Читать книгу: «Tatort Teufelsbrücke», страница 2

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»Schon gut«, sagte Uschi und lachte. »Bekommst du wenigstens eine Kopfgeldprämie, wenn du es geschafft hast, eine Dumme zu überreden?«

»Also hör mal!«, sagte Danni mit gespielter Empörung. »Du bist alternativlos! Schließlich eilt dir dein Ruf voraus. Deine Spontanität und Kollegialität sind in diesem Fürstentum einzigartig.«

Uschi schmunzelte.

»Ja, ja. Ich bin sogar so spontan, dass ich morgen mal kurz zu einer Vorbesprechung vorbeikommen würde. Wann findet denn diese Mondscheinführung eigentlich statt?«

»Das erste Mal am 31. Oktober, also an Halloween.«

Uschis Mundwinkel sanken nach unten. Das erste Mal?

»Aha. Na, Hauptsache ihr erwartet nicht, dass ich mich auch noch als Hexe verkleide …«

»Das wäre natürlich toll!«, sagte Danni prompt und lachte auf. »In der Woche nach Halloween findet die Mondscheinführung dann täglich statt. Beginn ist immer um 22 Uhr.«

»So spät?«, fragte Uschi verwundert.

»Je später es ist, desto mehr gruseln sich die Leute. Und du weißt ja, die Geisterstunde beginnt erst um Mitternacht.«

»Ihr habt doch gar keine Geister!«, sagte Uschi.

»Das wirst du dann ja noch sehen«, entgegnete Danni knapp.

Uschi wollte eigentlich nachhaken, wie sie das denn meine, doch da hatte Danni bereits das Thema gewechselt und erläuterte ihr nochmals den genauen Programmablauf in der Halloweenwoche.

Kaum hatte Uschi das Telefonat beendet, ärgerte sie sich schon über ihre mangelnde Standfestigkeit. Warum schaffte sie es nicht, einfach mal »Nein« zu sagen? Gruselführungen! Ihr genügte schon die weiße Frau, die auf der Burg Hohenzollern herumgeisterte. Auf weitere Geister konnte sie gut und gerne verzichten. Und dann auch noch Hexen. Nee!

Das letzte Stück bis zum Wanderparkplatz fuhr Robin ohne Licht. Im Mondlicht war der Feldweg gut zu erkennen. Auch wenn der Geländewagen für die holprige Strecke ideal war, bemühte er sich, die Schlaglöcher zu umfahren.

»Es ist noch zu hell«, stellte er fest.

Saskia und Volker schauten schweigend aus dem Fenster. Seit sie von der Landstraße abgezweigt waren, hatte keiner ein Wort gesprochen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Robin steuerte ans Ende des Parkplatzes, bog dort in einen grasbewachsenen Forstweg ein und stellte das Auto hinter einem Holzschuppen ab.

»So, da sind wir!«, sagte er leise und ließ die Scheiben herunter.

Kalte Nachtluft strömte herein.

Saskia lehnte sich aus dem Fenster, blickte zum Nachthimmel auf und ließ sich seufzend wieder in den Sitz zurücksinken.

»Je länger wir uns hier aufhalten, desto eher werden wir von jemandem gesehen«, sagte sie und schob schaudernd die Hände zwischen ihre schlanken Beine. »Wir sollten die Sache so schnell wie möglich über die Bühne bringen und dann wieder abhauen.«

»Jetzt zieht’s glei zu«, sagte Volker.

Er beugte sich zu Saskia vor und hielt ihr das Smartphone unter die Nase. Nachdem sie einen flüchtigen Blick auf die Wetterapp geworfen hatte, ließ er sich wieder auf die Rückbank fallen und meinte gut gelaunt:

»Willsch a Bierle? Dann bisch vielleicht a bissle entspannter.«

»Ich muss mal«, sagte Saskia den Kopf schüttelnd und schlug die Beine übereinander.

»Bäume gibt es hier genug«, sagte Robin achselzuckend. »Da wirst du doch wohl ein Plätzchen finden, oder?«

»Ist mir zu kalt«, murmelte Saskia, warf ihren Zopf über die Schulter und ließ mit einem Knopfdruck das Fenster hochfahren.

»Also i muss scho lang«, sagte Volker und öffnete mit einem Zischen seine Bierdose. »Aber ich verheb’s mir no a Weile.«

Er lachte, nahm einen Schluck Bier und rülpste.

