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Heute kommen sie. »Für den Besuch Ihrer Eltern«, hat mir eine der Beamtinnen verraten, »müssen wir nicht nach Stadelheim, der läuft hier.«

Gestern durfte ich duschen, obwohl ich nicht dran gewesen wäre, nun sehen wenigstens meine Haare halbwegs vernünftig aus. Ich habe vor Aufregung schon zwei Zigaretten geraucht, habe mir unzählige Szenarien der Begrüßung ausgedacht, wie kann ich den Eindruck erwecken, dass es mir gutgeht und sie sich keine Sorgen machen müssen? Wie werden sie auf den BKA-Beamten und die Schließerin reagieren?

Sie bringen mich in einen anderen Gebäudetrakt, in einen Besuchsraum, der im Vergleich zur Trennscheibenzelle in Stadelheim etwas fast zivil Altmodisches hat, für mich jedenfalls. Wie er auf die Eltern wirken wird, weiß ich nicht. Ich stehe immer wieder auf, laufe herum, die Beamtin fordert mich auf, mich hinzusetzen, ich setze mich auf die Kante des Stuhls, stehe wieder auf … Und plötzlich rasselt der Schlüssel in der Tür. Der BKAler kommt herein, gefolgt von den Eltern. Meine Mutter wirkt noch kleiner und zarter als sie ohnehin ist, mein Vater hat etwas Beherrschtes an sich, versucht aber gleichzeitig so zu wirken, als würde ihn das ganze Ambiente nicht beeindrucken. Oder gar ängstigen!

Wir gehen aufeinander zu, ich nehme meine Mutter in den Arm, meinen Vater, der BKAler greift nicht ein. Wir gehen zu unseren Stühlen, setzen uns einander gegenüber, wissen nicht, was wir sagen sollen.

»Und der Herr horcht uns jetzt zu?«, fragt mein Vater in seinem spöttischsten Tonfall.

»Ja«, sage ich lachend.

»Das ist nicht richtig«, sagt meine Mutter. Böse. Entschieden. Dann leise: »Wie geht’s dir denn hier?«

Ich greife während des Gesprächs immer wieder nach ihren Händen, die auf dem Tisch liegen, übereinandergelegt, wie um sie vom Zittern abzuhalten. Ich erzähle vom Hofgang, wie ich meine Runden drehe und mir vorkomme wie in einem Knastfilm. Von dem schönen Baum, der da steht, und den ich jetzt noch ein bisschen schöner mache. Von den netten Briefen, die ich bekomme, der Solidarität, wie viele Leute mir helfen wollen, dass ich hier mein Buch schreiben werde, dass eigentlich fast alle hier sehr freundlich sind, dass es mir gesundheitlich gutgeht …

»Und wie ist das Essen?«, fragt mein Vater, die Lippen zu einem ironischen Lächeln verzogen.

»Super! Drei Sterne mindestens.«

Er lacht, meine Mutter bleibt todernst. Für sie ist dieser Besuch die noch größere Qual als für ihn.

Das Gespräch gerät wieder ins Stocken. Sie sind beide irritiert und gehemmt durch die anwesenden Beamten. Wir sitzen schweigend da, ich streichle ihre Hände und kämpfe mit den Tränen. Dann fragt mich mein Vater mit – gedämpft – provokantem Unterton, was ich denn hier alles dürfe. Ob ich überhaupt etwas dürfe.

Meine Mutter schielt ängstlich in Richtung Bewacher. Sie kennt ihren Mann. Was, wenn er jetzt etwas sagt, das mir schaden könnte? Aber mein Vater weiß schon, was er tut, er schätzt gut ab, wie weit er gehen kann, um seiner Tochter zu zeigen: Ich halte zu dir! Wir halten zu dir!

»Was können wir denn für dich tun?«, fragt er nun.

»Ihr tut doch schon so viel«, sage ich. »Danke, danke für alles!«

Bevor mir die Stimme bricht, erklärt der BKAler die Besuchszeit für beendet. Wir umarmen uns noch einmal, ich lege meine Wange an Mutters Gesicht, drücke meinen Vater fest an mich, dann werden sie hinausgeführt. Drehen sich an der Tür noch einmal um. Ich werfe ihnen eine Kusshand zu.


