Читать книгу: «Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens», страница 4

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Doch viel wunderbarer war zu beobachten, wie er sich gegen Metalle verhielt. Ein Herr versteckte, während Caspar das Zimmer verlassen hatte, ein Stück Kupferblech. Caspar ward hereingerufen, und alle verfolgten mit Spannung, wie er zu dem Versteck förmlich hingezogen wurde; es sah aus, wie wenn ein Hund ein Stück Fleisch erschnuppert. Er fand es, man klatschte Beifall, man achtete nicht darauf, daß er blaß war und mit kühlem Schweiß bedeckt. Nur Herr von Tucher bemerkte es und mißbilligte das Treiben.

Es hatte natürlich nicht bei diesem einen Mal sein Bewenden. Die Sache redete sich schnell herum, und das Haus wurde zum Museum. Alles, was Namen und Ansehen in der Stadt hatte, lief herzu, und Caspar mußte immer bereit sein, immer tun, was man von ihm haben wollte. Wenn er müde war, durfte er schlafen, aber wenn er schlief, untersuchten sie die Festigkeit seines Schlafes, und Daumer schwamm in Glück, wenn der Herr Medizinalrat Rehbein behauptete, eine derartige Versteinerung des Schlummers habe er nie für möglich gehalten.

Selbst gewisse krankhafte Zustände seines Körpers gaben Daumer Anlaß zur Vorführung oder wenigstens zum Studium. Er suchte durch hypnotische Berührungen und mesmeristische Streichungen Einfluß zu nehmen, denn er war ein glühender Verfechter jener damals nagelneuen Theorien, die mit der Seele des Menschen hantierten wie ein Alchimist mit dem wohlbekannten Inhalt einer Retorte. Oder wenn auch dies nichts half, wandte er Heilmittel von einer besonderen Kategorie an, erprobte die Wirkungen von Arnika und Akonitum und Nux vomica; immer beflissen, immer erfüllt von einer Mission, immer mit dem Notizenzettel in der Hand, immer in rührender Obsorge.

Was für seriöse Spiele! Welch ein Eifer, zu beweisen, zu deuten, das Sonnenklare dunkel zu machen, das Einfache zu verwirren! Das Publikum gab sich redliche Mühe im Glauben, nach allen Windrichtungen wurden die anscheinenden Zaubereien ausposaunt – nicht zum Vorteil unsers Caspar, keineswegs zu seinem Heil, wie sich bald herausstellen sollte –, aber leider gibt es überall verwerfliche Kreaturen, die noch zweifeln würden und wenn man ihnen die Skepsis überm Essenfeuer ausräuchern würde. Vielleicht wollten sie jedesmal etwas Neues vorgesetzt bekommen, schraubten ihre Erwartungen zu hoch und fanden, daß der Wundermann nur in seinen eingelernten Paradestückchen exzellierte, in denen er allerdings, so drückten sie sich aus, etwas von der Fertigkeit eines dressierten Äffchens an den Tag legte.

Mit einem Wort, das Programm wurde ein wenig einförmig, höchstens Neulinge konnten ihm noch Geschmack abgewinnen. Die andern erblickten in Daumer etwas wie einen Zirkusdirektor oder einen Literaten, der seine Freunde mit der beständig wiederholten Vorlesung eines mittelmäßigen Poems langweilt, während über Caspar sich zu amüsieren sie immerhin noch genug Gelegenheit fanden.

Oder war es nicht amüsant, wenn er zum Beispiel einen hohen Offizier tadelte, daß sein Rockkragen bestäubt war, wenn er mit dem Finger das Haupt eines ehrwürdigen Kammerdirektors berührte und mitleidig-verwundert sagte: »Weiße Haare, weiße Haare?« Wenn er während der Anwesenheit einer vornehmen Standesperson nur darauf achtete, wie diese den Stock zwischen den Fingern baumeln ließ und es auch so machen wollte, wenn er seinen Ekel gegen den schwarzen Bart des Magistratsrats Behold äußerte oder sich weigerte, einer Dame die Hand zu küssen, indem er sagte, man müsse ja nicht hineinbeißen?

