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Читать книгу: «Am Himmelreich ist die Hölle los», страница 2

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„Gerne. Doch erst einmal ankommen. Tulum müssen wir uns auch anschauen. Eine gut erhaltene Festung der Mayas, hoch oben über den Klippen. Sie haben schon zu damaliger Zeit Leuchtfeuer für ihre Seefahrer entzündet, damit sie heil durch die gefährlichen Riffe kamen. Wenn allerdings ein Angriff drohte, löschten sie diese, und die Schiffe schlugen dort leck und versanken. Es sollen noch etliche Wracks am Meeresgrund liegen.“

„Oh, dann könnten wir danach tauchen!“ Die Vorstellung, in der kühlen Karibik zu tauchen, erfüllte sie mit neuer Energie.

„Na ja, ich weiß nicht. Hier gibt es Haie.“

„Oha, na dann …“

„Aber wir können in den Cenotes tauchen. Das sind Süßwasserhöhlen, die ein weit verzweigtes Netz haben. Manche haben sogar Zugang zum Meer. Und dann gibt es noch die Pyramide Chichén Itzá. Dort wurden Menschenopfer dargebracht.“

„Igitt!“, erwiderte Gerda spontan. „Vielleicht spukt es da.“

Rolf brach in lautes Gelächter aus. „Du mit deinem Geisterunsinn!“

„Lach du nur. Du wirst sehen. Es gibt ein Leben nach dem Tod!“, beharrte Gerda.

„Halt! Hier müsste es ein!“ Gerda beugte sich ein wenig vor, um besser sehen zu können. Auf der rechten Seite befand sich der „Parkplatz“ mit dem Hinweisschild „El Paraíso Resort“. Ein großer Sandplatz, den Buschwerk und Palmen umsäumten.

Gegenüber stand anscheinend das Hauptgebäude, eingerahmt von gigantischen Bougainvilleas in leuchtendem Pink.

Ein letztes Schlagloch wurde vorsichtig überwunden, und gleich darauf parkten sie an einem schattigen Platz.

Zuvor hatten sie die asphaltierte Straße gegen einen sandigen Naturweg eintauschen müssen und fürchteten schon, sich verfahren zu haben. Für eine Weile begleitete sie der entsetzliche Verwesungsgeruch eines überfahrenen Stinktiers, dann glich die Fahrt auf dem unebenen Untergrund eher einem Rodeo-Ritt.

„Wir lassen besser nichts im Wagen“, empfahl Rolf.

Er wuchtete die Reisetaschen aus dem Auto und drückte seiner Frau eine davon in die Hand.

Augenblicklich brach ihnen der Schweiß aus allen Poren.

„Es wird immer schwüler“, bemerkte Gerda. Sie überquerten die „Straße“ und kämpften sich durch den lockeren Sand zum Seiteneingang.

„Oh, sieh nur!“ Gerda stieß einen Entzückungsruf aus. Vor ihnen breitete sich ein kleiner durchlässiger Palmenhain aus, und gleich dahinter, etwas abschüssig, glänzte völlig unbescheiden die Karibik in ihrem einzigartigen Smaragdgrün, das sich, je weiter man hinausschaute, in ein tiefes Türkis verwandelte. Einladend spiegelglatt präsentierte sie sich den Neuankömmlingen.

„Lass uns als Erstes ein Bad nehmen“, rief Gerda enthusiastisch.

„Nicht so stürmisch, junge Frau. Erst die Anmeldung und dann unser Quartier beziehen.“

Rolf trat in das offene Gebäude ein und stand auch sofort der Rezeption gegenüber. Ein enormer Propeller an der Decke verwirbelte die heiße Luft.