Die Eltern. Ich habe ihnen mit meiner Verhaftung und der Zeit im Gefängnis so viel zugemutet. Angst, Sorgen, Ungewissheit, verletzende Reaktionen von Nachbarn, Verwandten, Bekannten. Die Reisen, um mich zu besuchen … Nach meiner Freilassung haben sie mir erzählt, der BKA-Beamte, der bei ihren Besuchen für die Überwachung zuständig war, hatte sie gefragt, ob sie nicht mit ihm über mich reden wollten. Er könnte mir vielleicht helfen. »Da hab ich dem gesagt«, berichtete mir mein Vater, immer noch grantig ob der Unverschämtheit, »mit Ihnen red ich nicht über meine Tochter. Mit Ihnen red ich überhaupt nicht!« Woraufhin der es auch nicht mehr versucht hatte. Mein Vater konnte sehr überzeugend sein.

Ich hatte wundervolle Eltern. Sie haben mich geliebt, gefördert, mir geholfen, wo sie konnten. Sie haben mir beigebracht, immer darauf zu achten, wie es den Armen, den Chancenlosen, den Ausgegrenzten ergeht, und mich für sie einzusetzen. Was meine Eltern mir nicht beigebracht haben, ist zu hassen. Egal, wen. Menschen, die andere Menschen verachten, unterdrücken, ausbeuten, ihnen absichtlich Schmerz zufügen – gegen die musste man sich wehren, denen musste man sich entgegenstellen, und man durfte sich ihnen auf keinen Fall angleichen. Aber hassen? Nein. Noch nicht mal die. »Hassen macht hässlich«, sagte meine Mutter.

Ich habe dennoch manchmal gehasst. Und die bewundert, die zerstörten, was ich hasste. Meine Eltern haben diesen Hass in mir gespürt, und er hat sie beunruhigt.

Woher der Hass kam, weiß ich noch immer nicht. Ich weiß, was ihn motivierte, aber warum all das Unrecht, all das Elend, gegen das ich anschrieb, nicht nur Empörung in mir auslöste und den Wunsch, dagegen anzukämpfen, sondern auch Hass und eine Sehnsucht nach Zerstörung – ich habe noch immer keine Antwort auf diese Frage. Zumindest keine, die mir völlig einleuchten oder ausreichen würde.

7

»Klappt das mit dem Aufschluss?« Hartmut stellt die Frage eher beiläufig. Understatement gehört zu seinen Qualitäten wie die Ironie. Ich strahle ihn trotzdem an, ganz und gar unironisch: »Ja, danke, es klappt!«

Ich kann jetzt nachmittags eine Stunde raus aus der Zelle, mit den anderen Frauen auf dem Flur zusammenkommen, sie in ihren Zellen besuchen. Ich darf sogar mit ihnen Hofgang machen. Ich habe die beiden Monis kennengelernt, die ich bislang nur als Stimmen kannte. Sie sitzen in der Zelle gegenüber, einer Dreierzelle, die dritte Frau, haben sie mir gesteckt, ist ein Spitzel. Eine der Monis hat mich gebeten, meinen Anwalt etwas zu fragen. Sie hat ein Schreiben von der Staatsanwaltschaft bekommen, das sie nicht versteht. Und ihr Anwalt lässt sich nicht blicken.

Hartmut erklärt mir, ziemlich grantig, worum es vermutlich geht. Und will wissen, wer Monis Anwalt ist. Ich habe keine Ahnung. »Es ist ein Pflichtverteidiger«, sage ich. »Klar«, knurrt Hartmut. »Es hat nicht jede so ein Glück wie ich«, wende ich ein.

Er schenkt mir ein ironisches Lächeln. Mustert mich von unten bis oben, sagt: »Du kannst jetzt auch Privatkleidung bekommen. Die Bedingung dafür ist, dass jemand sie regelmäßig für dich wäscht. Und Beate hat sich dazu bereit erklärt, Beate Hänsel vom Frauenbuchladen. Also: Willst du Privatkleidung oder willst du lieber bei der zünftigen Lodenausstattung bleiben?«

Mir bleibt im ganz wörtlichen Sinne der Mund offen stehen. Ich würde jetzt gerne etwas Witziges erwidern, nach dem Motto, wieso, gefällt dir mein grüner Rock nicht? Aber die Freude und Erleichterung sind größer: »Sagst du der Beate bitte tausend Dank von mir? TAUSEND Dank?«

»Wird gemacht. Sie lässt dich übrigens grüßen. Und würd’ gern wissen, ob dir das Konzert gefallen hat.«

Es war also wirklich für mich! Und jetzt weiß ich auch, wer es für mich aufgeführt hat. Beate, erzählt mir Hartmut, hat ihre Frauen-Musikgruppe zusammengetrommelt. Sie sind auf einen Hügel in der Nähe des Gefängnisses geklettert mit ihren Instrumenten und haben so lange gespielt, bis die Polizei sie vertrieb.