»Muss das sein?«, beschwerte sich Saskia, schlug den Kragen ihres Mantels hoch und verließ mit einem empörten Schnauben das Auto.

Volker konnte manchmal ganz schön nerven. Aber was das Wetter anbelangte, hatte er recht gehabt. Da zogen tatsächlich Wolken heran. Nicht mehr lange, dann würden sie sich vor den Mond schieben.

Robin verließ nun ebenfalls das Auto, öffnete den Kofferraum und überreichte ihr kommentarlos eine weiße Plastiktüte.

»Es kann losgehen«, raunte er.

Saskia nickte und nahm die Sturmmasken aus der Tüte. Eine reichte sie Volker durchs Fenster, die andere zog sie sich selbst über den Kopf. Die Masken ließen nur die Augen frei. Nase und Mund wurden hingegen vollständig von dem schwarzen Stoff bedeckt.

»Cool!«, meinte Volker lachend. »Da könnta mir nochher eigentlich glei no d’ Sparkass überfalla!«

»Mit einer Handsäge oder was?«, zischte Saskia. »Volle, du hast echt einen Knall!«

Der schmale Trampelpfad führte steil aufwärts, quer über eine Wiese. Obwohl Robin und Volker dicht vor Saskia hergingen, konnte sie die beiden in der Dunkelheit nur schemenhaft erkennen. Es war verblüffend, welchen Effekt die schwarze Kleidung hatte.

Saskia spürte, wie der Stoff vor ihrem Mund mit jedem Atemzug etwas feuchter wurde. Nach ungefähr 200 Metern trafen sie auf einen breiteren Wiesenweg, der in Kurven den Steilhang einer Obstbaumwiese hinaufführte. Immer wieder stolperte Saskia über kleine Klaräpfel, die überall verstreut auf der Wiese herumlagen. Obwohl es unwahrscheinlich war, dass um diese Uhrzeit noch jemand einen Nachtspaziergang unternahm, drehte sie sich alle paar Meter um und lauschte. Doch außer dem Geräusch ihrer eigenen Schritte war nichts zu hören. Sie nahmen die Abkürzung über einen schmalen Trampelpfad und erreichten kurz darauf ihr Ziel: die große Lichtung.

»Da steht er«, sagte Robin und deutete auf den Hochsitz am Waldrand. »Ist mal wieder total fies platziert. Die Tiere kommen aus dem Wald heraus, wollen die herumliegenden Äpfel fressen und ›peng‹«, er imitierte mit der Hand eine Pistole, »hat es sie schon erwischt. Die haben gar keine Chance zu flüchten.«

»Schaut mal, da hat er sogar eine Kirrung angelegt!« Sie deutete auf einen Haufen Trester, eine Mischung aus pflanzlichen Pressrückständen und Getreide. »Um die Tiere anzulocken …«

»Schwätzet it so viel«, entgegnete Volker und setzte seinen Rucksack ab. »Mir müsset jetzt ran an die Sach. Dann hot sich des.«

Mit der Handsäge bewaffnet kletterte er auf den Hochsitz.

»I bin glei soweit«, raunte er. »Ihr könnt solang nomal eine raucha.«

Saskia blickte Robin an und rollte mit den Augen.

»Der hat sie doch nicht mehr alle«, flüsterte sie und schüttelte empört den Kopf.

»Jetzt lass ihm halt den Spaß«, meinte Robin achselzuckend und steckte sich eine Zigarette an.

Saskia kickte nervös einen kleinen Apfel zwischen den Füßen hin und her. Dann kramte sie aus ihrem Rucksack einen Block hervor und kritzelte mit Kugelschreiber in großen Druckbuchstaben ihre Botschaft darauf. Das war in der Dunkelheit gar nicht so einfach, da sie nur nach Gespür schreiben konnte.

»Hast du’s jetzt endlich?«, zischte sie Volker zu.

»Glei«, kam es zurück. »Nur net hudla!«

Kurz darauf stieg Saskia ein übler Geruch in die Nase. Volkers hämisches Lachen bestätigte ihren Verdacht. Angeekelt wandte sie ihren Kopf ab.

»Wo isch jetzt der Zettel?«, fragte Volker und kletterte die Leiter ein Stück weit herunter.

Saskia stieg auf die unterste Sprosse und reichte ihm die Botschaft. Volker beleuchtete das Papier mit seinem Handy.