Durch solche kleine Zwischenfälle hielten sie sich für belohnt. Wenn man lachen konnte, war alles gut. Hingegen Daumer ärgerte sich darüber und suchte ihm die Pflichten der Höflichkeit begreiflich zu machen. »Du vergißt stets, die Ankömmlinge zu begrüßen,« sagte Daumer. In der Tat blickte Caspar, in ein Buch oder Spiel versenkt, erst empor, wenn man ihn anrief, bisweilen, wenn er ein bekanntes oder liebgewordenes Gesicht sah, mit einem berückend schelmischen Lächeln, und fing dann ohne Einleitung an zu fragen und zu plaudern. Mochten noch so wichtige Personen zugegen sein, er verließ nie seinen Platz, ohne alle Dinge, mit denen er beschäftigt gewesen, sorgfältig in Ordnung zu bringen und mit einem kleinen Besen den Tisch von Papierschnitzeln oder Brotkrumen zu reinigen. Man mußte warten, bis er fertig war.

Er war ohne Schüchternheit. Alle Menschen schienen ihm gut, fast alle hielt er für schön. Er fand es selbstverständlich, wenn sich irgendein Herr vor ihn hinstellte und ihm aus einem bereitgehaltenen Zettel endlos viele Namen oder endlos viele Zahlen vorlas. Sein Gedächtnis ließ ihn nicht im Stich, er konnte in der gleichen Reihenfolge Namen für Namen, Zahl für Zahl, und waren es hundert, wiederholen. Am Erstaunen der Leute merkte er wohl, daß er Staunenswertes geleistet, aber kein Schimmer von Eitelkeit zog über sein Gesicht, nur ein wenig traurig wurde es, wenn immer dasselbe kam, wenn sie nie zufrieden schienen.

Er konnte es nicht verstehen, daß ihnen wunderbar war, was ihm so natürlich war. Aber was ihm wunderbar war, darum kümmerte sich keiner. Er vermochte es nicht zu sagen, es wurzelte im verborgensten Gefühl. Es war eine kaum gespürte Frage, am Morgen, beim Erwachen etwa, ein hastiges, stummes, verzweifeltes Suchen, wofür es keine Bezeichnung gab. Es lag weit zurück; es war mit ihm verknüpft und er besaß es doch nicht. Es war etwas mit ihm vorgegangen, irgendwo, irgendwann, und er wußte es nicht. Er tastete an sich herum, er fand sich selber kaum. Er sagte ›Caspar‹ zu sich selbst, aber das dort in der Ferne hörte nicht auf diesen Namen. So band sich die Erwartung an ein Äußeres; wenn die Uhr im andern Zimmer tönte, welch sonderbare Erwartung von Schlag zu Schlag! Als ob eine Mauer sich auflösen, zu Luft vergehen müßte. Die eben vergangene Nacht war voll ungreifbarer Vorgänge gewesen. Hatte es am Fenster gepocht? Nein. War jemand dagewesen, hatte gesprochen, gerufen, gedroht? Nein. Es war etwas geschehen, doch Caspar hatte nichts damit zu tun.

Unergründliche Sorge. Man mußte lernen, vielleicht wurde es dann klar. Lernen, wie alles bestand, lernen, was in der Nacht verborgen war, wenn man nicht lebte und dennoch spürte, das Unbekannte lernen, erhaschen, was so fern, wissen, was so dunkel war, die Menschen fragen lernen. Sein Eifer bei den Büchern wurde glühend. Er begann Ungeduld zu zeigen, wenn er von den fremden Besuchern sich immer wieder empfindlich gestört fand, denn jetzt kamen die Leute schon von auswärts, weil allenthalben im Land über Caspar Hauser geredet und geschrieben wurde. Auch Daumer konnte sich der Ansprüche, die an ihn gestellt wurden, kaum erwehren. Er war oft mißgelaunt und matt, und es gab Stunden, wo er bereute, Caspar der Welt preisgegeben zu haben.

Es gab Stunden, wo er, allein mit dem Jüngling, sich seiner besseren Würde erinnerte und diesem seltsam Leibeigenen, Seeleneigenen sich tiefer anschloß, als der anfängliche Zweck gewollt. Es gab eine Stunde, wo Daumer eines paradiesischen Bildes gewahr wurde: Caspar im Garten, auf der Bank sitzend, ein Buch in der Hand; Schwalben ziehen ihre Zickzackkreise um ihn, Tauben picken vor seinen Füßen, ein Schmetterling ruht auf seiner Schulter, die Hauskatze schnurrt an seinem Arm. In ihm ist die Menschheit frei von Sünde, sagte sich Daumer bei diesem Anblick, und was wäre sonst zu leisten, als einen solchen Zustand zu erhalten? Was wäre hier noch zu enträtseln, was zu verkünden?