Ich bekomme keinen Ton heraus.

»Hast du jetzt was davon gehört oder nicht?«

»Ja. Ja! Beim Hofgang. Bis sie mich zurück ins Haus gebracht haben.«

»Fein«, sagt Hartmut.

Bevor er geht, erzählt er mir noch, was gerade an Strobl-Solidarität läuft. Es gibt einen Solifonds, aus dem auf meine Knast-Kasse eingezahlt wird, damit ich mir Tabak und Lebensmittel kaufen kann. In Wien hat sich eine Gruppe »Solidarität für Dr. Ingrid Strobl« gebildet (ohne Titel geht es nicht in Österreich), und Elfriede Jelinek ist im Vorstand. Elfriede schreiben, notiere ich innerlich, gerührt und dankbar. Die Kölner Stadtrevue unterstützt die bundesweite Kampagne »Freiheit für Ingrid Strobl«. Und diese Parole wird auch auf unzählige Wände gesprüht, zusammen mit »Freiheit für Ulla und Ingrid«.

Ulla Penselin ist von den Frauen, die zeitgleich mit mir verhaftet wurden, die einzige, die noch wegen Unterstützung der Roten Zora, der Frauengruppe der Revolutionären Zellen, in Untersuchungshaft sitzt. Die anderen mussten sie bereits aus Mangel an Beweisen entlassen. Ingrid und Ulla, Ulla und Ingrid, wir werden häufig zusammengeworfen, viele glauben, auch ich sei als mutmaßliches Mitglied der Roten Zora im Gefängnis. Was ja auch naheläge, ich bin schließlich Feministin. Und die Rote Zora hat, unter anderem, Sextouristen die Autos abgefackelt. Wenn ich irgendwann einmal entlassen werde, würde ich Ulla gerne kennenlernen.

Ich werde mich nie an das frühe Aufstehen gewöhnen. Ich nehme das Frühstück im Halbschlaf an, gebe die Antragsformulare ab, wenn ich welche habe, stelle das heiße Wasser, Kaffee, Brötchen, Margarine, Marmelade und den Apfel, so es denn einen gibt, auf den Tisch und lege mich wieder ins Bett. Aber meistens kann ich dann nicht mehr schlafen. Also stehe ich nach einer Weile wieder auf und mache Gymnastik. Eine Freundin hat mir ein Buch geschickt – das erstaunlich schnell durchgelassen wurde – in dem Gymnastikübungen für Rückenprobleme und Schulterverspannungen etc. ganz gut erklärt werden. Ich mache sie, wie im Vorwort angeraten, erst mal vorsichtig nach, und sie tun gut!

Gut tut mir auch, jedes Mal wieder, die Freistunde. Eine Stunde Bewegung, jeden Tag! Gehen, gehen, gehen, mal schnell, mal nicht ganz so schnell, dann wieder schnell … ich genieße es. Und bin unendlich dankbar für den Baum, den es hier gibt. Eine Ahnung von Natur … Noch ist er kahl, aber ich freue mich jetzt schon auf die ersten grünen Blätter.

Am Freitag ist Edith Lunnebach gekommen, und wir haben vieles besprochen und abgeklärt. Punkt eins: Der Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls wurde von der Bundesanwaltschaft abgelehnt. Klar. Ich darf noch länger hier bleiben. Als wir mit all dem fertig waren, erzählte sie mir, dass Innsbrucker Freundinnen nach Köln gefahren sind, um meine Katze abzuholen. Was mich unendlich erleichtert. Sie ist jetzt bei meinen Eltern, wird versorgt, geliebt, ist nicht mehr allein in meiner Wohnung. Eine Sorge weniger, die auf mir lastet. Dann holte Edith noch einen Zettel aus ihren Unterlagen und las mir vor, von wem alles sie mir Grüße bestellen sollte. »Grüß sie bitte alle zurück«, sagte ich, froh, staunend, dankbar.

Peter und eine Freundin haben einen Besuchsantrag gestellt. Es dürfen mich nur zwei Leute im Monat besuchen, und so muss das alles sehr genau abgesprochen werden. Zusatzarbeit für Edith und Hartmut … Edith bemüht sich auch weiter darum, dass ich das Recherchematerial, das ich für mein Buch gesammelt habe, ausgehändigt bekomme. Wir wissen beide, dass das schwierig werden wird, so es denn überhaupt klappt. Die Kopien, Bücher, Interviews sind alle fremdsprachig: englisch, französisch, italienisch, jiddisch. Das Argument, das könne man dem Zuständigen für die Postkontrolle nicht zumuten, wiegt schwer. Aber, hat mir Monika Richarz geschrieben, sie unterstützt Ediths Antrag.