Eine junge blonde Frau mit Pferdeschwanz lächelte ihnen entgegen. Ihr leichtes Sommerkleid umspielte ihren braungebrannten Körper im Luftstrom des Ventilators. „Herzlich willkommen!“, sprach sie die beiden auf Deutsch an. „Hattet ihr eine gute Reise?“

„Ja, danke! Abgesehen vom Gestank eines überfahrenen Stinktiers haben wir uns tapfer hierhergeschaukelt.“

Die junge Frau lachte und reichte die Hand zur Begrüßung. „Daran gewöhnt man sich, wenn man hier länger lebt. Ich bin Vera. Wenn ihr etwas wissen wollt oder etwas braucht, könnt ihr mich jederzeit fragen. Möchtet ihr zuerst eure Cabaña sehen? Oder sofort die Anmeldung vornehmen?“

„Ich würde gerne so schnell wie möglich ins Meer springen“, sagte Gerda und pustete eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Na, dann kommt.“ Sie schaute auf die Uhr, die hinter ihr an der Wand hing. „Ja, dann solltet ihr euch beeilen, ab 17.00 Uhr wird es regnen.“

„Oh, ist der Regen hier immer so pünktlich?“, staunte Gerda.

„Ja, tatsächlich. In der Regenzeit kann man davon ausgehen, dass sich ab 16.30 Uhr der Himmel zuzieht, und spätestens um 17.00 Uhr beginnt es zu regnen und kommt mitunter auch zu Gewittern. Ich will euch keine Angst machen, aber auch Hurrikans sind in dieser Zeit möglich. – Habt ihr schon mal tropischen Regen erlebt?“, versuchte sie die beiden abzulenken, als sie Rolfs bedenklichen Gesichtsausdruck bemerkte.

„Nein, noch nicht.“

„Ist ein tolles Schauspiel, das ihr von eurer Veranda aus genießen könnt.“

„War doch richtig schön, gestern Abend.“ Gerda räkelte sich genüsslich im Sand in der kleinen Bucht, die sie und Rolf auf ihrer Fahrt mit dem gemieteten Motorboot entdeckt hatten. Sie war menschenleer und traumhaft schön. Möglicherweise war sie vom Land aus unzugänglich. Laut Vera, der Besitzerin von „El Paraíso“, gab es noch undurchdringlichen Dschungel in dieser Gegend. Schlangen, Skorpione und sogar Jaguare lebten hier. Ebenso Leguane, die ihnen ständig auf ihren Wegen begegneten.

„Schön war vor allen Dingen, dass sich unsere Kleine aufrichtig gefreut hat, uns zu sehen“, schwärmte Rolf. „Aber sag, was hältst du von diesem Dave?“ Rolf merkte man bereits an, dass er nicht sehr begeistert war.

„Ist okay! Hauptsache, Sabrina lässt sich emotional nicht zu sehr auf ihn ein. Er ist ein Abenteurer. Dennoch wird er bei ihrer weiteren gemeinsamen Tour gut auf sie aufpassen, und das sollte uns eine Beruhigung sein. Aber ein Mann fürs Leben ist ER sicher nicht!“

„Das Gefühl hatte ich auch!“ Rolf schien erleichtert. Seine Kleine war viel zu jung für eine feste Bindung.

„Meinst du nicht, dass wir so langsam zurückfahren sollten?“ Gerda stützte sich auf die Ellenbogen, als sie sich aufrichtete und zum kleinen Motorboot hinüberschaute. Ein offenes Sportboot mit Außenbordmotor, das sie sich unweit ihrer Anlage geliehen hatten.

„Wie spät mag es denn sein?“, fragte Rolf zurück.

„Keine Ahnung, vielleicht vier Uhr? Dem Glücklichen schlägt keine Stunde, mein Schatz.“

„Na dann komm mal her, du Glückliche. Bist du schon mal an einem Strand in der Karibik vernascht worden?“

„Rolf! Wir sollten wirklich los“, lachte Gerda.

„Du hast mir honeymoon versprochen“, entgegnete Rolf und zupfte sanft mit seinen Lippen an ihrem Ohrläppchen.

„Schatz, der Regen …“, hauchte sie halbherzig.

„Wie aufregend“, flüsterte Rolf.

Als sie später das Boot ins Wasser schoben, lächelten sie sich glücklich an.

