kalt.«

»Um elf Uhr hast du Reitstunde, Caspar, vergiß es nicht,« mahnte Daumer, der in seine Schule ging.

Eine überflüssige Sorge; das vergaß Caspar nicht, allzulieb war ihm schon das Reiten geworden seit der kurzen Zeit, wo er damit begonnen.

Er liebte Pferde, war ihm doch ihre Gestalt gar sehr vertraut. Es kam vor, daß abendliche Schatten als schwarze Rosse vorüberstürmten, erst am feurigen Rand des Himmels Halt machten und ihn mit zurückschauendem Blick aufforderten, sie in die unbekannte Ferne zu geleiten. Auch im Wind sausten Rosse, auch die Wolken waren Rosse, in den Rhythmen der Musik hörte er das taktbemessene Traben ihrer Hufe, und wenn er in glücklicher Stimmung an etwas Edles und Vollkommenes dachte, sah er zuerst das Bild eines stolzen Rosses.

Beim Reitunterricht hatte er von Anfang an eine Gewandtheit gezeigt, die das größte Erstaunen des Stallmeisters erregt hatte. »Wie der Bursche sitzt, wie er den Zügel hält, wie er das Tier versteht, das muß man sich anschauen,« sagte Herr von Rumpler; »ich will hundert Jahre in der Hölle braten, wenn das mit rechten Dingen zugeht.« Und alle, die etwas von der Sache verstanden, redeten ähnlich.

Ei, wie selig war Caspar beim Trab und Galopp! Dies Ziehen und Fliehen, dies leichte Getragensein, hinaus und vorwärts, dies sanfte Auf und Ab, das Lebendigsein auf Lebendigem!

Wenn nur nicht die Leute so lästig gewesen wären. Beim ersten Ausritt mit dem Stallmeister wurden sie von einem ganzen Pöbelhaufen verfolgt und selbst gesetzte Bürger blieben stehen und lachten erbittert vor sich hin. »Der versteht’s,« höhnten sie, »der hat sich ein Bett gemacht, so muß man’s anfangen, damit einem warm wird.«

Auch heute war solch ein unbequemes Aufsehen. Der Himmel hatte sich geklärt und die Sonne schien, als sie durch die Engelhardtsgasse ritten. Eine Rotte von Knaben zog hinter ihnen drein und rechts und links wurden die Fenster aufgerissen. Der Stallmeister gab seinem Tier die Sporen und trieb Caspars Pferd mit der Peitsche an. »Man kommt sich ja, parbleu, wie ein Zirkusreiter vor,« rief er zornig.

Sie sprengten bis zum Jakobstor. »He! Holla!« rief da eine Stimme, und aus einer Seitengasse kam, ebenfalls zu Pferde, Herr von Wessenig auf sie zu. Rumpler begrüßte den Offizier und der Rittmeister gesellte sich an Caspars Seite.

»Prächtig, lieber Hauser, prächtig!« rief er mit übertriebener Verwunderung, »wir reiten ja wie ein Indianerhäuptling. Und das alles hat man erst bei den braven Nürnbergern gelernt? Nicht zu glauben.«

Caspar hörte nicht den verfänglichen Unterton der Rede; er blickte den Rittmeister dankbar und geschmeichelt an.

»Aber denk dir, Hauser, was ich heute bekommen habe,« fuhr der Rittmeister fort, den es juckte, mit Caspar einen Spaß zu haben. »Ich hab’ etwas bekommen, was dich höchlichst angeht.«

Caspar machte ein fragendes Gesicht. Vielleicht war es der edel-ruhige Ausdruck seiner Züge, der den Rittmeister zögern ließ. »Ja, ich hab’ etwas bekommen,« wiederholte er dann eigensinnig, »ein Brieflein hab’ ich bekommen.« Er hatte den einfältigen Ton, den die Erwachsenen annehmen, wenn sie mit Kindern scherzen, und der lauernde Blick in seinen Augen besagte etwa: wollen mal sehen, ob er Angst kriegt.

»Ein Brieflein?« entgegnete Caspar, »was steht denn drinnen?«

»Ja,« rief der Rittmeister und lachte knallend, »das möchtest du wohl wissen? Wichtige Sachen stehen drin, wichtige Sachen!«

»Von wem ist es denn?« fragte Caspar, dem das Herz erwartungsvoll zu pochen anfing.