Monika Richarz ist die Leiterin der Germania Judaica, der Fachbibliothek für Judaistik und insgesamt jüdische Themen in der Kölner Stadtbücherei. Bundesweit eine einmalige Einrichtung, in der ich bei meinen Recherchen viele Tage verbracht habe. Und Monika ist auch eine Freundin. Eine von denen, die nicht in das Bild passen, das die Bundesanwaltschaft, das Bundeskriminalamt & Co. von mir haben. Und eine von denen, die bereit sind, meinetwegen ihren Ruf zu ruinieren.

Ich werde getragen von Solidarität. Meine Schwester, meine Freundinnen aus Innsbruck, Wien, Köln, Berlin, München, Hamburg schreiben mir und viele stellen auch Besuchsanträge. Die Pressechefin und meine Lektorin beim Fischer Taschenbuch Verlag, die Kölnische Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Verlegerinnen und Verleger und Redakteurinnen und Redakteure, mit denen ich gearbeitet habe, Helena Verdel, die Expertin für slowenischen Widerstand, die mir den Kontakt zu den slowenischen Partisanen in Kärnten vermittelte, Zala und die Krischers, die ich für mein Buch interviewt habe, sie alle schicken mir freundliche, aufmunternde Briefe. Universitäten bieten mir Gastvorträge an, Buchhandlungen Lesungen … Feministinnen unterstützen mich, Linksradikale, andere Linke, Menschen, die sich im Kirchenasyl engagieren, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, Frauen, die gerne meine Artikel in Emma lesen, Menschen, die es unsäglich finden, dass man sich Frauen als Sexsklavinnen kaufen kann, dass politisch Verfolgte abgeschoben werden – und dass ich im Gefängnis sitze, weil ich in meinen Artikeln dagegen angeschrieben habe …

Ich freue mich über jeden neuen Brief, den ich erhalte. Ich bin so dankbar für all die Solidarität in all ihren unterschiedlichen Formen. Elfriede Jelinek fragte mich, was mir fehlt im Gefängnis. Da ich ihren Sinn für Humor kenne, schrieb ich ihr zurück: »Der Denver Clan.« Ich habe hier keinen Fernseher, und kann die Serie deshalb nicht gucken. Was ich draußen immer getan habe. In ihrem nächsten Brief beschrieb sie mir, was in der letzten Folge passiert ist. Ich liebe sie auch dafür. Grade dafür.

Edith schreibt mir in der Anwaltspost, Künstlerinnen und Fotografinnen hätten Bilder für mich gemalt und aufgenommen. Ob mir die ausgehändigt wurden? Wurden sie nicht. Die Anwaltspost müssen sie mir geben. Ungeöffnet und (mehr oder weniger) zeitnah. Alles was mir sonst an Briefen, Paketen, Broschüren etc. geschickt wird, lesen erst einmal ein Beamter der Bundesanwaltschaft und ein Richter am Bundesgerichtshof. Und das kann bis zu zehn Wochen oder auch länger dauern. Ich habe das Freundinnen und Freunden nicht eigens geschrieben, weil ich dachte, das ist ohnehin klar. Ich habe nur Hartmut gebeten, meine Eltern zu warnen, damit sie sich keine Sorgen machen, weil ich vermeintlich nicht auf ihre Briefe antworte. Oder erst so furchtbar spät. Aber dann habe ich gemerkt, dass einige tatsächlich nicht wissen, dass die Post von Untersuchungshäftlingen an sich und noch mehr die Post von politischen Gefangenen kontrolliert und ausgewertet wird. Ein paar wenige unter meinen Bekannten, hatte mir Edith berichtet, reagierten sogar gekränkt, weil ich ihnen nicht sofort geantwortet habe. Auf Briefe, die man mir noch gar nicht ausgehändigt hat …

In der Abgeschlossenheit und Einsamkeit der Zelle ernte ich nun die Früchte der Vielfältigkeit und Offenheit, die ich draußen gelebt und wertgeschätzt habe. Die politische Enge, in die ich mich katapultiert habe, wird konterkariert durch die Erfahrung der Solidarität von Menschen aus ganz unterschiedlichen Bereichen meines Berufs- und Privatlebens: Denen, die politisch aktiv sind, und denen, für die ich Artikel und Sendungen geschrieben habe. Denen, die mir Interviews gaben, und denen, die meine Texte lasen. Von Freundinnen, mit denen ich gerne ins Kino gegangen bin oder stundenlang über Literatur und Kunst reden konnte oder die dieselbe Musik mögen. Und von denjenigen, mit denen ich mehreres von alldem zusammen tun und leben konnte.


