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3

Schlüsselrasseln. Langsam gewöhne ich mich daran. Eine Frau in Zivilkleidung, dunkles Wollkostüm, älter als die Beamtinnen, öffnet die Tür. »Grüß Gott, Frau Strobl.« Sie kommt in die Zelle, ich stehe auf, wir sehen uns an. Sie ist die Gefängnisdirektorin, stellt sie sich vor. Prüfender, nicht unfreundlicher Blick. Ich schaue fragend zurück. »Ich hab Ihnen etwas mitgebracht«, sagt sie. Legt einen DIN-A4-Schreibblock und Briefumschläge auf den Tisch. Und drei Bücher. Das andere Geschlecht. Die Buddenbrooks. Eine zweisprachige Ausgabe der Göttlichen Komödie. Diese drei hatte ich mir aus dem Katalog der Gefängnisbücherei bestellt. Es waren die einzigen Bücher im Angebot, die ich lesen wollte, und ich habe dankbar gestaunt, dass es sie da gibt. Briefmarken, sagt die Direktorin mir noch, müsse der Bundesgerichtshof genehmigen. »Und schöne Weihnachten!«

»Danke, Ihnen auch.«

Sie erlaubt sich ein Lächeln.

Ich frage mich, warum sie gekommen ist. Es ist bestimmt nicht ihr Job, Gefangenen Bücher zu bringen. Sie will mich abchecken, überlege ich. Ich passe nicht ins Bild. Richtige politische Gefangene reden nicht höflich mit den Schließerinnen.

Muss ich mich wie eine »richtige« politische Gefangene benehmen? Wecke ich falsche Hoffnungen, wenn ich bin, wie ich bin? Denken sie dann: Die kriegen wir noch zum reden? Muss ich anders auftreten? Aber sie war freundlich. Die Beamtinnen waren bisher auch freundlich. Ich bin keine RAF-Frau, ich unterliege auch sonst keinem Gruppenzwang, ich muss die Beamtinnen nicht als Feinde sehen und mich weigern, mit ihnen zu sprechen. Es gibt für mich keine Verhaltensregeln. Und es gelingt mir nicht, diese Direktorin und die Aufseherinnen zu hassen.

Draußen, aus der Ferne, war das leicht. Das Knastpersonal fiel nicht unter die Kategorie Mitmensch. Das waren die Schließer, die in den Hungerstreiks die Gefangenen zur Zwangsernährung schleppten. Mit denen die Gefangenen aus der RAF nicht sprachen. Büttel des Staates. Der Repression. Des Systems. Ich habe die Terminologie übernommen und ansonsten nicht darüber nachgedacht. Höchstens darüber, wie man freiwillig einen solchen Job machen konnte. Widerlich!

Jetzt sitze ich hier und habe es mit Menschen zu tun. Mit Frauen, die mir bisher nichts Böses wollten. Die bayerisch sprechen. Was fast wie Tirolerisch klingt. Vertraut. Kann es sein, überlege ich, dass die sich alle verstellen? Um mich unvorsichtig zu machen? Um etwas aus mir herauszukriegen? Mein Instinkt sagt: nein. Aber kann ich meinem Instinkt noch trauen? Ist er durch den Schock der Verhaftung geschwächt? Versuche ich, mir etwas schönzureden? Weil ich diese fensterlose Zelle nicht ertrage, die Einsamkeit, das Verlorensein in diesem leeren Kellertrakt?

Ich fühle mich unsicher, verunsichert, trotzig, ratlos. Die Gedanken flattern in meinem Kopf herum wie aufgescheuchte Tauben, die aneinanderprallen, taumeln, in die andere Richtung fliegen, erneut aufeinander losgehen … Im Hintergrund thront die Angst. Die Angst davor, was die mit mir vorhaben. Das Bundeskriminalamt. Die Bundesanwaltschaft. Und wer sonst noch immer. Die Angst, verurteilt zu werden, zu vielen Jahren verurteilt zu werden, meiner Mutter nicht beistehen, nicht zu ihr ins Krankenhaus kommen zu können, wenn sie wieder operiert werden muss. Die Angst, zu ersticken.