Das Meer zeigte sich kristallklar, als das Boot die Wasseroberfläche zügig durchschnitt. Gerda stand neben ihrem Mann am Ruder und genoss die Fahrt.

Als sie sich umdrehte, um einen letzten Blick zur Bucht zu werfen, erschrak sie. Hinter ihr baute sich eine Wetterfront tiefschwarz auf. Das Meer unter ihr verdunkelte sich beängstigend.

„Rolf!“, rief Gerda beunruhigt und deutete nach hinten.

„Das schaffen wir. Mach dir keine Sorgen.“

Doch gleich darauf wurde die See unruhig.

Gerda suchte ihren Anleger auszumachen, um die Entfernung abzuschätzen. Er schien noch entsetzlich weit entfernt. Wieder drehte sie sich um. Die dunklen Wolken kamen rasch näher. Der Wind frischte weiter auf, und die Wellen wurden immer höher.

Gerda biss sich auf die Unterlippe. Nur nicht in Panik verfallen. Das würde ihnen jetzt auch nicht weiterhelfen.

Das Wasser hatte augenblicklich ringsherum eine bedrohliche Ausstrahlung angenommen. Das kristallklare Smaragdgrün hatte sich in undurchsichtiges Dunkelgrau verwandelt. Das Boot wurde durch die entgegenkommenden Wellen emporgehoben, so dass der Außenborder auf deren Kamm ins Leere drehte, um dann mit einem Klatschen wieder auf der Wasseroberfläche zu landen. Gischt spritzte ihnen entgegen und durchnässte sie.

„Halt dich gut fest!“, versuchte Rolf den Sturm zu übertönen. Unaufhaltsam rückten die Wolken wie eine Wand immer näher, während das gewaltige Tosen der Wellen das Boot wie eine lächerliche Nussschale behandelte. Weit oben durchzuckte ein Blitz den Himmel.

„Scheiße, Rolf! Gewitter!“, schrie Gerda. Um sie herum türmten sich die Wassermassen auf und der Strand war nur noch von den Gipfeln der Wellen aus zu sehen.

Rolf als erfahrener Bootsmann schaffte es, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, und steuerte stetig darauf zu.

„Sollen wir nicht lieber vorher an Land gehen?“, rief Gerda und blickte Rolf ängstlich an.

„Geht nicht! Da sind überall große Steine im Meer“, schrie Rolf zurück und behielt eisern den Kurs.

Die nächste Welle brachte Gerda zu Fall. Hilflos lag sie zu Rolfs Füßen.

„Bleib liegen und halte dich da unten fest!“, befahl Rolf, der breitbeinig versuchte, das Schaukeln auszugleichen. Das Ruder hielt er mit beiden Händen fest umklammert.

Im nächsten Moment brach der Regen über sie herein. Ein tropischer Guss, der Massen an Wasser mit sich führte.

Gerda lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden, als sich das Geräusch des Motors veränderte. Rolf drehte offensichtlich bei, die Wellen dienten jetzt als Beschleuniger und kurze Zeit später knirschte Sand unter dem Boden. Rolf schaltete den Motor aus und sprang auf den Strand. Kräftig zog er das Boot an Land.

„Kannst du aufstehen oder hast du dich verletzt?“, rief er.

„Ich komme.“ Mit wackeligen Beinen erhob sich Gerda, und Rolf streckte ihr die Hand entgegen. Sie kletterte aus dem Boot, und beide lagen sich in den Armen, während der Regen unablässig auf sie herniederprasselte.

„Wir haben es geschafft!“, jubelte sie. Rolf ließ sie nicht mehr los. „Komm! Wir müssen hier verschwinden.“

Hand in Hand rannten sie in Richtung Unterkunft, als plötzlich ein greller Blitz in den Boden einschlug, der mit seinem gleichzeitigen Donner das Ende verkündete – ihr Lebensende.