Ich habe nun endlich, nach langem Suchen, das Material gefunden, das ich zu meinem »Fall« aufgehoben habe. Solidaritätsbroschüren zum Beispiel, in denen Briefe von mir abgedruckt sind. Von mir? Die Frau, die diese Briefe schrieb, erstaunt mich. Verunsichert mich. Sie ist so politisch, so auf den Punkt. Sie schreibt nicht über all die positiven Dinge, die sie im Knast erlebt, die Mitgefangenen, den Baum auf dem Hof, die Erleichterung über die neue Zelle, oben, im Hellen, mit Fenster zum Hof. Nein, diese Frau schreibt einer Freundin:

»Meine Zelle ist exakt zweieinhalb Schritte breit und fünf Schritte lang, und ich spreche hier nicht von Riesenschritten. Gehen kann ich nur die fünf Schritte in der Länge. Die Breite ist nur theoretisch da, denn sie ist durch das Mobiliar völlig verbaut. Schrank, Toilette, Waschbecken, Tisch, Stuhl – alles für sich genommen zu klein, gleichzeitig aber zu groß für den winzigen Raum. (…)

Alle paar Wochen kommen sie in diesen Raum, um alles von oben bis unten zu durchwühlen, meine Aufzeichnungen zu lesen, in meinen Sachen zu kramen. Intimität, das lernst du sehr schnell, kannst du abschreiben. Die gibt es nicht im Knast. Einsamkeit ja, aber keine Intimität. Du bist gleichzeitig total alleine und ebenso total allen Zugriffen ausgesetzt. (…)

Isolationshaft heißt, dass du Tag für Tag, Nacht für Nacht nur auf dich allein angewiesen bist. Du fängst an, das Sprechen zu verlernen, merkst bei Besuchen, dass dir die Worte fehlen, dass du deine Zeit brauchst, um ins Reden zu kommen. Alle deine Sinne werden auf Entzug gesetzt. (…)

Ich habe Glück gehabt. Ich kam nach drei Monaten Totalisolation in den sogenannten Normalvollzug, wobei das Wort ›normal‹ der blanke Zynismus ist. Im Knast ist nichts normal. Meine Situation ist ein Mischmasch aus Isolationsbedingungen und sogenanntem Normalvollzug. Meine Besucherinnen und Besucher kann ich nur hinter der Trennscheibe sehen. Das heißt, wir können uns nicht umarmen, nicht berühren, nicht fühlen. Neben mir sitzt eine Beamtin aus dem Knast, neben dem Besuch ein Bulle vom Landeskriminalamt, der jedes Wort mitschreibt. (…)

Der sogenannte Normalvollzug sieht so aus: Wir Frauen haben zwei Stunden am Tag Kontakt miteinander. Eine Stunde vormittags beim Hofgang, eine Stunde nachmittags beim ›Aufschluss‹. Den Rest der Zeit, also 22 Stunden, sitze ich allein auf der Zelle. (…)

Die Kehrseite zu den Versuchen, dich einzuschränken und zu zerstören ist, dass du dich selber kennenlernst wie nie zuvor. Dass du deine eigene Zähigkeit entdeckst und Kraftreserven, von denen du gar nicht wusstest, dass du sie hast.«

Wer bin jetzt ich? Die Frau, die damals, in der realen Situation, diesen Brief geschrieben hat, oder die Frau, die nun, gut dreißig Jahre danach, ihre Erinnerungen an diese Zeit schreibt? Welche von uns beiden beschreibt die Situation im Gefängnis treffender? Haben mich das Alter und der zeitliche Abstand milde gestimmt? Bin ich rührselig geworden? Oder habe ich mich damals selbst zensiert, wegen der interessierten Mitleser von der Bundesanwaltschaft einerseits, und weil ich andererseits das Gefühl hatte, ich müsse mich als richtige politische Gefangene beweisen (und wenn ja, gegenüber wem)?