Apropos, denke ich. Zünde mir eine Zigarette an. Hallo, Selbstironie, danke, dass du wieder aufgewacht bist! Die Gedanken-Tauben fliegen davon, fürs Erste. Ich beschließe, dass ich fünf Zigaretten pro Tag rauchen darf. Und morgen bitte ich die Schließerin, dass sie, während ich Hofgang habe, die Klappe in der Tür aufstehen lässt und das Fenster gegenüber auf dem Flur öffnet. Dann käme eine Stunde lang frische Luft in meine Zelle.

Ich lege die Bücher nebeneinander. Am meisten freue ich mich über den Dante. Ich wollte die Divina Commedia schon immer in der Originalfassung lesen, im alten Italienisch, und nun kann ich das. Und habe sogar die Zeit dafür, denke ich und muss grinsen. Aber ich muss mir die Lektüre einteilen wie die Zigaretten. In der Knastbücherei gibt es nichts, das ich sonst noch lesen möchte. Und ich habe keine Ahnung, wie lange es dauern wird, bis sie Bücher durchlassen, die mir Freundinnen und Freunde schicken. Also?

Ich schiebe die Bücher hin und her. Am besten, ich lese den Dante morgens, da bin ich noch am frischesten, da ist mein Kopf am klarsten. Eine Stunde morgens. Zwei Stunden? Nein, ich muss sparen! Nachmittags eine Stunde Beauvoir. Abends eine Stunde Thomas Mann. Mal sehen, wie sich Tony Buddenbrook im Knast ausnimmt. Und was mache ich, wenn ich nicht lese? Oder singe?

Die Panik kommt immer aus dem Hinterhalt. Sie kündigt sich nicht an, sie schnürt mir die Kehle zu, einfach so, aus dem Nichts. Die Luft gelangt aus der Kehle nicht mehr in die Brust, ich springe auf, strecke den Kopf nach oben, als könnte die Luft leichter durchkommen, wenn ich den Hals lang mache. Ruhig bleiben, ganz ruhig bleiben, gleich geht es wieder! Hysterie breitet sich in mir aus, überall, im Körper, im Geist, in der Seele, ich will schreien, toben, auf die Wände einschlagen, gegen die Tür treten, ich bin kurz davor es zu tun, ich will das hier nicht, bitte, ich will das nicht!

Ich setze mich auf das Bett, ziehe die Beine an, wiege mich vor und zurück. Vor und zurück. Schau, es geht schon. Geht schon wieder.

Wenn ich weder lese, überlege ich, noch singe, noch Gedichte aufsage, dann schreibe ich eben. Und denke nach. Denken kann man immer.

4

In der Nacht hat es geschneit. Auf dem Boden liegt Schnee, auf einigen Fenstergittern glitzert Reif. Es ist Heiligabend. Ich gehe meine Hofrunde. Konzentriere mich auf den Schnee, den Weg, wage es nicht, den Blick zu heben, denn dann könnten mir die Tränen in die Augen schießen.

Seit ich von zu Hause ausgezogen bin, fahre ich Weihnachten zu meinen Eltern. Immer. Mein Vater hat dann den Baum schon geschmückt. Die roten, goldenen und silbernen Christbaumkugeln an die Zweige gehängt, die roten und weißen Vögelchen und die kleinen Kerzenhalter darangeklemmt, die neuen Kerzen in die Halter gesteckt. All das hätte er auch in diesem Jahr gemacht. Er wäre ein, zwei Schritte zurückgetreten und hätte übermütig das Lametta an den Baum geworfen. Es zurechtgezupft. Mit seinem ironischen Lächeln zu meiner Mutter gesagt: »Jetzt ist sie schon so groß, die Ingrid, und braucht immer noch einen Christbaum.«

Dieses Jahr nicht, Papa. Nicht, dass ich ihn nicht brauchen würde. Aber ich kann nicht zu euch kommen.