Eines andern Tages erhob sich im Nachbargarten großer Lärm. Ein bissiger Hund hatte seine Kette zerrissen und raste, Schaum vor dem Maul, in wilden Sprüngen umher, überrannte ein Kind, schlug einem Knecht, der ihn verfolgte, die Zähne ins Fleisch und stürzte gegen den Zaun des Daumerschen Gartens. Eine Latte krachte unter dem Anprall, das Tier schlüpfte herüber und richtete die blutunterlaufenen Augen wild auf die kleine Gesellschaft, die unter der Linde saß: Daumer selbst, dessen Mutter, der Bürgermeister Binder und Caspar. Alle standen ängstlich auf, Binder erhob den Stock, das Tier machte einige Sätze, blieb aber auf einmal stehen, schnupperte, trabte auf Caspar zu, der bleich und stille saß, wedelte mit dem Schweif und leckte die herabhängende Hand des Jünglings. Mit einem lodernden ungewissen Blick sah es ihn an, voll Ergebenheit fast, eine Zärtlichkeit erwartend, und es war, als erbitte es Verzeihung. Denselben ungewissen und ergebenen Ausdruck hatte auch Caspar im Auge; ihn jammerte der Hund, er wußte nicht warum.

Man erzählte sich, daß Daumer nach diesem Auftritt geweint habe.

Zwei Tage später, an einem regnerischen Oktoberabend, war es, daß sich Daumer mit seiner Mutter und Caspar im Wohnzimmer befand. Anna war zu einer Unterhaltung in die Reunion gegangen, die alte Dame saß strickend im Lehnstuhl am offenen Fenster, denn trotz der vorgerückten Jahreszeit war die Luft warm und voll des feuchten Geruchs verwelkender Pflanzen. Da wurde an die Türe geklopft, und der Glasermeister brachte einen großen Wandspiegel, den die Magd in der vergangenen Woche zerbrochen hatte. Frau Daumer hieß ihn den Spiegel gegen die Mauer lehnen, das tat der Mann und entfernte sich wieder.

Kaum war er draußen, so fragte Daumer verwundert, warum sie den Spiegel nicht gleich an seinen Platz habe hängen lassen, man hätte dann doch die Arbeit für morgen erspart. Die alte Dame erwiderte mit verlegenem Lächeln, am Abend dürfe man keinen Spiegel aufhängen, das bedeute Unheil. Daumer besaß nicht genug Humor für derlei halbernste Grillen; er machte der Mutter Vorwürfe wegen ihres Aberglaubens, sie widersprach, und da geriet er in Zorn, das heißt er sprach mit seiner sanftesten Stimme zwischen die geschlossenen Zähne hindurch.

Caspar, der es nicht sehen konnte, wenn Daumers Gesicht unfreundlich wurde, legte den Arm um dessen Schulter und suchte ihn mit kindlicher Schmeichelei zu begütigen. Daumer schlug die Augen nieder, schwieg eine Weile und sagte dann, völlig beschämt: »Geh hin zur Mutter, Caspar, und sag ihr, daß ich im Unrecht bin.«

Caspar nickte; ohne recht zu überlegen, trat er vor die Frau hin und sagte: »Ich bin im Unrecht.«

Da lachte Daumer. »Nicht du, Caspar! Ich!« rief er und deutete auf seine Brust. »Wenn Caspar im Unrecht ist, darf er sagen: ich. Ich sage zu dir: du, aber du sagst doch zu dir: ich. Verstanden?«

Caspars Augen wurden groß und nachdenklich. Das Wörtchen Ich durchrann ihn plötzlich wie ein fremdartig schmeckender Trank. Es nahten sich ihm viele Hunderte von Gestalten, es nahte sich eine ganze Stadt voll Menschen, Männer, Frauen und Kinder, es nahten sich die Tiere auf dem Boden, die Vögel in der Luft, die Blumen, die Wolken, die Steine, ja die Sonne selbst, und alle miteinander sagten zu ihm: Du. Er aber antwortete mit zaghafter Stimme: Ich.

Er faßte sich mit flachen Händen an die Brust und ließ die Hände heruntergleiten bis über die Hüften: sein Leib, eine Wand zwischen Innen und Außen, eine Mauer zwischen Ich und Du!

In demselben Augenblick tauchte aus dem Spiegel, dem gegenüber er stand, sein eignes Bild empor. Ei, dachte er ein wenig bestürzt, wer ist das?

Natürlich war er schon oft an Spiegeln vorbeigegangen, aber sein von den vielen Dingen der vielgesichtigen Welt geblendeter Blick war mitvorbeigegangen, ohne zu weilen, ohne zu denken, und er hatte sich daran gewöhnt wie an den Schatten auf der Erde. Ein Ungefähr, das ihn nicht hemmte, konnte nicht zum Erlebnis werden.