Weder noch, vermutlich. Oder beides. Ich war damals anders »drauf«, härter, mehr eingebunden in linksradikales Denken. Und ich durfte tatsächlich auch nie vergessen, dass die Bundesanwaltschaft nicht nur bereit war, jedes Wort von mir zu verdrehen, sondern auch daran interessiert war, Schwächen bei mir auszumachen: als potenzielle Einfallstore. Ich habe kein Wort mit ihnen gesprochen, und ihre angeblichen Beweise gegen mich waren nicht gerade beeindruckend. In meinen Briefen zu erzählen, was mir Freude machte, was mir die Situation erleichterte, was mich stärkte, hätte zur Folge haben können, dass mir genau das künftig verwehrt, entzogen, verboten würde. Ich weiß nicht, ob es tatsächlich so gekommen wäre, aber ich konnte diese Möglichkeit nicht außer Acht lassen. Im Keller stand eine Zelle leer …

8

»Guten Morgen!« Die Gefangene, die die Essensausgabe macht, und die diensthabende Beamtin stehen in der Tür zu meiner Zelle. Ich reibe mir die Augen, wanke aus dem Bett, nehme mein Frühstück in Empfang, lasse mir heißes Wasser in den Behälter gießen. »Schönen Tag noch.« Tür zu.

Ich lege die Brötchen in den Schrank, die gebe ich beim Aufschluss den Monis. Ich habe ihnen erzählt, dass ich jetzt Müsli bekommen kann und deshalb die Brötchen nicht mehr brauche. »Dann gib die uns«, meinte die eine Moni, »für den Ansatz.«

Vor etwa einer Woche hat mich die Direktorin beiseite genommen und gefragt, ob ich im Hungerstreik bin. Ich habe staunend den Kopf geschüttelt, hatte die RAF einen Hungerstreik ausgerufen? Das hätten mir die Frauen doch erzählt? »Nein«, versicherte ich ihr. »Warum?«

Weil ich immer dünner würde.

»Das stimmt«, erklärte ich ihr. »Ist aber keine Absicht und auch kein Wunder, denn das meiste, was wir hier an Knastfraß bekommen, kann ich nicht essen. Nicht weil ich heikel bin, sondern weil ich es nicht vertrage.«

Sie wirkte enttäuscht. Meinte, sie würden sich sehr bemühen, ein passables Essen anzubieten. Dann fragte sie mich, was ich denn eher vertragen würde. »Zu Hause esse ich immer Müsli«, sagte ich, froh, dass mir das so schnell als Antwort eingefallen war. »Das tut mir gut. Könnte ich mir das hier beim Kaufmann holen?«

Sie wollte darüber nachdenken. Anfang der Woche hat mir dann eine Beamtin eine Packung Bio-Müsli gebracht. Bio!-Müsli! Seither geht es mir besser. Deutlich besser. Ich schneide mir das Obst hinein, das wir mittags bekommen, und meine Brötchen kriegen die Monis. Sie setzen irgendwo in der Zelle Alkohol an. Das Angebot, mir zu erklären, wie das geht, habe ich dankend abgelehnt. Ich brauche hier einen klaren Kopf. Immer. Dann musst du aber wenigstens mit uns anstoßen, sagten sie. Wenn es so weit ist.

Die Beamtinnen haben den Umgang mit mir von Sicherheit auf Pragmatismus umgestellt. Wenn sie mich wo hinführen müssen, machen sie das zu zweit. Wenn ich dort, wo sie mich hinführen, warten muss, bleibt nur noch eine bei mir stehen. Gestern, als die Diensthöchste oder wie ihr Rang sich nennt, mich nach Stadelheim begleiten musste, hat sie sich geweigert, die Schutzweste anzuziehen. »Die ist mir zu schwer«, argumentierte sie. Als die Polizeibeamten erwiderten, die Weste sei Pflicht bei so einem Transport, erklärte sie ihnen im schönsten Bayerisch: »I brauch di aber net. Net bei der Frau Strobl.«

Sie ist das Gegenteil aller Schlusenklischees. Intelligent, den Gefangenen gegenüber fair und gerecht, und herzerfrischend selbstbewusst. Von den Gefangenen wird sie respektiert. Und die beiden Polizisten, in deren Wagen wir nach Stadelheim fuhren, haben in Sachen Schutzweste klein beigegeben.

Vor mir liegen, nebeneinander auf dem Tisch, Der Prozess, Ist das ein Mensch? und Die Ästhetik des Widerstands. Womit anfangen? Mit dem vertrauten Kafka? Oder mit den noch Unbekannten? Und dann, was zuerst? Primo Levi oder Peter Weiss? Ich komme zu keinem Entschluss. Die Bedürftigkeit zieht mich zu Kafka, ich habe alles von ihm gelesen, in seiner Welt kann ich mich bewegen und vielleicht auch Trost finden, jetzt, wo ich selbst Mächten ausgeliefert bin, deren Verhalten unberechenbar ist und undurchschaubar, zumindest für mich.