Ich möchte mich auf den kalten Boden setzen, in den Schnee, die Augen schließen, mein Gesicht mit den Händen bedecken und weinen. Weinen um meine Eltern, die meinetwegen diesen Horror durchmachen müssen. Die sich vermutlich nicht vor die Tür wagen, denn es könnten sie ja Nachbarn ansprechen. Womöglich lauern sogar Journalisten im Hausflur darauf, dass sie doch noch irgendwann herauskommen. Ich höre das Telefon klingeln, immer wieder und meine Mutter zu meinem Vater sagen: »Geh nicht dran! Geh bitte nicht dran!« Panik in der Stimme, Angst. So viel Angst.

Mama, sage ich stumm, Papa, es tut mir so leid. Es tut mir so furchtbar leid.

»Frau Strobl?« Die beiden Beamtinnen, die mich während der Freistunde bewachen, kommen auf mich zu: »Sie sollen zur Frau Direktor.« Sie führen mich in einen Gebäudetrakt am anderen Ende des Hofs. Die Direktorin sitzt in einem kleinen engen Büro hinter einem großen beladenen Schreibtisch.

»Grüß Gott, Frau Strobl.« Sie deutet auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Ich setze mich. Sie entlässt die Beamtinnen mit einem Kopfnicken.

Dann zieht sie unter einem Stapel Akten einen Umschlag hervor. Sieht mich nachdenklich an. Fährt mit der Hand darüber. Mustert mich noch einmal, schiebt mir den Umschlag hin: »Das ist ein Telegramm von Ihren Eltern. Es ist grad bei uns eingegangen. Ich darf es Ihnen aber nicht geben, ich muss das zuerst an die Bundesanwaltschaft schicken. Zur Überprüfung. Aber an Heiligabend … ja, da kann das dauern mit dem Überprüfen.«

Ich kann es nicht fassen, aber ich habe begriffen. Krächze: »Danke!« Ziehe das Telegramm aus dem Umschlag. »Wir glauben an dich«, steht da. »Wir haben dich lieb. Mama und Papa.«

»Danke«, sage ich noch einmal. Sie schiebt den Umschlag wieder unter die Akten. Ruft die Beamtinnen. »Bringens die Frau Strobl zurück auf den Hof.«

»Sie haben noch eine Viertelstunde«, sagt die eine von ihnen. »Oder wollns lieber hinein?« Ich schüttle den Kopf. Stampfe über den verschneiten Boden, eine Runde, noch eine, noch eine … Der Schnee lastet schwer auf den dünnen Ästen des kleinen Baumes. Ich würde gerne hingehen, den Schnee berühren, mit der Hand darüberstreichen, ein wenig davon nehmen und mir an das Gesicht halten. Tue es nicht. Keine Schwäche zeigen! Keine Emotionen.

»Jetzt müssens aber wieder hinein, Frau Strobl, die Stunde is rum.« Die Beamtinnen ziehen ihre Hände aus den Manteltaschen, in denen sie sie vergraben haben. Als wir vor der Zelle ankommen, schließt die eine Aufseherin das Fenster im Flur, die andere die Klappe in der Tür. Sie haben meine Bitte tatsächlich erfüllt.

»Danke.«

Sie sehen mich erstaunt an. »Ach so, ja, wir haben gefragt, das ist okay. Aber halt nur, solang Sie auf dem Hof sind.«

Ich setze mich auf das Bett und schiele auf das Päckchen Tabak. Ich habe heute von den fünf Zigaretten, die ich mir pro Tag zugestehe, schon drei geraucht. Also, basta! Oder? Heute ist Heiligabend, sage ich mir. Und wenn ich mir noch nicht einmal Tee machen kann, dann darf ich wenigstens eine mehr rauchen als sonst.

Ich habe inzwischen begriffen, dass es nur morgens heißes Wasser gibt. Es wird mit dem Frühstück ausgegeben, und wenn man eine Thermoskanne hat, kann man sich etwas davon abfüllen. Ich habe aber keine. »Thermoskanne beantragen!«, schreibe ich mir auf einen Zettel. Und »Radio plus Batterien«.