Jetzt war sein Auge reif für diese Vision. Er sah hin. »Caspar,« lispelte er. Das Drinnen antwortete: Ich. Da waren Caspars Mund und Wangen und die braunen Haare, die über Stirn und Ohren gekräuselt waren. Nähertretend, schaute er in spielerisch-zweifelnder Neugier hinter den Spiegel gegen die Mauer; dort war nichts. Dann stellte er sich wieder davor, und nun schien ihm, als ob hinter seinem Bild im Spiegel sich das Licht zerteile und als ob ein langer, langer Pfad nach rückwärts lief, und dort, in der weiten Ferne stand noch ein Caspar, noch ein Ich, das hatte zugeschlossene Augen und sah aus, als wisse es etwas, was der Caspar hier im Zimmer nicht wußte.

Daumer, gewohnt, das Betragen des Jünglings zu beobachten, lauerte gespannt herüber. Da – ein seltsames Geräusch; es surrte etwas in der Luft und fiel neben dem Tisch zu Boden. Es war ein Stück Papier, das von draußen hereingeflogen war. Frau Daumer hob es auf; es war wie ein Brief zusammengefaltet. Unschlüssig drehte sie es zwischen den Fingern und reichte es dem Sohn.

Der riß es auf und las folgende, mit großer Schrift geschriebene Worte: »Es wird gewarnt das Haus und wird gewarnt der Herr und wird gewarnt der Fremde.«

Frau Daumer hatte sich erhoben und las mit; ein Frösteln lief über ihre Schultern. Daumer jedoch, indes er schweigend auf den Zettel starrte, hatte das Gefühl, als sei vor seinen Füßen ein Schwert, die Spitze nach oben, aus der Erde gewachsen.

Caspar hatte von dem Vorgang nicht das mindeste wahrgenommen. Er verließ den Platz vor dem Spiegel und ging wie geistesabwesend an den beiden vorüber zum Fenster. Dort stand er besinnend, beugte sich besinnend vor, immer weiter, völlig selbstvergessen, ganz vom Willen des Suchens erfüllt, bis die Brust auf dem Sims lag und seine Stirn in die Nacht hinaus tauchte.

Caspar träumt

Am andern Morgen übergab Daumer das unheimliche Papier der Polizeibehörde. Es wurden Nachforschungen angestellt, die aber natürlich fruchtlos blieben. Der Vorfall wurde auch amtlich an das Appellationsgericht gemeldet, und nach einiger Zeit schrieb der Regierungsrat Hermann, der mit dem Baron Tucher befreundet war, an diesen einen Privatbrief, in welchem er unter anderm die Meinung vertrat, man solle nicht ablassen, den Hauser scharf zu bewachen und auszuforschen, denn es sei wohl möglich, daß er durch eine tiefeingepflanzte Furcht gezwungen sei, manches ihm bekannte Verhältnis zu verschweigen.

Herr von Tucher suchte Daumer auf und las ihm diese Stelle vor. Daumer konnte ein spöttisches Lächeln nicht unterdrücken. »Ich bin mir wohl bewußt, daß ein Mysterium, von Menschenhand gewoben, hinter allem dem liegt, was mit Caspar zusammenhängt,« sagte er mit leisem Widerwillen, »ganz abgesehen davon, daß mir auch der Präsident Feuerbach unlängst darüber geschrieben hat, und zwar in höchst eigentümlichen Wendungen, die auf etwas Besonderes schließen lassen. Aber was heißt das: ihn ausforschen, ihn bewachen? Hat man darin nicht schon das Äußerste versucht? Ärztliche Vorsicht und menschliches Gefühl befehlen mir jetzt ohnehin die äußerste Behutsamkeit gegen ihn. Ich wage es ja kaum, ihn von der einfachen Kost zu entwöhnen und ihn so zu ernähren, wie es durch die veränderte Lebenslage bedingt ist.«

»Warum wagen Sie das nicht?« fragte Herr von Tucher ziemlich erstaunt. »Wir sind doch übereingekommen, ihn endlich zum Genuß von Fleisch oder wenigstens von andern gekochten Speisen zu bringen?«

Daumer zögerte mit der Antwort. »Milchreis und warme Suppe verträgt er schon ganz gut,« sagte er dann, »aber zur Fleischkost will ich ihn nicht ermuntern.«