»Wenn Hochsitze krachen, vergeht euch das Lachen! Jäger, wir schießen zurück.« Er lachte auf, knüllte den Zettel dann zusammen und warf ihn auf die Holzbank. »It schlecht. Aber mir dät da no was Besseres eifalla: Du denkscht, du bischt ganz bsonders grissa, deshalb han i dir auf d’ Hochsitz gschissa.«

Saskia schüttelte angewidert den Kopf.

»Volle, du bist so was von widerlich!«

»I woiß!«, sagte Volker und griente. »Und i mag di au!«

Dann machte er sich daran, die obersten Sprossen auf beiden Seiten anzusägen.

»Kannst du nicht ein bisschen leiser sägen?«, wies Saskia ihn zurecht. »Das hört man ja kilometerweit!«

»Wenn du denkscht, dass du leiser säga kannscht, darfsch es gern selber macha!«, entgegnete Volker. Er stieg etwas tiefer und sägte sicherheitshalber auch dort die Sprossen an.

»Pass auf, dass du dir den Ast nicht unterm Hintern absägst!«, raunte Robin.

Volker zog eine Grimasse und spuckte als Antwort auf seinen Freund hinunter. Die Spucke verfehlte Robin haarscharf.

»Hm, vielleicht hättest du nicht gerade die obersten Sprossen ansägen sollen«, gab Saskia zu bedenken. »Wenn der Typ von der Höhe aus runterfällt, kann er sich das Genick brechen!«

»Ah wa!«, widersprach Volker. »Die Sprossa brecha doch scho beim Hochklettre durch. Da passiert it viel.«

»Und wenn schon«, sagte Robin leise. »Wer da hochklettert, hat nichts Gutes im Sinn. Das feige Schwein sitzt da oben und tötet aus dem Hinterhalt. Das ist für mich nichts anderes als ein Mörder.«

»Ja, aber deswegen müssen wir ja nicht auch zu Mördern werden, oder?«, keifte Saskia.

»Verdammt!«, stieß Robin hervor und trat rasch seine Zigarette im Gras aus. »Da hinten leuchtet was! Ich glaube, da kommt ein Auto!«

»Heidenei!«, raunte Volker, der die Lichter nun auch gesehen hatte. »Du hasch recht. Da kommt tatsächlich einer. Nix wie weg!«

Er warf die Handsäge in den Rucksack und schulterte ihn.

»Nicht über die Wiese!«, schnaubte Robin. »Wir müssen durch den Wald und von hinten her ans Auto ran.«

Sie rannten los. Zwischen Buchen und Fichten hindurch, über umgestürzte Baumstämme, durch Gestrüpp und Unterholz.

»Aua!«, keuchte Saskia, als sie an den Dornen einer Brombeerhecke hängen blieb.

Irritiert sah sie sich um. Waren sie überhaupt noch richtig? In ihrer Panik war sie einfach drauflosgerannt. Kopflos. Orientierungslos. Aber wenn sie sich jetzt nicht ranhielt, verlor sie den Anschluss zu Volker und Robin. Sie lief weiter. Verdammt! Sie konnte nicht einmal mehr die Umrisse der beiden erkennen. Ihr blieb nichts Weiteres übrig, als nach Gehör zu gehen. Sie stoppte und versuchte, die Schritte zu orten. Ja, sie hörte etwas. Aber so leise, dass sie nicht sicher sagen konnte, aus welcher Richtung das Knacken kam.

»Wartet!«, jammerte sie. »Ich kann nicht so schnell! Wartet doch!«

Als sie keine Antwort bekam, beschleunigte sie ihren Schritt. In ihrer Hektik übersah sie allerdings einen Ast am Boden, stolperte und fiel der Länge nach hin. Einige Schrecksekunden lang blieb sie ausgestreckt liegen. Dann rappelte sie sich auf und untersuchte wimmernd ihre Gliedmaßen. Sie hatte sich nicht nur die Haut an den Händen aufgerissen, sondern auch noch ihr Knie aufgeschlagen. Brannte wie Hölle! Und wo, verflucht noch mal, ging es raus aus diesem Wald? Sie zog aus ihrer Jackentasche ein Papiertaschentuch und putzte sich die Nase. Dann holte sie tief Luft und besann sich. Robin und Volker würden beim Auto auf sie warten. Egal wie lange sie brauchte. Sie musste nur die Nerven behalten und aufhören, wie ein verrücktes Huhn durch die Gegend zu laufen. Sie holte ihr Smartphone hervor und schickte eine Sprachnachricht an Robin.