Irgendwer ruft. Oder habe ich schon Halluzinationen? Ich stehe auf und schaue hoch zu der Glasscheibe unter der Decke. Sehe Schatten. Höre: »Hallo! Wie geht’s dir? Halt durch!« Dann die wütenden Stimmen von Aufseherinnen: »Weg da, das gibt Bunker!« Und das Brüllen mehrerer Frauen: »Ciaaaaaao!« Ich rufe zurück, so laut ich kann: »Ciaaaaao!!!« Die Schatten verschwinden. Ich werfe der Glasscheibe eine Kusshand zu, hoffe, die Frauen müssen nicht wirklich in den Bunker.

Wenn abends das Licht ausgestellt wird, bleibt es dunkel bis zum Morgen. So etwas wie eine Nachttischlampe gibt es hier nicht. Es gibt überhaupt keinen Strom in der Zelle. Durch die schmale Verglasung oben unter der Decke fällt ein wenig Licht von den Scheinwerfern im Hof herein. Das reicht aber nicht, um zu lesen. Oder den Raum auch nur ansatzweise zu erhellen. So wird das Dunkel zum Gedankenkosmos, in dem Angstszenarien aufleuchten und verglühen, Sätze, die man in Briefen an Freundinnen, den Freund, die Eltern, die Anwälte schreiben will, Selbstvorwürfe, Fetzen von wütenden, anklagenden Artikeln und Erklärungen, die man verfassen möchte, Spekulationen über ein mögliches Strafmaß, Grübeleien zum Thema: Wie schaffe ich es, hier gesund und normal zu bleiben, nicht selbstmitleidig zu werden, wie bringe ich Tag für Tag und Nacht für Nacht den Tag herum und die Nacht, was könnte ich anstellen, damit ich dieses Essen nicht mehr essen muss, aus dem Keller herauskomme, meine Gefühle beherrsche, nicht verzweifle, nicht zu nett bin, endlich einschlafen kann …

Pam, pam, pam. Pampam. Ich schrecke hoch. Wer will jetzt in meine Zelle, mitten in der Nacht? Quatsch, die klopfen ja nicht an! Pampam Pam. Endlich begreife ich: Das ist eine der Gefangenen. Sie schickt mir Klopfzeichen! Und ich dumme verkopfte Idiotin habe keine Ahnung, was da was bedeutet! Wie kann ich ihr antworten? Wie kann ich ihr zeigen, dass ich sie höre und mich freue? Sie probiert es noch einmal. Ich klopfe zurück, wild, pampampampam, einfach nur, um ihr zu signalisieren: Ich hab dich gehört. Ich grüße dich! Danke!

Es kommt noch ein Pam. Dann herrscht wieder Stille. Stille Nacht, heilige Nacht. Ich setze mich im Bett auf und singe das Lied. Leise, bis zur letzten Strophe. Dann lege ich mir das Kissen über den Kopf und weine.


Wie gut kann man sich an etwas erinnern, das vor dreißig Jahren geschehen ist? Ich versuche, mir mich vorzustellen, damals, mit Mitte dreißig: Feministin, promovierte Germanistin und Kunsthistorikern, Print- und Fernsehjournalistin, Autorin in progress eines Buches über Frauen im bewaffneten Widerstand gegen Faschismus und deutsche Besatzung, alleinlebende Katzenmutter, liebende Tochter und Politfrau von der radikalen Sorte.

Ich konnte mich sowohl auf Tirolerisch als auch auf Hochdeutsch über Alltagsthemen, Literatur, Musik und Kunst unterhalten, auf Englisch, Französisch und Jiddisch Interviews führen und in der jeweils angesagten Terminologie über Adorno, Walter Benjamin, Luce Irigaray und die RAF debattieren. All das empfand ich damals als normal, so war ich halt: mehrsprachig. Ich liebe Sprachen.

In meinen Akten gab es einen Vermerk, ich hätte mit der Verkäuferin in dem Juweliergeschäft, in dem ich den Wecker gekauft hatte, so freundlich gesprochen. Was mir von den Herren Bundesanwälten als höchst raffinierte Camouflage ausgelegt wurde. Worüber ich bei aller Wut auch lachen musste. Meine Mutter war Verkäuferin, ich selbst habe in den Schulferien und neben dem Studium im Kaufhaus gejobbt, natürlich bin ich freundlich zu Verkäuferinnen.