»Warum nicht?«

»Ich fürchte Kräfte zu zerstören, die vielleicht gerade an die Reinheit des Blutes gebunden sind.«

»Kräfte zerstören? Was für Kräfte vermöchten ihn und uns für die Gesundheit des Leibes und die Frische seines Gemüts zu entschädigen? Wäre es nicht vielmehr ratsam, ihn von der Richtung des Außerordentlichen abzulenken, die ihm früher oder später verhängnisvoll werden muß? Ist es gut, einen andern Maßstab an ihn zu legen als es einer natürlichen Erziehung entspricht? Was wollen Sie überhaupt, was haben Sie mit ihm vor? Caspar ist ein Kind, das dürfen wir nicht vergessen.«

»Er ist ein Mirakel,« entgegnete Daumer hastig und ergriffen; dann, in einem halb belehrenden, halb bitteren Ton, der für einen Weltmann wie Tucher verletzend klingen mußte, fuhr er fort: »Leider leben wir in einer Zeit, in der man mit jedem Hinweis auf Unerforschliches den plumpen Alltagsverstand beleidigt. Sonst müßte jeder an diesem Menschen sehen und spüren, daß wir rings von geheimnisvollen Mächten der Natur umgeben sind, in denen unser ganzes Wesen ruht.«

Herr von Tucher schwieg eine Zeitlang; sein Gesicht hatte den Ausdruck abwehrenden Stolzes, als er sagte: »Es ist besser, eine Wirklichkeit völlig zu ergreifen und ihr völlig genugzutun, als mit fruchtlosem Enthusiasmus im Nebel des Übersinnlichen zu irren.«

»Rechtfertigt mich denn die Wirklichkeit noch nicht, auf die ich mich berufen kann?« versetzte Daumer, dessen Stimme leiser und schmeichelnder wurde, je mehr das Gespräch ihn erhitzte. »Muß ich Sie an Einzelheiten erinnern? Sind nicht Luft, Erde und Wasser für diesen Menschen noch von Dämonen bevölkert, mit denen er in lebendiger Beziehung steht?«

Baron Tuchers Gesicht wurde düster. »Ich sehe in allem dem nur die Folgen einer verderblichen Überreiztheit,« sagte er kurz und scharf. »Das sind die Quellen nicht, aus denen Leben geboren wird, in solchen Formen kann sich keine Brauchbarkeit bewähren!«

Daumer duckte den Kopf, und in seinen Augen lag Ungeduld und Verachtung, doch antwortete er im Ton nachgiebiger Freundlichkeit: »Wer weiß, Baron. Die Quellen des Lebens sind unergründlich. Meine Hoffnungen wagen sich weit hinauf und ich erwarte Dinge von unserm Caspar, die Ihr Urteil sicherlich verändern werden. Aus diesem Stoff werden Genien gemacht.«

»Man tut einem Menschen stets unrecht, wenn man Erwartungen an seine Zukunft knüpft,« sagte Herr von Tucher mit trübem Lächeln.

»Mag sein, mag sein, ich aber halte mich an die Zukunft. Mich kümmert nicht, was hinter ihm liegt, und was ich von seiner Vergangenheit weiß, soll mir nur dienen, ihn davon zu lösen. Das ist ja das hoffnungsvoll Wunderbare: daß man hier einmal ein Wesen ohne Vergangenheit hat, die ungebundene, unverpflichtete Kreatur vom ersten Schöpfungstag, ganz Seele, ganz Instinkt, ausgerüstet mit herrlichen Möglichkeiten, noch nicht verführt von der Schlange der Erkenntnis, ein Zeuge für das Walten der geheimnisvollen Kräfte, deren Erforschung die Aufgabe kommender Jahrhunderte ist. Mag sein, daß ich mich täusche, dann aber würde ich mich in der Menschheit getäuscht haben und meine Ideale für Lügen erklären müssen.«

»Der Himmel bewahre Sie davor,« antwortete Herr von Tucher und nahm eilig Abschied.

Noch am selben Tag wurde Daumer durch seine Mutter aufmerksam gemacht, daß Caspars Schlaf nicht mehr so ruhig sei wie sonst. Als Caspar am andern Morgen ziemlich unerfrischt zum Frühstück kam, fragte ihn Daumer, ob er schlecht geschlafen habe.

»Schlecht geschlafen nicht,« erwiderte Caspar, »aber ich bin einmal aufgewacht und da war mir angst.«

»Wovor hattest du denn Angst?« forschte Daumer.