Herr von Wessenig zeigte seine Zähne und stellte sich vor Vergnügen in die Steigbügel. »Nun rate mal,« sagte er, »wir wollen mal sehen, ob du raten kannst. Von wem kann das Brieflein sein?« Er zwinkerte Herrn von Rumpler verständnisinnig zu, indes Caspar den Kopf senkte.

Es quoll auf einmal Traumluft um Caspars Sinne und eine Hoffnung liebkoste ihn, die den kargen Tag verleugnete. Aus ihren Schleiern erhob sich die kummervolle Traumfrau und schwebte still vor den drei Rossen dahin. Jäh blickte er empor und sagte mit zögernden Lippen: »Ist vielleicht von meiner Mutter der Brief?«

Der Rittmeister runzelte ein wenig die Stirn, als ob es ihm bedenklich schiene, den Schabernack zu weit zu treiben, doch entäußerte er sich schnell der ernsten Regung, klopfte Caspar auf die Schulter und rief: »Erraten, Teufelskerl! Erraten! Mehr sag’ ich aber nicht, Freundchen, sonst könnt’ es mir übel bekommen.« Und mit dem letzten Wort setzte er sich fester in den Sattel und sprengte davon.

Eine Viertelstunde später kam Caspar atemlos nach Hause. Daumers saßen schon bei Tisch, sie schauten dem Ankömmling gespannt entgegen und Anna erhob sich unwillkürlich, als Caspar mit schweißbedeckter Stirne neben den Sessel ihres Bruders trat und mit gebrochener Stimme hervorjubelte: »Der Herr Rittmeister hat einen Brief bekommen von meiner Mutter!«

Daumer schüttelte erstaunt den Kopf. Er versuchte Caspar begreiflich zu machen, daß ein Mißverständnis oder eine Täuschung obwalten müsse; Mutter und Schwester unterstützten ihn darin nach Kräften. Es war umsonst. Caspar faltete flehentlich die Hände und bat, Daumer möge mit ihm zu Herrn von Wessenig gehen. Dessen weigerte sich Daumer entschieden, doch als Caspars Aufregung wuchs, erklärte er sich bereit, allein zu Herrn von Wessenig zu gehen. Er aß schnell seinen Teller leer, nahm Hut und Mantel und ging.

Caspar lief zum Fenster und sah ihm nach. Er wollte sich nicht zu Tisch begeben, ehe Daumer wieder da war. Er zerknüllte das Taschentuch in der Hand, rasch atmend starrte er gegen den Himmel und dachte: Wenn ich dich liebhaben soll, Sonne, mach, daß es wahr ist. So wurde es ein Uhr und Daumer kam zurück. Er hatte den Rittmeister zur Rede gestellt und eine heftige Auseinandersetzung mit ihm gehabt. Herr von Wessenig hatte die Sache zuerst humoristisch genommen, damit lief er aber bei Daumer übel ab, dem ohnehin das hämische Gerede, das ihm täglich zugetragen wurde, Verdruß genug erregte. Erst gestern hatte man ihm erzählt, auf einer Assemblee bei der Magistratsrätin Behold habe sich ein angesehener Aristokrat über ihn lustig gemacht als über den Meister somnambuler und magnetischer Geheimkunst, der Caspar Hauser feierlich den Zaubermantel unter die Füße breite, aber statt in den Äther zu entschweben, wie jedermann erwarte, bleibe der gute Caspar gemächlich sitzen und lasse sich ausfüttern.

Solches nagte an Daumer und er hatte es dem Rittmeister ins Gesicht gesagt, daß ihn das scheele Geschwätz der nichtstuenden eleganten Welt gleichgültig lasse. »Bin ich auch eher auf Hilfe und Zustimmung als auf Verteidigung und Abwehr gefaßt gewesen, so weiß ich doch genau, daß das erstarrte Herz von Ihnen und Ihresgleichen nicht um einen Pulsschlag gefühlvoller schlagen wird,« rief er aus. »Das aber kann ich fordern, daß man den Jüngling, der unter meinem Schutz und dem des Herrn Staatsrats steht, wenigstens mit böswilligen Scherzen verschont.«

Sprach’s und ging. Einen Freund ließ er nicht zurück.

Zu Hause ankommend und Caspars stummes Drängen wahrnehmend, sagte er mit mühsamer Milde: »Er hat dich zum Narren gehabt, Caspar. Es ist natürlich kein Wort wahr. Solchen Leuten mußt du auch nicht glauben.«

»O!« machte Caspar voll Schmerz. Dann war er still.