»Wartet auf mich«, wisperte sie. »Ich hab mich verlaufen. Es kann noch ein bisschen dauern.«

Die im Smartphone integrierte Taschenlampe war so schwach, dass sie lediglich das Gestrüpp unmittelbar vor ihren Füßen erhellte. Du musst tendenziell immer bergab laufen, sagte sie sich. Nach wenigen Minuten hatte sie eine steile Böschung erreicht, die mit dichtem Gestrüpp bewachsen war. Es würde nicht einfach werden, sich hier einen Weg hindurch zu bahnen. Während Saskia über Totholz und Büsche hinwegstakste, hoffte sie inständig, dass Robin ihre Sprachnachricht abgehört hatte und nicht einfach losgefahren war, um sie zu suchen. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Was war das doch hier für ein Mist! In diesem Moment flutete das Mondlicht durch die Baumwipfel hindurch. Es war ein Effekt, als hätte gerade jemand das Licht angemacht. Saskia atmete erleichtert auf, als sie unterhalb der Böschung zwischen den Bäumen hindurch den Feldweg erkennen konnte. Na also! Gleich, gleich hatte sie es geschafft!

Neu motiviert trat sie das Gestrüpp nieder, sprang über größere Steine und kletterte über den Baumstamm einer umgestürzten Fichte hinweg. Sie rutschte gerade auf der anderen Seite des Baumstamms herunter, als sie ein Motorengeräusch hörte. War das Robin? Suchte er sie bereits? Sie kauerte sich hinter einen Busch und spähte zwischen den Ästen hindurch – jederzeit zum Sprung bereit, um sich bemerkbar zu machen, falls es tatsächlich Robin war. Das Auto war noch nicht auf ihrer Höhe angelangt, da erkannte sie bereits die seitlichen neongelben Leuchtstreifen und die blaue Wagenfarbe.

Verflucht noch mal! Die Polizei! Rasch duckte sie sich etwas tiefer. Obwohl ihr Herz bis zum Hals schlug, wagte sie es, nochmals aufzuschauen. In der ersten Sekunde blendete sie das Scheinwerferlicht so stark, dass sie die Hand schützend vor die Augen halten musste, um etwas sehen zu können. Als sie dann jedoch die blassen Gesichter von Robin und Volker im Wagen erkannte, sackten ihr beinahe die Beine weg.

Du bleibst im Auto«, sagte Uschi bestimmt und ignorierte Leopolds Bettelblick. »Schlaf ein wenig. Ich bin bald wieder zurück.«

Sie war noch nicht außer Sichtweite, da kletterte Leopold bereits von der Rückbank auf den Fahrersitz und schickte ihr ein lautstarkes Protestgeheul hinterher. Klang beinahe wie von einem Wolf. Uschi zog die Schultern hoch und ging schnell weiter. Da musste er jetzt durch. Hoffentlich rächte er sich nicht für die Freiheitsberaubung. Sie durfte gar nicht daran denken, was er in der Zwischenzeit aus Frust alles anstellen konnte. Von Polster zerfetzen bis zu Handbremse lösen, war diesem Hund nahezu alles zuzutrauen.

Andere Hundebesitzer schränkten den Bewegungsradius ihrer Hunde im Auto durch spezielle Hundegurte oder Transportboxen ein. Doch Leopold hatte es geschafft, sich erfolgreich gegen Claras Reglementierungen im Auto zu wehren. Da er in der Transportbox im Kofferraum nichts sehen konnte, wurde ihm dermaßen schlecht, dass er sich noch während der Fahrt übergeben musste. Als keine Besserung in Sicht war, gab Clara schließlich nach und holte ihn zu sich in den Innenraum. Doch auch im Fußraum wurde ihm schlecht. Erträglich war es für ihn nur, wenn er während der Fahrt aus dem Fenster schauen durfte. Uschi unterstellte dem intelligenten Australian Shepherd, dass dies alles ausgeklügelte Taktik war. Der Versuch, ihn durch einen Hundegurt zu sichern, scheiterte daran, dass er sich während eines ausgiebigen Tobsuchtanfalls schier damit erwürgt hatte. Beim nächsten Versuch machte er mit dem Gurt kurzen Prozess und biss ihn einfach durch. So verfuhr er auch mit zwei weiteren Hundegurten in anderen Ausführungen.