Aber … diese Vielseitigkeit, Mehrsprachigkeit, die ich heute als Reichtum empfinde, als Offenheit – habe ich die damals auch so gesehen? Kann ich rekonstruieren, was ich damals an mir gut, richtig und wichtig fand und was unentschlossen, feige, bequem? Im Alltag und auch als Emma-Redakteurin habe ich meine Vielseitigkeit wohl einfach gelebt, ohne darüber nachzudenken. Aber da, wo es explizit um linke Politik ging, der ich mich grade wieder annäherte, da habe ich, in dem Glauben, das bedeute klar zu sein, entschlossen, mutig, mit denen sympathisiert, die sich auf einen eingleisigen Weg begeben hatten.

Mein Feminismus hat mich nicht davon abgehalten. Die Frauenbewegung bot nicht die radikalen Mittel, nach denen ich mich sehnte. Ich wollte mehr. Ich wollte etwas, das das zerstörte, was ich verabscheute. Ich empfand eine maßlose Wut. Wut darüber, dass sich deutsche Männer Frauen aus Katalogen bestellen oder mit dem Billigflieger in arme Länder reisen konnten, um sich dort eigenhändig Frauen zu kaufen. Dass dieser Staat und seine Richter Menschen, die hierher geflohen waren, zurückschickten in ihr Herkunftsland und damit in Folter und Tod. Und dass, wie ich dachte, niemand etwas gegen all das unternahm.

Niemand im legalen Bereich, wo, meiner Ansicht nach, »nur« Betroffenen geholfen, das Übel aber nicht bekämpft wurde. Und auch die RAF nicht. Die tötete Menschen, »Vertreter des Systems«. Sie tötete aber auch den Chauffeur eines ihrer Angriffsziele, Polizisten, einen US-Soldaten, um an seinen Ausweis zu gelangen … Die Sprecherinnen und Sprecher der RAF traten autoritär auf, im Befehlston, Chefs, die Angestellte kommandieren. Im festen Glauben, sie seien die Einzigen, die wüssten, wo es langgeht.

Dafür war ich zu sehr Anarchistin, zu antiautoritär, zu sehr auch geprägt von meinem Vater, der Menschen verachtete, die dachten, sie hätten das Recht, andere zu kommandieren. Oder gar zu töten.

Als ich entdeckte, dass es doch Leute gab, die militant etwas unternahmen gegen Ausbeutung, Frauenhandel, den Umgang mit Flüchtlingen, hätte ich diese Leute – die Revolutionären Zellen – gerne zumindest unterstützt. Und lieber noch mehr: Zu ihnen gehört. Nicht mehr nur anklagen und gegen das Unrecht anschreiben, sondern etwas tun. Nicht mehr nur eine Frau des Wortes sein, sondern eine der Tat.

5

Das neue Jahr hat begonnen, die Situation normalisiert sich allmählich in der Abnormität der Isolationshaft. Hartmut Wächtler, mein Münchener Anwalt, hat mich wie versprochen wieder besucht. Er erzählte mir, dass meine Eltern endlich eine Besuchserlaubnis bekommen haben, und er sich nun darum bemüht, dass dieser Besuch nicht, wie bei politischen Gefangenen vorgeschrieben, hinter der Trennscheibe in Stadelheim stattfinden muss. Sondern im normalen Besuchsraum in Neudeck laufen kann.

Edith Lunnebach schreibt mir, dass es bereits eine beeindruckende Solidarität gibt, dass ganz viele Leute wissen wollen, wie es mir geht und was ich brauche, dass die Kölner Stadtrevue meinen »Fall« begleiten wird, dass Pilar aus Madrid sich bei ihr gemeldet hat und mir sagen lässt, sie soll mir von Fifi und Chico ganz herzliche Grüße bestellen. Diesen Satz habe ich dreimal gelesen. Mindestens. »Meine« Spanierinnen …