Erst als Daumer sich nach der Mittagsrast zum Aufbruch anschickte, entriß sich Caspar seinem Schweigen und sagte in mattem und verändertem Ton: »Der Herr Rittmeister hat also nicht die Wahrheit gesagt?«

»Nein, er hat gelogen,« versetzte Daumer kurz.

»Das ist schlecht von ihm, sehr schlecht,« sagte Caspar.

Erstaunlich schien ihm zunächst die Tatsache des Lügens, erstaunlicher noch, daß sich ein so großer Herr ihm gegenüber der Lüge schuldig gemacht. Warum hat er das mit dem Brief gesagt, grübelte er, und stundenlang war er damit beschäftigt, sich des Rittmeisters Worte immer wieder von neuem vorzusagen und sich das Gesicht zurückzurufen, in welchem, von ihm nicht gewußt, die Lüge wohnte.

Es war da etwas nicht in Ordnung. Er sann und sann und kam zu keinem Ende. Um sich auf andre Gedanken zu bringen, schlug er die Rechenfibel auf und ging an sein Tagespensum. Als auch dies nichts half, nahm er die Glasharmonika, die ihm eine Dame aus Bamberg geschenkt, und übte sich eine halbe Stunde lang in den simpeln Melodien, die er darauf zu spielen erlernt hatte.

Plötzlich erhob er sich und trat vor den Spiegel. Starr blickte er sein eignes Gesicht an: er wollte sehen, ob Lüge darin sei. Trotz der Beklommenheit, die er dabei empfand, reizte es ihn, einmal selber zu lügen, nur um zu prüfen, wie nachher sein Gesicht aussehen würde. Ängstlich schaute er sich um, blickte dann wieder in den Spiegel und sagte leis: »Es schneit.«

Er hielt das für eine Lüge, weil ja die Sonne schien.

Nichts hatte sich in seinem Gesicht verändert: man konnte also lügen, ohne daß es jemand bemerkte. Er hatte geglaubt, die Sonne würde sich verfinstern oder verstecken, aber sie schien ruhig weiter.

Am Abend kam Daumer mit einem neuen Ärger nach Hause. Von der Mutter gefragt, was es denn schon wieder gebe, zog er ein kleines Zeitungsblättchen aus der Tasche und warf es auf den Tisch. Es war der »Katholische Wochenschatz«; auf der ersten Seite stand eine Epistel über Caspar Hauser, die mit den fettgedruckten Lettern begann: Warum läßt man den Nürnberger Findling nicht der Segnungen der Religion teilhaftig werden?

»Ja, warum läßt man denn nicht?« spottete Anna.

»Und das wagt man in einer protestantischen Stadt,« sagte Daumer mit finsterem Gesicht. »Wenn diese Herren nur wüßten, was für eine unmäßige Furcht der Jüngling vor ihren Geistlichen hat. Während er noch auf dem Turm war, sind eines Tages vier zu gleicher Zeit bei ihm erschienen. Glaubt ihr vielleicht, sie hätten zu seinem Herzen geredet oder seine Andacht zu wecken gesucht? Weit gefehlt. Sie schwatzten vom Zorn Gottes und von der Vergeltung der Sünden, und als er immer furchtsamer dreinsah, fingen sie an zu wettern und zu drohen, als ob der arme Mensch am nächsten Tag zum Galgen geführt werden sollte. Zufällig kam ich dazu und forderte sie höflich auf, ihre Bemühungen einzustellen.«

Da Caspar ins Zimmer trat, wurde das Gespräch abgebrochen.

Aber der Appell des »Katholischen Wochenschatzes« verhallte nicht ungehört. »Mit der Religion ist nicht zu spaßen,« sagten die Herren auf dem Magistrat, und einer drückte sogar den Zweifel aus, ob der Jüngling überhaupt getauft sei. Darüber ward eine Weile hin und her debattiert, doch ließ man die Frage schließlich fallen und die Taufe ward als selbstverständlich angenommen, da man ja unter Christen in einem christlichen Lande lebe und der Jüngling auf keinen Fall aus der Tatarei kommen könne.

Nicht so leicht war die Entscheidung über die katholische oder evangelische Konfession. Obgleich die Pfaffen in der Stadt wenig Macht besaßen, mußte man doch die obdachlose Seele dem hungrigen Rachen Roms entreißen, anderseits war man zu zaghaft für ein rauhes Zugreifen, weil es möglich war, daß eine einflußreiche Person über kurz oder lang ein Anrecht andrer Art geltend machen konnte.