Oder ist es sinnvoller, mich auf Primo Levi einzulassen, gerade jetzt, bevor ich weiter an meinem Buch über die Frauen im Widerstand arbeite? In die Hölle von Auschwitz zu gehen, geführt von einem, der sie überlebt hat? Begleitet von einem, der in der Lage war, diese Erfahrung in Literatur zu transformieren? Der mit diesem Werk über die reale Hölle den Faden von Dantes Fiktion aufgenommen, einen Bilderteppich des Schreckens und des Überlebens gewoben und dann das brüchige Garn seines Überlebenden-Lebens zerrissen hat?

Ich habe Angst vor diesem Buch. Ich weiß, ich muss es lesen. Ich will es lesen. Aber nicht jetzt. Ich bin noch nicht so weit.

Ich nehme den Peter Weiss in die Hand und überfliege die ersten Seiten. Das Pergamon-Museum? Ich dachte, es geht um kommunistischen Widerstand? Ich mag keine griechischen Heldenleiber. Und jetzt schon gar nicht. Ich blättere enttäuscht weiter. Es geht immer noch um antike Kunstwerke. Ich klappe den Band zu und schlage ihn irgendwo weiter hinten auf. Lese mich fest. »Auch der Dadaismus wies etwas von unsren Neigungen auf, er hatte in die feinen Stuben gespien, er hatte die Gipsbüsten von ihren Sockeln gestürzt und die Girlanden der kleinbürgerlichen Selbstverherrlichung zerrissen, das war uns recht.«

Ja, das war mir auch recht, ich hatte mich in der großen Dadaismus-Ausstellung in Berlin wunderbar amüsiert über den klugen Spott mancher Bilder. Ein paar Mal musste ich sogar kichern, erntete dafür böse oder einfach nur irritierte Blicke anderer Besucher, in einer Ausstellung lacht man nicht! Sie übertrugen die Motive der Bilder eins zu eins in die Gegenwart, und ich musste schon wieder grinsen.

Ich lese weiter bei Peter Weiss, ihm deutlich zugetaner als zu Beginn meiner Lektüre: »Doch für den Ruf nach totaler Zertrümmrung der Kunst hatten wir nichts übrig, solche Parolen konnten sich diejenigen leisten, die übersättigt waren von Bildung, wir wollten die Institutionen der Kultur erst einmal heil übernehmen, sehn, was dort vorhanden war und unserer Lernbegier dienstbar gemacht werden konnte.«

Jein, denke ich, nun schon wieder etwas grantig. Dass er Proletariern nicht unterstellt, sie wollten die Kunst abschaffen, gefällt mir. Aber: Kein wirklicher Prolet schreibt und denkt so wie dieser Ich-Erzähler. Ich weiß das. In meiner gesamten Familie spricht niemand in diesem künstlich anproletarisierten Duktus. Aber gut, es ist Literatur, der Ich-Erzähler eine Kunstfigur.

Aber. Was mich wirklich stört, ist, dass er und seine Genossen Kunstwerke ihrer Lernbegier dienstbar machen wollen. Mehr noch: Sollen. Warum? Warum sollen sie Kunst überhaupt dienstbar machen, und auch nur ihrer Lernbegier? Warum dürfen sie kein direktes Verhältnis zu ihr haben, oder, wo sie das noch nicht können, kein direktes Verhältnis zu ihr entwickeln? Warum darf die Kunst sie nicht bereichern, ihre Phantasie anregen, ihre Sinne beleben, ihnen Schönheit und Geschichten schenken, sie neugierig machen, Ideen, Gedanken, Gefühle in ihnen auslösen? Und damit möglicherweise auch ihre Wiss- und Lernbegier fördern, wenn sie erfahren möchten, wer der Mensch auf dem Bild ist, wie er gelebt, was er getan hat, was die Szene auf dem Bild darstellt, warum es so und nicht anders gemalt ist?

Man kann Kunst bekanntlich zu Geld machen, das tun die Reichen. Aber man soll die Beziehung der Armen zur Kunst nicht darauf beschränken, dass sie sie sich dienstbar machen sollen. Das reduziert die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Armen, der Arbeiter, ebenso wie die mögliche Wirkung von Kunst. Ich merke, wie ich mich aufrege, frage mich, was mich so wütend macht. Vielleicht, dass Peter Weiss oder sein Ich-Erzähler es Proletariern nicht gönnt, sich an Kunst einfach zu erfreuen, zu nähren, ihren Blick zu weiten, ihre Phantasie zu bereichern.