Ich wollte in Spanien Anarchistinnen interviewen für mein Buch über Frauen im bewaffneten Widerstand. Ich habe Enzensbergers Der kurze Sommer der Anarchie gelesen, und diese Lektüre hatte mir die Rolle, die die Kommunistische Partei im Spanischen Bürgerkrieg gespielt hatte, nicht gerade sympathisch gemacht. Freundlich ausgedrückt. Pilar Panes Casas, eine Freundin und freie Autorin, die ich als Redakteurin bei Emma betreut hatte, wollte mir dabei helfen. Was heißt helfen. Ich spreche kein Spanisch, ich kenne niemanden in diesem Land, ohne Pilar hätte ich die Kapitel zum Spanischen Bürgerkrieg überhaupt nicht planen können. Sie fand bloß keine Anarchistinnen. Dafür waren zwei Kommunistinnen nach langem Hin und Her – »Was ist das für eine? Warum interessiert die sich ausgerechnet für uns Frauen? Was will die wissen?« – bereit, mit mir zu reden: Fidela Fernandez de Velasca Perez, genannt Fifi und Julia Manzanal, genannt Chico.

Sie haben uns, Pilar und mich, wie Gäste empfangen. Mit Kaffee, Obst, Kuchen – und was zum Verdauen, wie sie es nannten. Sie waren sechzehn gewesen, als sie in den Kampf gegen die Faschisten zogen. Als sie sagten: Wir wollen die Republik verteidigen! Aber nicht, indem wir für die Partisanen kochen und ihre Kleider flicken. Sondern indem wir selbst mit der Waffe in der Hand kämpfen, als Partisanas! Sie hatten allen Geschlechterklischees widersprochen, waren schrecklich mutig gewesen und hatten bitter dafür gebüßt. Mit vielen Jahren im Gefängnis. Einem prekären Leben unter dem Franco-Regime nach der Entlassung. Und Anfeindungen von Nachbarn, die sie als Huren beschimpften.

Bei der ersten Tasse Kaffee und dem ersten Stück Kuchen nahmen sie mich in Augenschein. Stellten Fragen. Nachfragen. Warum ich mich für sie interessiere? Warum ich ein Buch über Frauen im bewaffneten Widerstand schreiben wolle? Wie ich auf sie gekommen sei? Ich antwortete so gewissenhaft ich konnte. Hielt ihren prüfenden Blicken stand. Erklärte ihnen, dass meine Eltern die Nazis gefürchtet und gehasst und mich entsprechend erzogen hatten, dass ich mich schon seit vielen Jahren mit dem Widerstand gegen Faschismus und Nationalsozialismus beschäftige – und dabei immer auf die gleiche Rollenverteilung stoße, egal, ob im faschistischen Italien und Spanien oder im nationalsozialistischen Deutschland und in den von den Deutschen besetzten Ländern: Immer sind es die Männer, die kämpfen. Während die Frauen die kämpfenden Männer versorgen und bestenfalls noch die illegalen Zeitschriften vertreiben. Dass ich schließlich ein Foto sah, auf dem an drei Galgen zwei Männer und eine Frau hängen. Alle drei in der Uniform der sowjetischen Partisanen. Dass ich mir von dem Moment an sicher war: Es gab auch Frauen, die gegen den Faschismus und die deutsche Besatzung mit der Waffe in der Hand gekämpft haben. Und ich will diese Frauen aus dem Dunkel ans Licht holen. Ihnen die Ehre erweisen.

Schließlich entspannten sie sich. Nicht völlig, aber doch genug, um ins Erzählen zu kommen. Bald freuten sie sich auch ganz offen, dass ich mich für sie, für das, was sie damals getan und gedacht hatten, interessierte. Ich wiederum verwarf mein Klischeebild von einer spanischen Kommunistin der Dreißigerjahre. Und jetzt lassen sie mich grüßen, versichern mich ihrer Solidarität!

Überhaupt passiert gerade viel Gutes. Man hat ein Buch, das mir jemand geschickt hat, durchgelassen: Primo Levis Ist das ein Mensch?. Ich habe den Band beiseitegelegt, diese Kostbarkeit, denn ich bin noch mit den Buddenbrooks beschäftigt. Die habe ich, natürlich, während des Studiums gelesen – als germanistische Pflichtlektüre. Henri IV, überhaupt Heinrich Mann war mir lieber gewesen, damals. Und jetzt lese ich plötzlich diesen Klassiker unter den Klassikern gerne, bin berührt, versinke in der Geschichte. Realitätsflucht?