Der Bürgermeister wandte sich an Daumer und verlangte, Caspar solle einen Religionslehrer erhalten, man überlasse es Daumer, einen vertrauenswürdigen Mann zu bestimmen. »Wie wäre es mit dem Kandidaten Regulein?« meinte Binder.

»Ich habe nichts dagegen,« erwiderte Daumer gleichgültig. Der Kandidat wohnte im Daumerschen Haus zu ebener Erde und genoß den Ruf eines soliden und fleißigen Mannes.

»Wenn ich selbst auch nicht kirchlich-fromm gesinnt bin,« sagte der Bürgermeister, »so ist mir doch die modische Freigeisterei von Herzen zuwider, und ich wünschte nicht, daß unser Caspar in ein ehrfurchtsloses Weltwesen gerät. Auch in Ihrer Absicht kann das nicht liegen.«

Aha, ein Stich, dachte Daumer stillergrimmt, man beleidigt, verdächtigt mich schon wieder, ich bin niemand bequem, sehr ehrenwert, ihr Herren, sehr ehrenwert. Laut antwortete er: »Gewiß nicht. Ich habe es auch nicht fehlen lassen, in meiner Art auf ihn zu wirken. Und meine Art mag sein, wie sie will, sie ist nicht schlechter als jede andre. Leider haben mir allerhand Unberufene beständig hineingepfuscht. So war es mir in der ersten Zeit mit großer Mühe gelungen, den starren Eigensinn seines Schauens zu brechen und ihm einen Begriff von dem allmächtigen Trieb des Wachstums in der Natur zu geben. Kommt da ein Frauenzimmer an, während Caspar vor einem Blumentopf sitzt und mit seinem unschuldigen Staunen die über Nacht aufgesproßten Schößlinge betrachtet. Nun, Caspar, fragt sie einfältig, wer hat denn das wachsen lassen? Es ist von selbst gewachsen, erwidert er stolz. Aber, Caspar, ruft jene, es muß doch jemand sein, der es hat wachsen lassen? Er würdigte sie keiner Antwort mehr, aber die wohlwollende Dame ging hin und erzählte überall, Caspar werde zum Atheisten gemacht. Da hat man eben einen schweren Stand.«

»Es handelt sich doch am Ende nur darum, ihm das Gefühl einer höheren Verpflichtung einzuimpfen,« sagte Binder.

»Die hat er, die hat er, aber sein Verstand anerkennt eben in seinen Forderungen keine Grenzen und will durchaus befriedigt sein,« fuhr Daumer leidenschaftlich fort. »Gestern abend besuchten ihn zwei protestantische Geistliche, der eine aus Fürth, der andre aus Farnbach, der eine dick, der andre mager, alle beide eifrig wie kleine Paulusse. Sie machten mir erst allerlei Elogen, ich lasse sie zu Caspar hinein, und ehe man drei zählen kann, fangen sie eine Disputation mit ihm an. Ach, es war komisch, es war höchst komisch. Es kam die Rede auf die Erschaffung der Welt, und der Dicke aus Fürth sagte, Gott habe die Welt aus dem Nichts geschaffen. Und als nun Caspar wissen wollte, wie das zugegangen, stibitzten sie ihm die Erklärung vor der Nase weg, indem sie alle zwei händefuchtelnd auf ihn einredeten wie auf einen Heiden, der bei seinem Götzen schwört. Endlich beruhigten sie sich, und da sagte mein guter Caspar zutulich, wenn er etwas machen wolle, müsse er doch etwas haben, woraus er es mache, sie möchten ihm doch sagen, wie das bei Gott möglich sei. Da schwiegen sie eine Weile, flüsterten untereinander, und endlich antwortete der Magere, bei Gott sei alles möglich, weil er nicht ein Mensch sei, sondern ein Geist. Da lächelte mich Caspar an, denn er dachte, sie wollten sich über ihn lustig machen, und er stellte sich, als glaube er ihnen, was die beste Manier war, um sie loszuwerden.«

Der Bürgermeister schüttelte mißbilligend den Kopf. Daumers Sarkasmus gefiel ihm ganz und gar nicht. »Es gibt auch eine gedachtere Ansicht von Gott als die, die sich so mühelos verspotten läßt,« wandte er ruhig ein.