Seitdem saß Leopold während der Fahrt auf dem Rücksitz, schaute aus dem Fenster und stieß hin und wieder ein lautstarkes Gebell aus, wenn er Fußgänger oder einen Artgenossen auf dem Gehweg entdeckte. Da Leopold nun uneingeschränkt auf allen Sitzen herumturnen konnte, verteilte er seine Hundehaare gleichmäßig im gesamten Auto, weshalb Clara ihren Wagen wesentlich häufiger innen reinigen musste als früher. Aber so wie Uschi diesen Hund einschätzte, konnte sie froh sein, wenn nach ihrer Rückkehr die Sitzpolster noch heil waren und das Auto an Ort und Stelle stand.

Der Weg zum Schloss führte stets bergauf. Vorbei an Cafés und hübschen Fachwerkhäusern, über Treppen, durch romantisch verwinkelte Gassen und unter Torbögen hindurch. Das Schloss thronte majestätisch auf einem Felsen oberhalb der Donau. Das sah man aber nur aus der Ferne. Wenn man sich von Westen aus näherte und den gemächlich ansteigenden Fußweg durch die Stadt nahm, wurde einem die exponierte Lage des Schlosses gar nicht so bewusst. Nichtsdestotrotz spürte Uschi jeden zurückgelegten Höhenmeter umso deutlicher in ihren Beinen. Wenigstens vertrieb die Anstrengung die feuchte Kälte aus ihren Knochen und sorgte für eine angenehme Wärme in Händen und Füßen. Eine letzte Steigung, dann hatte sie es auf einmal vor sich, das imposante Hauptportal des Sigmaringer Schlosses. Auf die Mauerreste zweier mittelalterlicher Rundtürme hatte man um 1500 einen neuen Aufbau mit einem Torwächterhaus gesetzt. Uschi machte eine Verschnaufpause und ließ den Anblick auf sich wirken. Ja, es glich wirklich einem Märchenschloss. Wie aus dem Bilderbuch!

Um nicht in Verlegenheit zu geraten, hatte sie sich gestern Abend doch noch ein wenig mit der Schlossgeschichte vertraut gemacht. Auch wenn sie bereits am Telefon angekündigt hatte, wenig über das Sigmaringer Schloss zu wissen, wollte sie sich ihren Kolleginnen gegenüber keine Blöße geben. Außerdem musste man immer damit rechnen, dass die Fragen der Gäste über das Schwerpunktthema der Führung hinausgingen.

Sie legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Reliefdarstellung aus Sandstein über dem riesigen Eingangstor. Das war also das Sühnerelief des Grafen Felix von Werdenberg, das er 1526 zur Buße für die Ermordung des Grafen Andreas von Sonnenberg hatte anbringen lassen. Felix hatte den Grafen von Sonnenberg erschlagen, nachdem sich dieser bei einer Hochzeit über seine geringe Körpergröße lächerlich gemacht hatte. Ein Mord aus Eitelkeit also. Es gab zwei unterschiedliche Versionen des Tathergangs. In manchen Quellen hieß es, Sonnenberg sei von Felix bei der Jagd erschlagen worden. Einer anderen Darstellung nach ließ der Graf dagegen in einem Zweikampf sein Leben. Wie auch immer. Graf Felix hatte die Tat hernach zutiefst bereut. Auf dem Relief sah man ihn deshalb demütig vor der Muttergottes knien. Uschi war beeindruckt. Nicht von dem Relief an sich, sondern von dem Platz, wo der Graf es hatte anbringen lassen. Jeder Besucher, der das Schloss betrat, hatte das Relief vor Augen. Und daran hatte sich auch fast 500 Jahre nach der Tat nichts geändert. Der Graf stellte sich selbst an den Pranger und bewies damit, wie sehr er den Mord an dem Grafen bedauerte.

Uschi beschloss, ihre Mondscheinführung mit dieser Geschichte zu beginnen. Wenn die Gäste sich gruseln wollten, war dies die perfekte Einstimmung. Wenn es nämlich um Mord und Totschlag ging, waren die Leute immer gleich ganz Ohr. Und dass in diesem märchenhaften Schloss einmal ein Mörder gelebt hatte, wussten gewiss nur die wenigsten Besucher.

Alles andere als gruselig, sondern einfach nur entzückend, war das angrenzende Schlosscafé. Frische Torten und Kuchen lockte ein Schild auf der kleinen vorgelagerten Terrasse. Gerne hätte sich Uschi in das heimelige Café locken lassen, aber sie hatte ja einen Termin. In den kommenden Tagen würde sie zudem genügend Gelegenheit haben, die verschiedenen Kuchensorten durchzuprobieren.