***

Zurück in der Gegenwart

Gerda und Rolf waren wie erstarrt, als Iwan den Duschvorhang zur Seite riss. Er lachte erleichtert auf, und während er mit Anton sprach, gestikulierte er übertrieben mit den Händen. Beim Verlassen des Bades klatschte er dem Jüngeren noch auf den Rücken.

„Na, das ist ja noch mal gut gegangen!“

Gerda und Rolf befanden sich mittlerweile in der Küche und gingen dort in sicherer Entfernung das Erlebte noch einmal durch.

„Ich war auch ganz schön erschrocken!“, erwiderte Gerda. „Irgendwie hab ich mich noch immer nicht daran gewöhnt, dass wir nicht gesehen werden.“

„Wir haben ja auch noch nie jemanden absichtlich beobachtet. Das ist neu für uns.“ Rolf blickte seine Frau erleichtert an.

„Aber irgendwie war es schon komisch.“ Gerda schien nachdenklich. „Ob Anton uns doch wahrgenommen hat? Warum hat er sonst Iwan gerufen? Der hat sogar tatsächlich hinterm Vorhang nachgesehen, wo wir uns aufgehalten haben.“

Seitdem sie beide, Rolf und Gerda, gemeinsam vor vier Jahren abrupt aus dem Leben gerissen worden waren, hielten sie sich in ihrem Haus und auf dem Grundstück auf, das nun ihre Tochter weiterführte.

So hatten sie sich ihren Tod eigentlich nicht vorgestellt.

Rolf hatte sowieso nie an ein Leben nach dem Tod geglaubt. Für ihn war dieser Zustand genauso eine Überraschung wie für Gerda.

Sie dagegen war zu Lebzeiten davon überzeugt gewesen, dass sie im Augenblick des Sterbens durch einen Tunnel ins Licht gelangen würde. Dort würde sie auf ihre Ahnen stoßen, verstorbene Freunde treffen und sogar ihren Lieblingshund aus der Kindheit. Lichtwesen, die sie Engel nannte, würden sie an die Hand nehmen und begleiten.

Doch nichts von alledem war eingetroffen.

Und nicht nur das! Sie waren allein. Zwar waren sie noch immer zusammen, aber sonst gab es in ihrer Umgebung niemanden, mit dem sie sich hätten austauschen können.

So blieben sie im Haus und begleiteten ihre Tochter tagtäglich rund um die Uhr. Schlaf war nicht mehr nötig. Wären sie nicht zu zweit, wäre dieses Leben, ach nein, war ja kein Leben mehr, also dieser Zustand öde und langweilig. Immerhin konnten sie auf diese Weise ihrer Tochter noch nahe sein und an ihrem Alltag teilhaben.

***

Mark ließ sich im siebten Stock seiner Hamburger Wohnung mit Blick auf die Elbphilharmonie auf den Designerstuhl fallen und vergrub den Kopf in seine Hände, die Ellenbogen auf den teuren Glastisch gestützt.

Doch im nächsten Augenblick öffnete er die Augen, sprang wie von einer Tarantel gestochen auf und warf voller Zorn den Tisch um, dessen Sicherheitsglas leider nicht zerbrach, so wie er es sich wünschte.

Dieser Tisch war ihm schon die ganze Zeit über ein Gräuel gewesen. Olga zuliebe hatte er ihn gekauft, genauso wie die blitzhässlichen, aber dafür sauteuren Stühle. Die ganze Wohnung hatte sie umgekrempelt, als sie bei ihm einzog. Ganz geschickt und in Nullkommanichts. Er hatte ihren Schmeicheleien einfach nicht widerstehen können. Sie hatte es verstanden, ihre Reize geschickt einzusetzen. Ihn hinzuhalten und auszuhungern, bis er schließlich alles kaufte, was sie sich wünschte.

Seine Freunde hatten nur verwundert den Kopf geschüttelt. Sie verstanden nicht, wie er, Mark Foster, der erfolgreiche Programmierer, sich so hatte ausnehmen lassen.

Er verstand sich selbst auch nicht mehr. Tief in seiner Seele hatte er gewusst, dass sie ihn nur benutzte.