Mein Vater hat die Grundschule besucht, dann eine Lehre gemacht, sie abgebrochen, für den Bäcker Brote ausgetragen. Bis er eingezogen wurde. Nach dem Krieg fand er eine Anstellung in den Stadtwerken, weil ein paar Leute wussten, dass er sich während der NS-Herrschaft anständig verhalten hatte. Mehr als anständig. Von den Werken Giottos, Rembrandts, Monets hatte er noch kein einziges gesehen, bis er eines Tages in den Laden mit den Kunstpostkarten ging. Und endlich die Leidenschaft und die Fähigkeit in sich wahrnahm, die schon immer in ihm vorhanden gewesen waren, denen er aber bisher keinen Raum gegeben hatte. Seither rennt er in jedes Museum, das er finden kann. In Innsbruck geht er auch in die Galerien und sieht sich um. Anfangs war er schüchtern, unsicher, inzwischen unterhält er sich mit den Galeristen.

Schließlich hat er selbst zu malen begonnen, erst die Großen kopiert, dann wurde er immer freier und schuf endlich seine eigene Kunst. Aber dienstbar machen wollte er sich die Kunst nie. Für nichts. Er hat sich gefreut, dass ich Kunstgeschichte studierte, obwohl das ein Höhere-Töchter-Studium war. Er zeigt mir immer, wenn ich zu Besuch komme, seine Bilder, und ich nehme immer mindestens eines mit nach Köln. Und schenke ihm zu jedem Anlass einen dicken Kunstband, den er dann von vorne bis hinten studiert, der ihm Seite für Seite Freude macht, und den er als Inspirationsquelle nutzt.

Klirr, Schlüssel, Tür geht auf. »Frau Strobl, Sie können jetzt zum Zahnarzt.«

Ich bin nicht sicher, ob ich mich darüber freue. Ich habe seit Tagen Zahnschmerzen, aber ein Knast-Zahnarzt? Vielleicht macht der alles noch schlimmer? Wir gehen den Flur entlang, die Treppen hinunter, wieder einen Flur entlang … Ein paar Mädchen stehen herum und starren mich an. Hier unten ist offenbar der Jugendvollzug. Die eine meiner beiden Beamtinnen scheucht sie in ihre Zellen. Jetzt müssen sie wegen der »Terroristin« den Aufschluss abbrechen. Scheiße.

»Ich hab einen Termin beim Zahnarzt!«, sagt eine und bleibt stur stehen. »Ich bin jetzt dran!« – mit Blick auf mich.

»Ich kann warten«, sage ich grinsend. Sie grinst zurück.

Die Beamtinnen sind offenbar unschlüssig, was sie machen sollen. Eine geht Richtung Flur-Ende. Die andere wird von einem Mädchen, das noch vor der Zellentür steht, gerufen. Sie zögert, schaut mich an, geht dann zu dem Mädchen, immer wieder mit Blick in meine Richtung. Ich könnte ja weglaufen. Haha.

Das Mädchen, das auch auf den Zahnarzt wartet, tritt näher an mich heran und sagt leise: »Ich tät gern zur RAF gehen. Kann man da eintreten oder so?« Sie ist höchstens fünfzehn, sechzehn. Hat aber schon zu viel Erfahrung im Gesicht.

»Ja, im Prinzip geht das schon«, antworte ich genauso leise. »Es ist nur … na ja, man muss halt ganz viel mitbringen.«

»Was mitbringen?«

»Also, ganz wichtig sind Sprachen. Du musst zum Beispiel gut Englisch können und Italienisch und Französisch. Weil die RAF arbeitet ja mit den Iren zusammen und mit revolutionären Gruppen in Frankreich und Italien.«

Begeisterung sieht anders aus.

»Und dann musst du eigentlich auch gut in Mathe sein, weil die Ballistik und die ganze Technik bei den Bomben, da muss immer ganz viel ausgerechnet werden.«

»Ah, so.«

»Ja, und was natürlich ganz wichtig ist: Du musst total fit sein! Also täglich trainieren und so, weil du musst dich ja wehren können, wenn sie dich zum Beispiel abgreifen wollen. Die Bullen. Ne?« Ich nicke nachdenklich und murmle noch: »Das ist schon alles ziemlich anstrengend.«

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