Und wenn. Was nützt es, diese Kellerisolationsrealität ständig präsent zu haben? Ich habe draußen, in der Freiheit, umgeben von Menschen, auch viel gelesen, bin in andere Welten, andere Jahrhunderte, andere Situationen entschwunden, obwohl ich keinen Grund hatte zu flüchten. Lesen ist ein permanentes Erweitern des Horizonts, des Blicks, der Wahrnehmungsfähigkeit, ein Nähren des Vorstellungsvermögens, der Phantasie, es ist Erweiterung, nicht Flucht. Es kann als Trost dienen, ja, als Zuflucht, auch als Ablenkung, doch bei jedem Zuklappen des Buches ist man wieder in der realen Welt. Ob man will oder nicht. Und doch hat man von Schönheit getrunken, sich mit Bildern gesättigt, den eigenen Schmerz für eine Weile vergessen in der Versenkung in das Leid, das Glück, die Gedanken und Abenteuer der Protagonisten.

Wenn jetzt mehr Bücher ankommen, darf ich auch mehr Dante pro Tag lesen. Als die Knastdirektorin mir die Göttliche Komödie brachte, habe ich den Band ein wenig durchgeblättert, dann auf einer Seite aufgeschlagen und, so wie man ein Orakel sucht, blind mit dem Finger auf eine Stelle getippt. Die Augen geöffnet und gelesen: »Als ich auf halbem Weg stand meines Lebens, fand ich mich einst in einem dunklen Wald.«

Ja, habe ich gedacht. Ich auch. Bin aufgestanden, von der Tür zum Fenster gegangen und zurück, habe versucht, tief durchzuatmen. Habe mich erst einmal nicht getraut, weiterzulesen.

Dann habe ich brav mit dem Anfang des »Inferno« begonnen. Aber ich komme nicht richtig voran. Die Begeisterung ist mir abhandengekommen, die Neugier. Ich lese immer erst auf der linken Seite zwei, drei Zeilen des italienischen Originals. Schaue, wie viel ich davon verstehe. Und lese dann auf der rechten Seite die deutsche Übersetzung. Tue ich mich deshalb so schwer mit der Lektüre? Nein, ich glaube nicht, dass das der Grund ist. Die antiken Protagonisten, denen Dante in der Hölle begegnet, sind mir fremd, ihre Geschichten berühren mich nicht. Vielleicht ist das »Inferno« auch kein passender Stoff für den Knast? Zu vermeintlich nahe und dabei zu weit weg? Für mich scheint es so zu sein. Jetzt gerade zumindest. Vielleicht ändert sich das noch.

Ich habe Edith Lunnebach gebeten, den Leuten, die mir Bücher schicken wollen, zu sagen: Ich wünsche mir Kafka. So viel Kafka wie möglich. Ich mag Kafka. Und was kann man, wenn man sich in einer kafkaesken Situation befindet, besseres tun, als das Original zu lesen?

Wenn ich die Augen schließe, höre ich wieder das Konzert. Das mich immer noch fassungslos macht. Als ich am ersten Weihnachtstag beim Hofgang war, erklang plötzlich Musik. Blasinstrumente. Ein Horn, eine Trompete, ein Saxofon. Ein Fagott? Erst dachte ich, das kommt aus einem Radio, sah hoch zu den Zellen, aber dafür klang es zu fern. »Das ist für dich! Das spielen welche für dich!«, rief eine Frau aus dem Fenster, »Ja!«, riefen andere. »Ruhe!«, brüllten meine Aufseherinnen. Ich versuchte, etwas jenseits der Mauern zu erkennen, aber da waren nur die vier Wände des Gefängnisgebäudes. Und darüber der Himmel.