Als er sie kennenlernte, fühlte er sich wie in einer Kinoszene mit Marilyn Monroe, nur dass sie nicht blond war. Ihre High Heels waren in einem Bodengitter steckengeblieben und ihr eng anliegendes kurzes Kleid erlaubte es ihr nicht, sich danach zu bücken. Er half ihr und mit ihrer melodischen dunklen Stimme und dem faszinierenden rollenden „R“ hatte sie ihn als ihren Retter geadelt und sich auf verführerische Weise zu bedanken gewusst. Zunächst mit einem Drink in einer Bar, dann mit einem Glas Champagner in seinem Bett.

Nicht lange danach stand der Hochzeitstermin fest. Gerade rechtzeitig, bevor sie das Land hätte verlassen müssen. Was für andere ganz offensichtlich war, davor verschloss er die Augen.

Olga war für ihn eine Fleisch gewordene Göttin. Eine russische Göttin. Gab es so etwas überhaupt? Egal, für ihn schon. Ein hinreißendes Geschöpf. Volles, lockiges, langes schwarzes Haar umgab ein zartes Gesicht mit hellem Teint und dunklen, glutvollen Augen. Ein Blick genügte, und sie hatte ihn in ihren Fängen, die ihn nicht mehr losließen. Ihr rollender Akzent intensivierte den Klang ihrer Stimme, die mal verführerisch sanft, mal strafend-fordernd klang. Teufel und Engel in einer Person. Dazu ihre perfekte Figur mit den geschmeidigen Bewegungen. Keine andere Frau hätte sich mit ihr messen können. Sie zog ihn in ihren Bann. Mit Haut und Haaren. Bis er ihr schließlich hörig war.

Hörig – darüber hatte er sich bei anderen lustig gemacht, es als idiotische Schwäche bezeichnet. Nun hatte ihm das Schicksal wohl gezeigt, dass man andere nicht verspotten sollte. Denn ihm war jetzt das Gleiche passiert.

Doch er hatte die Kurve gekriegt, gerade noch rechtzeitig, und sie rausgeschmissen. Na ja, eine gnädige Fügung hatte ihm dazu verholfen. Er konnte seinem Schöpfer auf Knien dafür danken, dass ihm das geschehen war.

Eigentlich der Klassiker.

***

„Du hohle Schlampe!“, brüllte Rasputin sie mit hochrotem Gesicht an, kaum dass die junge Frau ihm gestanden hatte, was passiert war.

Die Ohrfeige traf Olga mit voller Wucht, obwohl sie Ähnliches schon befürchtet und sich innerlich gewappnet hatte, warf es sie zu Boden. Die dunklen Locken ihres seidigen Haares bedeckten ihr Gesicht.

„Sieh zu, dass du das wieder in Ordnung bringst, sonst blüht dir nicht nur eine Ohrfeige.“ Der Mann, groß und breit wie ein Schrank, riss sie vom Boden hoch, umspannte brutal ihr Kinn und zwang sie somit, in seine Augen zu blicken. Deutlich zeichneten sich auf ihrer Wange die Finger der großen Männerhand ab.

Olga war klar, dass dies keine leere Drohung war. Dieser Mann war zu allem fähig.

Sie wagte nicht, ihre Hand auf die schmerzende Wange zu legen.

„Lass dir also etwas einfallen! Erzähl ihm, dass der Kerl dich dazu gezwungen hatte. Dieser Mark ist doch so ein Beschützertyp.“

Olga nickte. Sie hatte das Gefühl, dass sich hier vielleicht eine neue Chance bieten konnte, ungeschoren davonzukommen. Vor Erleichterung rollten ihr Tränen aus den Augen.

Rasputins Kaumuskeln entspannten sich, und das Gesicht nahm wieder eine normale Farbe an. „Du schaffst das! Genauso musst du ihm gegenübertreten. Ein paar Tränen, und er wird weich.“ Begehren sprach aus seinen Augen. „Du bist viel zu schön, als dass er dir widerstehen könnte.“ Rasputin zog sie ruckartig zu sich heran, presste sie gegen seinen Körper und küsste sie hart und brutal.