»Vor dem Finstern,« entgegnete Caspar, und bedächtig fügte er hinzu: »In der Nacht sitzt das Finstere auf der Lampe und brüllt.«

Den nächsten Morgen kam er halbangekleidet aus seinem Schlafgemach in das Zimmer Daumers und erzählte bestürzt, es sei ein Mann bei ihm gewesen. Zuerst erschrak Daumer, dann wurde ihm klar, daß Caspar geträumt habe. Er fragte, was für ein Mann es denn gewesen sei, und Caspar antwortete, es sei ein großer schöner Mann gewesen mit einem weißen Mantel. Ob der Mann mit ihm gesprochen? Caspar verneinte; gesprochen habe er nicht, er habe einen Kranz getragen, den habe er auf den Tisch gelegt, und als Caspar danach gegriffen, habe der Kranz zu leuchten angefangen.

»Du hast geträumt,« sagte Daumer.

Caspar wollte wissen, was das heiße. »Wenn auch dein Körper ruht,« erklärte Daumer, »so wacht doch deine Seele, und was du am Tag erlebt oder empfunden, daraus macht sie im Schlummer ein Bild. Dieses Bild nennt man Traum.«

Nun verlangte Caspar zu wissen, was das sei, die Seele. Daumer sagte: »Die Seele gibt deinem Körper das Leben. Leib und Seele sind einander vermischt. Jedes von beiden ist, was es ist, aber sie sind so untrennbar gemischt wie Wasser und Wein, wenn man sie zusammengießt.«

»Wie Wasser und Wein?« fragte Caspar mißbilligend. »Damit verderbt man aber das Wasser.«

Daumer lachte und meinte, das sei nur ein Gleichnis gewesen. In der Folge nahm er wahr, daß es mit Caspars Träumen eigen beschaffen war. Sonst sind Träume an ein Zufälliges geknüpft, sagte er sich, spielen gesetzlos mit Ahnung, Wunsch und Furcht, bei ihm ähneln sie dem Herumtasten eines Menschen, der sich im finsteren Wald verirrt hat und den Weg sucht; da ist etwas nicht in Ordnung, ich muß der Sache auf den Grund gehen.

Das Auffallende war, daß gewisse Bilder sich allmählich zu einem einzigen Traum sammelten, der von Nacht zu Nacht vollständiger und gestalthafter wurde und mit immer größerer Deutlichkeit regelmäßig wiederkehrte. Im Anfang konnte Caspar nur abgebrochen davon erzählen, so stückhaft wie die Bilder sich ihm zeigten, dann eines Tages, wie der Maler den Vorhang von einem vollendeten Gemälde zieht, vermochte er seinem Pflegeherrn eine ausführliche Beschreibung zu geben.

Er hatte über seine Gewohnheit lange geschlafen, deshalb ging Daumer in sein Zimmer, und kaum war er ans Bett getreten, so schlug Caspar die Augen auf. Sein Gesicht glühte, der Blick ruhte noch im Innern, war aber voll und kräftig und der Mund war zu sprechen ungeduldig. Mit langsamer, ergriffener Stimme erzählte er.

Er ist in einem großen Haus gewesen und hat geschlafen. Eine Frau ist gekommen und hat ihn aufgeweckt. Er bemerkt, daß das Bett so klein ist, daß er nicht begreift, wie er darin Platz gehabt. Die Frau kleidet ihn an und führt ihn in einen Saal, wo ringsum Spiegel mit goldenem Rande hängen. Hinter gläsernen Wänden blitzen Silberschüsseln und auf einem weißen Tisch stehen feine kleine, zierlich bemalte Porzellantäßchen. Er will bleiben und schauen, die Frau zieht ihn weiter. Da ist ein Saal, wo viele Bücher sind, und von der Mitte der gebogenen Decke hängt ein ungeheurer Kronleuchter herab. Caspar will die Bücher betrachten, da verlöschen langsam die Flammen des Leuchters eine nach der andern und die Frau zieht ihn weiter. Sie führt ihn durch einen langen Flur und eine gewaltige Treppe hinab, sie schreiten im Innern des Hauses den Wandelgang entlang. Er sieht Bilder an den Wänden, Männer im Helm und Frauen mit goldenem Schmuck. Er schaut durch die Mauerbogen der Halle in den Hof, dort plätschert ein Springbrunnen; die Säule des Wassers ist unten silberweiß und oben von der Sonne rot. Sie kommen zu einer zweiten Treppe, deren Stufen wie goldene Wolken aufwärts steigen. Es steht ein eiserner Mann daneben, er hat ein Schwert in der Rechten, doch sein Gesicht ist schwarz, nein, er hat überhaupt kein Gesicht. Caspar fürchtet sich vor ihm, will nicht vorbeigehen, da beugt sich die Frau und flüstert ihm etwas ins Ohr. Er geht vorbei, er geht zu einer ungeheuern Tür und die Frau pocht an. Es wird nicht aufgemacht. Sie ruft und niemand hört. Sie will öffnen, die Tür ist zugeschlossen. Es scheint Caspar, daß sich etwas Wichtiges hinter der Tür ereignet, er selbst beginnt zu rufen, doch in diesem Augenblick erwacht er.