»Es ist ein Ros entsprungen« spielten sie, die unbekannten Musiker. Musikerinnen? »Stille Nacht, heilige Nacht«. »Sie müssen jetzt hinein«, sagte eine der beiden Aufseherinnen, sie drängten mich Richtung Tor, die Musik wurde übertönt vom Schlüsselklirren, dem Zuschnappen der Tür. Ich weiß noch immer nicht, wer dieses Konzert veranstaltet hat, und ob es wirklich mir galt. Aber es war herzzerreißend schön.

»Besuch, Frau Strobl.« Nein, nicht schon wieder nach Stadelheim! Wer soll mich denn jetzt besuchen? Hartmut war grade da, ich habe keinen Antrag gestellt, für die Eltern ist es noch zu früh. Die Bullen! Das kann nur das BKA sein. »Ich will diesen Besuch nicht«, sage ich. »Warum nicht?«, fragt die Beamtin erstaunt. »Das ist eine Dame von Ihrer Botschaft!«

Wir fahren nicht nach Stadelheim. Die Dame von der österreichischen Botschaft darf mich in Neudeck besuchen. Ohne Trennscheibe. Sie ist sehr höflich. Lässt sich nicht anmerken, was sie davon hält, dass sie eine mutmaßliche Terroristin im Knast fragen muss, ob sie etwas benötigt. Mir wiederum fällt, so überrumpelt, nichts ein. Ich beschreibe ihr kurz die Kellerzelle, sage, dass ich da nicht bleiben möchte. Und dann fällt mir doch noch etwas ganz und gar Existenzielles ein.

»Ich brauche eine Schreibmaschine«, sage ich. »Ich will hier das Buch schreiben, für das ich vor meiner Festnahme recherchiert habe. Für das ich bereits einen Vertrag mit dem Fischer Taschenbuch Verlag habe. Für das es bereits einen Erscheinungstermin gibt.«

Letzteres ist gelogen. Alles andere ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

»Ich gebe das gerne weiter«, erwidert sie, steht auf und verabschiedet sich mit erlesener Höflichkeit.


Je länger ich an diesem Text schreibe, desto deutlicher wird mir bewusst, an wie wenig ich mich noch erinnere. Dreißig Jahre sind eine lange Zeit. In der viel passiert ist. Ich denke nicht, dass ich etwas verdränge, die wirklich wichtigen Erlebnisse, Erfahrungen, Erkenntnisse, Gefühle, auch die schmerzhaften, sind mir, glaube ich, alle noch bewusst. Was mir nicht mehr einfällt, ist eher, wie lange etwas gedauert hat, wie etwas, das man mir erlaubt oder verboten hat, begründet wurde und wann das war, welches Buch ich wann gelesen habe, wann ich die erste Radiosendung schreiben konnte …

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich im Keller war, und wann man mich nach oben brachte, »auf Station«, in eine normale Zelle, in der ich aber weiterhin isoliert war. Ich weiß allerdings noch sehr genau, dass von da an immer wieder Frauen vor meiner Zelle standen, allen voran die beiden Monis, und mit mir durch die verschlossene Tür hindurch geredet haben. Sie wurden vertrieben, mit Einschluss oder gar mit Bunker bedroht, und kamen am nächsten Tag wieder, nachmittags, sobald sie Aufschluss hatten. Ich habe keine Ahnung, worüber wir geredet haben, viel war es ohnehin nicht, aber ich weiß noch, wie gut es mir getan hat. Und welche Sorgen ich mir gemacht habe, dass man sie vielleicht wirklich in den Bunker sperrte. Was aber nie geschah. Zumindest nicht meinetwegen.

Wenn die Frauen Hofgang hatten, habe ich aus dem Fenster geschaut, und wir haben uns zugewinkt. Es war schön, das jetzt tun zu können. Es war schön, jetzt jederzeit den Baum im Hof sehen zu können. Es war schön, das Gesicht an die Gitter gepresst in Richtung Sonne halten, den Wind auf den Wangen spüren, den Arm hinaus in den Regen strecken zu können. In den ersten Tagen nach der Kellerisolation habe ich immer wieder das Fenster geöffnet, um die Luft einzuatmen. Um hinauszuschauen ins »Freie«, auch wenn es nur bis zum gegenüberliegenden Gefängnistrakt reichte.

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9783960542292
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