Olga ließ sich innerlich triumphierend darauf ein und schmiegte sich provozierend an ihn. Ihre Hände glitten über seinen Körper.

„Genau das meine ich“, murmelte er, ohne sich vollständig von ihren Lippen zu lösen.

***

Sabrina nutzte den letzten Schwung und ließ das Fahrrad im Hof ausrollen. Sie lenkte es vor den Schuppen, der sich etwas abseits vom Ferienhaus befand. Dort bewahrte sie nicht nur die Fahrräder auf, sondern ebenfalls die Gartenmöbel, den Grill und die Sommerdeko für den Außenbereich.

Vor Freude hopsend begleitete Orko sie laut bellend bis zur Hütte.

Sabrina stieg ab und streichelte ihn flüchtig. „Ist schon gut, mein Junge. Bin ja wieder da. War alles in Ordnung?“, fragte sie und schaute dabei kurz zur belegten Ferienwohnung. Gleich darauf widmete sie sich dem Rad und ihren Einkäufen. Auch der Rottweiler wandte den Kopf in dieselbe Richtung und ließ ein leises Knurren vernehmen. Im nächsten Augenblick zog er jedoch die Nase kraus und fletschte die Zähne.

Sabrina drehte sich überrascht noch einmal um.

Der Jüngere, Anton, hatte die Wohnung verlassen und kam auf sie zu. Schüchtern lächelte er ihr entgegen.

Eigentlich sieht er gar nicht so unsympathisch aus, dachte Sabrina.

In gebührendem Abstand blieb er stehen: „Darf ich?“, fragte er, da er sich offenbar nicht näher an sie herantraute.

„Aus, Orko! Ist schon gut“, beruhigte sie ihren Hund. „Kommen Sie!“, rief sie dem jungen Mann zu.

„Einkaufen?“, fragte er und wies auf die gefüllten Taschen.

„Ja. Ihr Frühstück und Abendessen. Bier und Wodka“, zählte Sabrina auf.

„Ah – gut! Ich helfe.“ Anton schnappte sich die Taschen und zog sie aus den Fahrradkörben.

Sabrina nickte nur und brachte das Rad wortlos in den Schuppen, während Anton auf sie wartete und den Hund ängstlich beobachtete.

Orko seinerseits ließ ihn nicht aus den Augen. Man merkte ihm an, dass er nur auf einen Fehler des jungen Mannes wartete. Dann könnte er ihm zeigen, wer hier das Sagen hatte.

Gleich darauf ging Sabrina zum Wohnhaus, während Anton ihr folgte, sperrte die Hintertür auf und trat ein.

Der lange, dunkle Flur führte direkt zum vorderen Hauseingang. Kurz davor befand sich rechts vor dem Treppenaufgang das kleine Büro und gegenüber die Wohn-Küche, deren Tür Sabrina nun öffnete.

In dem großzügigen Raum im ostfriesischen Stil gab es nicht nur im Essbereich das typische Ostfriesensofa, sondern auch noch einen ursprünglichen Stangenofen, der mit Holz oder Kohle befeuert wurde. Damit wurde schon früher, vor allem in der kalten Jahreszeit, gerne gekocht und gebacken. Gleichzeitig verbreitete er eine wohlige Wärme.

Einige Schritte vom Essplatz entfernt befand sich eine einladende Couchgarnitur. Auf einem flauschigen Teppich stand ein rechteckiger kniehoher Wohnzimmertisch, groß genug für Getränke, Gläser sowie Knabbereien, der schon einigen Geselligkeiten gedient hatte.

Vor den gekippten Wohnzimmerfenstern mit Blick auf die private Terrasse zur einen Seite und zum Garten zur anderen bauschten sich zarte, bodenlange Gardinen, als die Tür geöffnet wurde.