Der steile, überwölbte Aufgang zum alten Burgtor wirkte düster. Daran änderten auch die bronzeverzierten Lampen nichts, die in regelmäßigen Abständen an der weiß getünchten Decke dieses Ganges angebracht worden waren, um für mehr Helligkeit zu sorgen. Uschi beobachtete, wie eine Dame mit Stöckelschuhen am Arm ihres Begleiters über das Kopfsteinpflaster balancierte, und fragte sich, wie sie die abschüssige Rampe nach dem Schlossbesuch wieder herunterkommen wollte. Da blieb der Dame wohl nichts anderes übrig, als sich an dem eisernen Handlauf entlangzuhangeln oder sich erneut an den Arm ihrer männlichen Begleitung zu krallen. Uschi war froh, dass sie heute auf ihre hohen Schuhe verzichtet hatte. Die gefütterten Stiefel sahen zu ihrem knielangen Rock gar nicht mal so schlecht aus und würden ihr später beim Spaziergang mit dem Hund gute Dienste leisten.

Sie betrachtete die Dekoration an den Wänden, die den Gästen bereits einen ersten Hinweis darauf gab, welche Themenschwerpunkte in diesem Schloss von besonderer Bedeutung waren: mittelalterliche Waffen und die Jagd. Mächtige Hirschgeweihe und silberglänzenden Rüstungen wechselten sich zu beiden Seiten ab und geleiteten den Besucher bis zum Eingang.

Uschi betrat den Museumsshop, der zugleich Kasse, Informationsschalter und Souvenirlädchen in einem war. Hinter einem lang gezogenen Tresen saß eine schlanke Frau mittleren Alters, die gerade einem Besucher das Audiosystem für die Waffenkammer erklärte. Auf ihrem Schoß lag ein flauschiges, weißes Fellknäuel, das Uschi bei näherem Hinsehen als Pudel identifizierte. Das musste die Kassiererin mit dem Hund sein, von der Danni am Telefon gesprochen hatte.

Da sie immer noch damit beschäftigt war, Instruktionen zu geben, sah sich Uschi derweil in den Verkaufsräumen um. Die Auswahl an Souvenirs war erstaunlich vielfältig. Neben diversen Büchern über die Schlossgeschichte wurden auch edel anmutender Schmuck, Servietten, Postkarten und noch allerlei anderer Krimskrams angeboten. In einem gesonderten Raum gab es alles, was kleine angehende Prinzessinnen und Ritter benötigten, um sich standesgemäß auszustatten. Uschi war von den schwarzen Bleistiften mit goldenen Krönchen fasziniert. Sie zog einen der Stifte aus dem Behälter, betrachtete ihn entzückt und überlegte sich, welche Freundinnen sie mit diesem Prachtstück beglücken könnte.

»Ja, bitte? Kann ich Ihnen helfen?«

Die Kassiererin lächelte sie ermunternd an und fuhr sich mit der Hand durch die kurzen blonden Haare.

»Ich bin mit Daniela Rapp verabredet«, sagte Uschi und steckte den Bleistift wieder in den Behälter zurück. »Mein Name ist Uschi Lämmle.«

Die Miene der Kassiererin hellte sich auf.

»Ah, schön! Danni hat dich schon angekündigt. Du bist die Burgführerin, die uns freundlicherweise aus der Patsche helfen wird, nicht wahr?« Sie streckte Uschi die Hand über den Pudel hinweg entgegen. »Ich bin Lena.«

In diesem Augenblick erwachte der Pudel zum Leben, richtete sich auf und schnupperte interessiert an Uschis Hand.

»Oh, der riecht wohl meinen Pflegehund, einen jungen Australian Shepherd«, erklärte Uschi.

»Du hast einen Aussie? Tolle Hunde! Brauchen aber viel Bewegung. Wo ist er denn jetzt?«

»Er sitzt im Auto und bellt sich gerade die Seele aus dem Leib.«

Lena lachte auf.

»Der Arme! Du kannst ihn beim nächsten Mal ruhig mit hereinbringen. Meine Peggy«, sie deutete auf den Pudel, »verträgt sich mit allen Hunden.«

»Oh, das ist lieb gemeint. Aber ich fürchte, dass Leopold den ganzen Laden hier auf den Kopf stellen würde. Er ist noch furchtbar verspielt.«

Ihre eigentliche Befürchtung, dass er nämlich beim nächstbesten Postkartenständer das Bein heben könnte, behielt Uschi lieber für sich.