Seltsam, dachte Daumer, da sind Dinge, die er nie zuvor gesehen haben kann, wie den gerüsteten Mann ohne Gesicht. Seltsam! Und sein Wortesuchen, seine hilflosen Umschreibungen bei solcher Klarheit des Geschauten. Seltsam.

»Wer war die Frau?« fragte Caspar.

»Es war eine Traumfrau,« entgegnete Daumer beschwichtigend.

»Und die Bücher und der Springbrunnen und die Tür?« drängte Caspar. »Waren’s Traumbücher, war’s eine Traumtür? Warum ist sie nicht aufgemacht worden, die Traumtür?«

Daumer seufzte und vergaß zu antworten. Was bekam da Gewalt über seinen Caspar, sein Seelenpräparat? Sehr an Welt und Stoff gebunden war dieser Traum.

Caspar kleidete sich langsam an. Plötzlich erhob er den Kopf und fragte, ob alle Menschen eine Mutter hätten? Und als Daumer bejahte, ob alle Menschen einen Vater hätten. Auch dies mußte bejaht werden.

»Wo ist dein Vater?« fragte Caspar.

»Gestorben,« antwortete Daumer.

»Gestorben?« flüsterte Caspar nach. Ein Hauch des Schreckens lief über seine Züge. Er grübelte. Dann begann er wieder: »Aber wo ist mein Vater?«

Daumer schwieg.

»Ist es der, bei dem ich gewesen? Der Du?« drängte Caspar.

»Ich weiß es nicht,« antwortete Daumer und fühlte sich ungeschickt und ohne Überlegenheit.

»Warum nicht? Du weißt doch alles? Und hab’ ich auch eine Mutter?«

»Sicherlich.«

»Wo ist sie denn? Warum kommt sie nicht?«

»Vielleicht ist sie gleichfalls gestorben.«

»So? Können denn die Mütter auch sterben?«

»Ach, Caspar!« rief Daumer schmerzlich.

»Gestorben ist meine Mutter nicht,« sagte Caspar mit wunderlicher Entschiedenheit. Plötzlich flammte es über sein Gesicht und er sagte bewegt: »Vielleicht war meine Mutter hinter der Tür?«

»Hinter welcher Tür, Caspar?«

»Dort! im Traum ...«

»Im Traum? Das ist doch nichts Wirkliches,« belehrte Daumer zaghaft.

»Aber du hast doch gesagt, die Seele ist wirklich und macht den Traum –? Ja, sie war hinter der Tür, ich weiß es; das nächste Mal will ich sie aufmachen.«

Daumer hoffte, das Traumwesen würde sich verlieren, doch dem war nicht so. Dieser eine Traum, Caspar nannte ihn den Traum vom großen Haus, wuchs immer weiter, umschlang und krönte sich mit allerlei Blüten- und Rankenwerk gleich einer zauberhaften Pflanze. Immer wieder schritt Caspar einen Weg entlang und immer wieder endete der Weg vor der hohen Türe, die nicht geöffnet wurde. Einmal zitterte die Erde von Tritten, die innen waren, die Türe schien sich zu bauschen wie ein Gewand, durch einen Spalt über der Schwelle brach Flammengeloder, da erwachte er, und die nicht zu vergessende Traumnot schlich durch die Stunden des Tages mit.

Die Gestalten wechselten. Manchmal kam statt der Frau ein Mann und führte ihn durch die Bogenhalle. Und wie sie die Treppe hinaufgehen wollten, kam ein andrer Mann und reichte ihm mit strengem Blick etwas Gleißendes, das lang und schmal war und das, als Caspar es fassen wollte, in seiner Hand zerfloß wie Sonnenstrahlen. Er trat nahe an die Gestalt heran, auch sie ward zu Luft, doch sprach sie lautschallend ein Wort, welches Caspar nicht zu deuten verstand.