„Stellen Sie die Tüten bitte auf den Tisch. Das Frühstück ist pünktlich fertig. Ich bringe es Ihnen dann in Ihre Wohnung.“

„Nein, haben Sie einen anderen Raum?“ Anton fühlte sich unbehaglich, das sah man ihm an. Er schaute erwartungsvoll zum Küchentisch.

„Nein, hab ich nicht. Hier können Sie nicht essen. Kommt nicht in Frage.“

„Wir zahlen“, wandte er halbherzig ein, schon ahnend, dass er auf Widerstand stoßen würde.

„Nein! Auf keinen Fall! Sie können draußen essen. Holen Sie die Möbel aus dem Schuppen und stellen Sie sie in den Hof. Mehr können Sie nicht von mir erwarten. Warum nicht in Ihrem Zimmer?“

„Männer …“, lächelte Anton schief.

„Unordnung macht mir nichts aus. Sie müssen darin leben – nicht ich. Solange Sie mir nicht einen Schweinestall hinterlassen, wenn Sie wieder abfahren, ist es mir egal.“

„Gut, dann draußen.“

Der junge Mann drehte sich auf dem Absatz um und verschwand.

Sabrina begann den Einkauf zu verstauen und hoffte inständig, dass diese Gäste schon bald wieder abfahren würden.

Plötzlich stutzte sie. Abfahren? Ja, womit denn? Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie kein Fahrzeug gesehen hatte. Wie waren sie hierhergekommen? Oder hatte sie es übersehen?

Diese Frage ließ ihr keine Ruhe. Sie nahm den Hausschlüssel, rief Orko und ging zur Vordertür hinaus.

Auf ihrem kleinen Abstellplatz stand kein Wagen. Der wäre ihr auch bestimmt vorhin aufgefallen, als sie zum Einkaufen fuhr. Kam nur ein Taxi in Frage. Aber warum zu ihr? War es Zufall? Hatte man sie empfohlen? Oder hatten sie ganz gezielt eine abgelegene Bleibe im Internet gesucht? Wenn ja – wozu?

***

Marks Ausbruch war vorüber. Er starrte auf die umgeworfenen Möbelstücke. Immerhin hatte er sich beruhigt, bildete er sich ein. Doch eigentlich fühlte er sich eher wie betäubt. Kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Mit hängenden Schultern trat er ans Fenster und schaute hinaus, ohne etwas von der Aussicht wahrzunehmen.

Der grau verhangene Himmel legte sich langsam beruhigend auf sein Gemüt. Kein Geräusch drang von außen zu ihm. Die Mehrfachverglasung schirmte ihn völlig ab.

Wie auf einer einsamen Insel, dachte Mark und glaubte plötzlich keine Luft mehr zu bekommen.

Nein, auf einer Insel würde er Naturgeräusche wahrnehmen.

Mit seinen Eltern war er einmal als kleiner Junge während der Sommerferien auf einer Insel gewesen.

Aus seiner Heimatstadt im westfälischen Münster waren sie nach Ostfriesland aufgebrochen. Seitdem verbrachten sie dort jede Sommerferien. Einmal hatten sie sich eine Tagesfahrt nach Langeoog gegönnt.

Dieser Tag war ihm in lebhafter Erinnerung geblieben. Es war ein ausgesprochen schöner Sommertag gewesen, als sie morgens in Bensersiel die Überfahrt mit der Fähre antraten.

Der Morgen roch frisch und würzig. Noch war die Luft kühl, doch die strahlende Sonne ließ bereits einen heißen Tag erahnen.

Obwohl ihnen Bensersiel vertraut war, sie ihre Ferien insbesondere am Strand verbrachten, fühlte sich die andere Seite des Hafens am Fähranleger neu und aufregend an.

Die Möwen zogen kreischend ihre Bahnen und schienen ungeduldig darauf zu warten, dass die Fähre ablegte.

Dann würden sie ihr Spiel beginnen, wer sich am weitesten vom Festland forttraute, ohne sich auf der Fähre auszuruhen.