»Dann wäre es vielleicht sinnvoller, wenn er Peggy erst einmal bei einem gemeinsamen Spaziergang kennenlernt. In einer Stunde bin ich hier fertig. Wenn du möchtest, könnten wir nach Josefslust fahren und noch eine Runde zusammen laufen.«

»Das ist eine gute Idee!«, sagte Uschi und strahlte. »Leopold wird sich freuen. Vor allem, wenn uns auch noch so eine hübsche Hundedame begleitet.« Sie schüttelte den Kopf. »Nur schade, dass ihr hier so einen Nebel habt. Ich bin bei strahlendem Sonnenschein in Albstadt losgefahren! Und dann kommt man plötzlich in diese trübe Brühe. Damit rechnet man gar nicht.«

»Ja, so ist das nun mal im Herbst im Donautal«, bestätigte Lena. »Aber wenn wir Glück haben, kommt später doch noch ein wenig die Sonne durch.«

Sie erhob sich, setzte den Pudel behutsam auf den Boden und zog eine Jacke über. Dann geleitete sie Uschi nach draußen, um ihr das Tor zum Schlosshof zu öffnen.

»Danni will dich in der Kasematte treffen. Ich zeige dir, wo es langgeht.«

Als Uschi »Kasematte« hörte, musste sie sofort mit einigem Unbehagen an die dunklen Kellerräume und Geheimgänge auf der Burg Hohenzollern denken. Nachdem sie vor zwei Jahren in einem dieser Gänge stundenlang eingesperrt worden war, kannte sie das Gedärm des Zollerbergs nun besser als ihr lieb war. Dass das Sigmaringer Schloss ebenfalls solche ehemaligen Munitionslager besaß, hatte sie nicht gewusst.

»Seit dem Schlossbrand von 1893 weist der Schlosshof ganz verschiedene Baustile auf«, erklärte Lena, als sie die Portugiesische Galerie an der Südseite passierten.

Rote Fensterrahmen und Fensterläden kontrastierten mit dem hellen Gestein der Mauern, Balustraden und Säulen – das romantische Ambiente des Schlosshofs zog Uschi augenblicklich in den Bann und sie wusste gar nicht, wohin sie ihren Blick zuerst lenken sollte. Hier eine efeubewachsene Mauer, dort eine hübsche Topfpflanze oder eine filigrane Eisenlaterne. In jedem Winkel gab es neue nette Details zu entdecken. Sie legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Reiterskulptur, die mit ausgestreckter Lanze hoch oben auf einem Sockel am Böhmischen Treppenturm einen Ehrenplatz erhalten hatte. Hm, sollte vermutlich den heiligen Georg darstellen. Trotz der Mischung aus alten und neueren Gebäudeteilen empfand Uschi das Gesamtbild des Hofs mit den efeubewachsenen Wänden als ausgesprochen harmonisch.

»Siehst du die goldene Kugel oberhalb der Turmuhr?«, fragte Lena und wies auf den Turm. »Das ist die Monduhr, die Fürst Leopold anlässlich der Renovierung des Schlossturms vor 100 Jahren anbringen ließ.«

Uschi blickte zu der Turmuhr auf. Tatsächlich! Direkt über dem rot-goldenen Ziffernblatt war sie, die goldene Kugel. Am linken Rand der Kugel zeigte sich eine schwarze Sichel. Abnehmender Mond. Sofort musste Uschi daran denken, dass es die ideale Zeit war, um einen neuen Abnehmversuch zu starten. Sie gehörte zwar nicht zu den Leuten, die ihr Leben nach dem Mondkalender ausrichteten, aber sie war nichtsdestotrotz davon überzeugt, dass manche Dinge eher von Erfolg gekrönt waren, wenn man sie in einer günstigen Mondphase durchführte.

»Toll!«, sagte sie und strahlte übers ganze Gesicht. »So eine Uhr würde mir auch gefallen.«

»Die Monduhr musst du deinen Gästen bei der Mondscheinführung natürlich als Allererstes zeigen«, meinte Lena. »Die Mondphasen waren in früheren Zeiten vor allem auch für die Jagd von Bedeutung.«

»Inwiefern?«, fragte Uschi wissbegierig, immer noch die goldene Kugel im Blick.

»So genau weiß ich das auch nicht«, sagte Lena und zuckte mit den Schultern. »Da gehen die Meinungen bei den Jägern selbst wohl auch auseinander. Ich weiß nur, dass Vollmond auch heute noch eine beliebte Mondphase für die Ansitzjagd ist. Wegen der guten Lichtverhältnisse.«

Sie ging voran und führte Uschi quer über den Hof bis zum Eingang der Kanonenhalle.