»Eine gedachtere Ansicht? Ohne Zweifel. Vergessen Sie nur nicht, daß die der gemeinen durch und durch widerspricht. Und wenn ich sie ihm beizubringen suche, setze ich mich Vorwürfen und Mißkennungen aus. Nächstes Jahr soll er in die öffentliche Schule gehen, für einen Menschen von wenigstens achtzehn Jahren ohnedies eine Schwierigkeit, da würden nun meine Lehren wieder zunichte gemacht und die Folge ist Konfusion. Schon jetzt fange ich an feig zu werden und speise ihn mit bequemen Antworten ab. Neulich konnte er eingetretener Augenschwäche halber nicht arbeiten, und er fragte mich, ob er von Gott etwas erbitten dürfe und ob er es dann erhalten werde. Ich sagte, zu bitten sei ihm gestattet, doch müsse er es der Weisheit Gottes anheimstellen, ob er die Bitte gewähren wolle oder nicht. Er entgegnete, er wolle die Genesung seiner Augen erbitten und dawider könne ja Gott nichts einzuwenden haben, denn er gebrauche die Augen, um seine Zeit nicht in unnützen Gesprächen und Spielereien vergeuden zu müssen. Ich sagte darauf, Gott habe bisweilen unerforschliche Gründe, etwas zu versagen, wovon wir glaubten, daß es heilsam wäre, er wolle uns oft durch Leiden prüfen, in Geduld und Ergebung üben. Da ließ er traurig den Kopf hängen. Gewiß dachte er, ich sei auch nicht besser als die Frommen, deren Gründe er nur für Ausreden nimmt.«

»Was ist jedoch zu tun?« fragte der Bürgermeister mit sorgenvoller Stirn. »Auf dem Weg des Zweifelns und Leugnens muß die Fähigkeit zum Guten verkümmern.«

»Zweifeln und Leugnen ist es wohl kaum,« versetzte Daumer unwillig. »Gott ist kein Bewohner des Himmels, er haust nur in unsrer Brust. Der reiche Geist birgt ihn im umfassenden Gefühl, der arme wird durch die Not des Lebens seiner gewahr und nennt es Glauben; er könnte es auch Angst nennen. In Schönheit und Freude gestaltet sich der wahre Gott, im Schaffen. Was Sie Zweifel und Leugnen heißen, ist das aufrichtige Zagen der ihrer selbst noch ungewissen Seele. Man gebe der Pflanze so viel Sonne, wie sie braucht, und sie besitzt einen Gott.«

»Das ist Philosophie,« erwiderte Binder, »und zudem Philosophie, die einem Alltagsmenschen wie mir frivol klingen muß. Jeder Bauer hat für seine Ernte mit Sturm und Unwetter zu rechnen, und nur ein überheblicher Mensch kann sich einfallen lassen, von selber etwas zu gelten. Doch genug davon. Waren Sie eigentlich mit Caspar schon einmal in der Kirche?«

»Nein, ich habe das bis jetzt vermieden.«

»Morgen ist Sonntag. Haben Sie etwas dagegen einzuwenden, wenn ich ihn zum Gottesdienst in die Frauenkirche mitnehme?«

»Nicht im geringsten.«

»Gut, ich werde ihn um neun Uhr abholen.«

Wenn sich Herr Binder eine sonderliche Wirkung von diesem Versuch versprochen hatte, so wurde er darin sehr enttäuscht. Als Caspar die Kirche betreten hatte und die erhobene Stimme des Predigers vernahm, fragte er, warum der Mann schimpfe. Die Kruzifixe erregten seinen tiefsten Schauder, weil er die angenagelten Christusbilder für gemarterte lebendige Menschen hielt. Beständig schaute er, beständig verwunderte er sich, das Spiel der Orgel und der Gesang des Chors betäubten sein empfindliches Ohr dermaßen, daß er die Harmonie der Klänge gar nicht spürte, und zum Schluß brachte ihn die Ausdünstung der Menschenmenge einer Ohnmacht nahe.

Der Bürgermeister sah wohl seinen Fehlgriff ein, doch ließ er nicht ab, auf einen regelmäßigen Besuch der Kirche zu dringen, obwohl sich Caspar jedesmal hartnäckig dagegen sträubte. Wenn der Kandidat Regulein Herrn Binder seine Not klagte, erwiderte dieser: »Nur Geduld, die Gewohnheit wird ihn schon zur Andacht nötigen.« – »Ich glaube nicht,« versetzte der Kandidat darauf mutlos, »gebärdet er sich doch, als ob er sein Leben lassen sollte, wenn ich ihn zum Kirchgang auffordere.« – »Macht nichts, es ist Ihr Beruf, seinen Widerstand zu brechen,« lautete der Bescheid.