Daran hingen sich wieder besondere kleine Träume, Träume von unbekannten Worten, die er im Wachen nie gehört und deren er, wenn der Traum vorüber war, vergebens habhaft zu werden suchte. Sie hatten meist einen sanften Klang, bezogen sich aber, so fühlte er, nie auf ihn selbst, sondern auf das, was hinter der verschlossenen Türe vor sich ging.

Traumboten waren es, Vögeln des Meeres gleich, die in beständiger Wiederkehr Gegenstände eines halbversunkenen Schiffes an die ferne Küste tragen.

In einer Nacht lag Daumer schlaflos und hörte in Caspars Zimmer ein dauerndes Geräusch. Er erhob sich, schlüpfte in den Schlafrock und ging hinüber. Caspar saß im Hemde am Tisch, hatte ein Blatt Papier vor sich, einen Bleistift in der Hand und schien geschrieben zu haben. Ein matter Mondschein schwamm im Zimmer. Verwundert fragte Daumer, was er treibe. Caspar richtete den bis zur Trunkenheit vertieften Blick auf ihn und antwortete leise: »Ich war im großen Haus; die Frau hat mich bis zum Springbrunnen im Hof geführt. Sie hat mich zu einem Fenster hinaufschauen lassen; droben ist der Mann im Mantel gestanden, sehr schön anzuschauen, und hat etwas gesagt. Danach bin ich aufgewacht und hab’s geschrieben.«

Daumer machte Licht, nahm das Blatt, las, warf es wieder hin, ergriff beide Hände Caspars und rief halb bestürzt, halb erzürnt: »Aber Caspar, das ist ja ganz unverständliches Zeug!«

Caspar starrte auf das Papier, buchstabierte murmelnd und sagte: »Im Traum hab’ ich’s verstanden.«

Unter den sinnlosen Zeichen, die wie aus einer selbsterdachten Sprache waren, stand am Ende das Wort: Dukatus. Caspar deutete auf das Wort und flüsterte: »Davon bin ich aufgewacht, weil es so schön geklungen hat.«

Daumer fand sich verpflichtet, den Bürgermeister von den Beunruhigungen Caspars, wie er es nannte, in Kenntnis zu setzen. Was er befürchtet hatte, geschah. Herr Binder legte der Sache eine große Wichtigkeit bei. »Zunächst ist es geboten, dem Präsidenten Feuerbach einen möglichst ausführlichen Bericht zu geben, denn aus diesen Träumen können sicherlich ganz bestimmte Schlüsse gezogen werden,« sagte er. »Dann mache ich Ihnen den Vorschlag, mit Caspar einmal in die Burg hinaufzugehen.«

»In die Burg? Warum das?«

»Es ist so eine Idee von mir. Da er immer von einem Schlosse träumt, wird ihn der Anblick eines wirklichen Schlosses vielleicht aufrütteln und uns bestimmtere Anhaltspunkte geben.«

»Ja, glauben Sie denn an eine reale Bedeutung dieser Träume?«

»Ganz unbedingt. Ich bin davon überzeugt, daß er bis zu seinem dritten oder vierten Lebensjahr in einer derartigen Umgebung gelebt hat und daß mit dem neuen Erwachen zum Leben und zum Selbstbewußtsein die Erinnerungen an die frühere Existenz auf dem Weg der Träume Form und Inhalt gewinnen.«

»Eine sehr naheliegende, sehr nüchterne Erklärung,« bemerkte Daumer gallig. »Also der Hintergrund dieses Schicksals wäre nichts weiter als eine gewöhnliche Räubergeschichte.«

»Eine Räubergeschichte? Mir recht, wenn Sie es so nennen. Ich verstehe nicht, weshalb Sie sich dagegen wehren. Soll der Jüngling aus dem Mond heruntergefallen sein? Wollen Sie irdische Verhältnisse für ihn nicht gelten lassen?«

»O gewiß, gewiß!« Daumer seufzte. Dann fuhr er fort: »Ich schmeichelte mir mit andern Hoffnungen. Das Grübeln und Verlangen nach rückwärts ist eben das, was ich Caspar ersparen wollte. Gerade das Freie, Freischwebende, Schicksallose war es ja, was mich so stark an ihm ergriffen hat. Außerordentliche Umstände haben diesen Menschen mit Gaben bedacht, wie kein andrer Sterblicher sich ihrer rühmen kann; und das soll nun alles verkümmern, abgelenkt werden in das Gleis von Erlebnissen, die ja an sich tragisch genug sein mögen, aber doch nichts Ungemeines an sich haben.«

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