»Und hier wirst du auch nicht ohne Erläuterung dran vorbeikommen«, sagte sie schließlich und deutete auf das fürstlich-hohenzollerische Wappen, das die Wand neben dem Eingangstor zur Kanonenhalle zierte.

Uschi trat etwas näher heran, um das Wappen genauer in Augenschein zu nehmen. Es bestand aus sieben Schilden und sieben Helmen, mittig befand sich das geviertelte schwarz-silberne Zollernschild. Verschiedene Symbole repräsentierten die Grafschaften. Fröstelnd schloss sie den oberen Knopf ihrer Wolljacke. Sie hätte gut daran getan, ihren Daunenmantel anzuziehen. Hoffentlich war es im Schloss etwas wärmer!

»Der goldene Hirsch auf rotem Grund steht für die Grafschaft Sigmaringen«, erläuterte Lena. »Das typische Wappentier der hohenzollerischen Schlösser ist aber der Bracke. Das ist eine alte Jagdhundrasse.« Sie deutete auf einen schwarz-silbernen Hundekopf mit heraushängender Zunge, der über einer goldenen Krone im Seitenprofil zu sehen war. »Der Bracke symbolisiert die Jagdgerechtigkeit.«

»Die Jagd scheint überhaupt ein vorherrschendes Thema hier im Schloss zu sein«, sagte Uschi, während sie Lena in die großräumige Kanonenhalle folgte.

Die erhoffte Wärme blieb leider aus. In der Eingangshalle war es nur geringfügig wärmer als draußen. Es gab zwar einen offenen Kamin, aber der diente nur der Zierde. Ebenso wie die Ritterrüstungen, Kanonen und die zahlreichen Jagdtrophäen an den weißen Wänden. Von Hirschgeweihen bis zu ausgestopften Rebhühnern gab es alles, was das Jägerherz höherschlagen ließ.

»Oh ja«, bestätigte Lena. »Es gibt bei uns deshalb sogar eine spezielle Themenführung zur Jagd. Waidmannsheil und Waidmannslust.«

Uschi drehte sich um die eigene Achse und bewunderte die prachtvolle Ausstattung des riesigen Saals.

»Beeindruckend, nicht?«, sagte Lena und nickte. »So soll es auch sein. Die Eingangshalle ist bewusst so ausgestattet worden, um bei den Besuchern Eindruck zu schinden.« Sie deutete auf die Treppen. »Die dreifache Abstufung des Saals erinnert an die drei Kirchenstufen, die zum Altar führen. Die Rüstungen und Waffen demonstrieren die politische und militärische Macht, die vielen Jagdtrophäen zeugen vom großen Landbesitz der Grafschaft in ganz Europa.« Sie wies auf den roten Teppich unter ihren Füßen. »Achte darauf, dass die Besucher immer auf dem Teppich bleiben. Das schont die Böden und es geht keiner verloren.«

Lena führte sie zu einer großen Holztür, die auf der rechten Seite der Kanonenhalle abging.

»So! Und hier ist unsere Kasematte.«

Bereits beim Betreten des Raumes bemerkte Uschi, dass diese Kasematte hier einen ganz anderen Charakter hatte als jene auf der Zollern-Burg. Es war hier weder dunkel noch gab es Geheimgänge. Nein, es handelte sich lediglich um eine Trinkstube in einem Gewölbekeller. Die holzgetäfelte Stube wirkte mit dem großen offenen Kamin und dem reihum führenden Holzgestühl sehr gemütlich. Auf einem der Stühle saß bereits Danni und grinste ihr entgegen. Sie hatte sich seit ihrer letzten Begegnung kaum verändert. Nach wie vor trug sie die roten, langen Haare zu einem Pferdeschwanz hochgebunden und betonte ihre braunen Rehaugen mit viel schwarzer Tusche. Lediglich die kurzen Hosen hatte sie nun gegen eine gut sitzende Röhrenjeans eingetauscht.

»Nur herein in die gute Stube!«, rief sie fröhlich. »Na, da staunst du, nicht wahr? Unsere Kasematte macht ganz schön was her. Hier saßen die Herren nach der Jagd zusammen und ließen sich ihr Bier und die Schlachtplatte schmecken. Nimm doch Platz.«

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26 мая 2021
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