Der gute, hilflose Kandidat Regulein! Ein junges Männlein, das nie jung gewesen war und dessen Gottesgelehrtentum von so dünner Beschaffenheit war wie seine Beine. Er zitterte insgeheim vor den Unterrichtsstunden, die er Caspar erteilen mußte, und sooft ihn eine Frage in Verlegenheit setzte, was gar nicht selten geschah, verschob er die Auskunft auf das nächste Mal, wobei er sich vornahm, in gewissen Büchern nachzuschlagen, um nicht gegen die Theologie zu verfehlen. Caspar wartete treuherzig, aber in der folgenden Stunde kam nichts oder wenig. Der Kandidat, der im stillen hoffte, sein Schüler habe vergessen, erschrak und wich aus. Das half nicht; der unbarmherzige Frager trieb ihn aus einer Verschanzung in die andre, bis das verzweifelte Argument aufgestellt werden mußte, es sei unrecht, über dunkle Gegenstände des Glaubens zu forschen.

Caspar lief zu Daumer und beklagte sich bitter, daß er keine Aufschlüsse erhalte. Daumer fragte, was er zu wissen begehrt habe. Er hatte zu wissen verlangt, warum Gott nicht mehr wie in früheren Zeiten zu den Menschen herabkomme, um sie über so vieles, was verborgen sei, zu belehren. »Ja sieh mal, Caspar,« sagte Daumer, »es gibt Geheimnisse in der Welt, die sich eben beim besten Willen nicht verstehen lassen. Da muß man Vertrauen haben, daß Gott eines Tages unser Herz darüber erleuchtet. Wir alle wissen ja auch nicht, woher du kommst und wer du bist, und trotzdem hoffen wir von der Gerechtigkeit und Allwissenheit Gottes, daß er uns eines Tages darüber Aufschluß gewährt.«

»Aber Gott hat doch nichts damit zu tun, daß ich im Kerker war,« erwiderte Caspar sanft, »das haben doch die Menschen getan.« Und ratlos setzte er hinzu: »So ist’s eben. Das eine Mal sagt der Kandidat, Gott lasse den Menschen ihren freien Willen, das andre Mal sagt er, Gott strafe sie für ihre bösen Handlungen. Da werd’ ich ganz zum Narren.«

Diese Unterhaltung fand an einem stürmischen Nachmittag Ende März statt und Daumer geriet durch sie in eine so trübe Stimmung, daß er eine angefangene schriftliche Arbeit nicht zu beendigen vermochte. Man raubt ihn mir, man bricht ihn mir zu Stücken, dachte er. Voll Traurigkeit nahm er ein dickes Heft zur Hand, das seine Aufzeichnungen über Caspar enthielt, und blätterte drin herum. Er schrak zusammen, als seine Schwester ziemlich hastig eintrat, noch mit Pelzkappe und Umhang, wie sie von der Straße kam. Ihr Gesicht verriet Aufregung, und sie wandte sich mit der schnell hervorgestoßenen Frage an Daumer: »Weißt du schon, was man in der Stadt spricht?«

»Nun?«

»Man erzählt sich, Caspar Hauser sei von fürstlicher Abkunft, ein beiseitegeschaffter Prinz.«

Daumer lachte gezwungen. »Das fehlte noch,« entgegnete er abschätzig. »Was denn noch alles!«

»Du glaubst nicht daran? Das hab’ ich mir gleich gedacht. Aber woher mögen solche Gerüchte stammen? Irgend etwas muß doch dahinter sein.«

»Gar nichts muß dahinter sein. Sie schwatzen eben. Laß sie schwatzen.«

Eine halbe Stunde später erhielt Daumer den Besuch des Archivdirektors Wurm aus Ansbach. Es war dies ein kleiner, etwas verwachsener Mann, der nie lächelte; es hieß von ihm, daß er sehr befreundet mit Herrn von Feuerbach und die rechte Hand des Regierungspräsidenten Mieg sei. Von ersterem bestellte er Grüße an Daumer und sagte, der Staatsrat werde in allernächster Zeit nach Nürnberg kommen, er beschäftige sich angelegentlich mit der Sache Caspar Hausers.

Nach einem kurzen, wenig belangvollen Hin- und Herreden griff der Archivdirektor plötzlich in die Rocktasche, brachte ein kleines broschiertes Buch zum Vorschein und reichte es wortlos Daumer. Dieser nahm es und las den Titel: »Caspar Hauser, nicht unwahrscheinlich ein Betrüger. Vom Polizeirat Merker in Berlin.«

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