Kaum, dass die Fahrt begann, spendierte der Vater eine heiße Bockwurst mit einem Getränk. Diesen Geschmack würde er nie vergessen. Es schien, als wäre dieser Snack etwas ganz Besonderes. Ferien, Freiheit, Sorglosigkeit und Geborgenheit – all das schien dieser Imbiss zu beinhalten.

Dann, auf Langeoog angekommen, die Fahrt mit der lustigen bunten Bahn, die alle auf das gemächliche Tempo der Insel einstimmte.

Auf dem Weg zum Strand, ein Eis in der Hand, vorbei am Wasserturm, der die Dünenlandschaft unterbrach und gleichzeitig aufwertete. Und dann natürlich das Meer, das anders als in Bensersiel immer in Reichweite lag und seine Einzigartigkeit unterstrich, indem es sich endlos zeigte.

Die einzigen Geräusche, die man wahrnahm, waren das Rauschen des Meeres, die Rufe der Möwen und das fröhliche Geplänkel der Feriengäste. Für ihn als Stadtkind eine ganz besondere Atmosphäre.

All das stieg plötzlich vor Marks geistigem Auge auf und Sehnsucht machte sich in ihm breit.

Sehnsucht nach diesem Frieden.

Entschlossen drehte er sich um, schnappte sich die Reisetasche sowie seinen Laptop und begann zu packen.

***

Olga stöckelte die letzten Meter zum Eingang des modernen und eindrucksvollen Wohnhauses in der Nähe der Elbphilharmonie, um, wie sie Rasputin zugesichert hatte, Mark umzustimmen. Sie tippte den Code in die Tastatur ein, öffnete die Eingangstür und trat in die kühle Eleganz des Vorraums.

Sie liebte den dunklen, glänzenden Steinboden, der ihr bei jedem Schritt ihrer High Heels mit seinem satten Echo Aufmerksamkeit bekundete.

Nur wenige Schritte, und sie stand den beiden Aufzügen gegenüber, die sie bereitwillig in die obere Etage führen würden.

Auch das Innere des Lifts strahlte die Noblesse aus, die Menschen mit gewissen Ansprüchen als selbstverständlich voraussetzten.

Die bronzefarbene polierte Wandverkleidung vervielfachte sich im Spiegel des Fahrstuhls und verlieh dem Inneren einen edlen Charakter. Unaufdringliche Fahrstuhlmusik empfing sie. Olga liebte diese Lounge-Musik, mit der sie sich identifizierte. Unnahbar, kühl und doch mit exzentrischem Ausdruck. Sie schwelgte, ja, sie badete in diesem Gefühl. Dieses Umfeld würde sie sich nicht nehmen lassen. Es würde ihr schon gelingen, Mark klarzumachen, dass er ohne sie nicht leben könnte. Sie kannte seine Schwachstellen nur zu gut. Da ließ sich gewiss noch etwas tun.

Während der Fahrstuhl nach oben schwebte, betrachtete sie sich selbstgefällig im Spiegel.

Um Mark zu beeindrucken, probte sie vorsichtshalber verschiedene Gesichtsausdrücke. Schuldbewusst? Nein. Damit könnte er sich als Richter fühlen.

Es müsste eine Mischung aus Sich-unverstanden-Fühlen, Anklagen und Hilflosigkeit sein. „Ja – so ist es gut!“, sagte sie laut zu sich selbst. Der Aufzug hielt, und sie stieg aus.

Sie zupfte an ihrem enganliegenden Shirt herum, um den Einblick in das Dekolleté zu erweitern.

Die Naht der schwarzen Strümpfe hatte sie bereits im Spiegel des Aufzugs überprüft. Sie war sich sicher, dass Mark beim Anblick ihrer langen Beine, die von dem winzigen Stück Stoff ihres Minirocks kaum verhüllt waren, schwach wurde. Es wäre doch gelacht, wenn sie ihn nicht besänftigen könnte.

Auch hier tippte sie den Code in die Tastatur neben der Tür, um sie zu öffnen. Gleich darauf stand sie im winzigen Flur, der durch das einfallende Tageslicht der angrenzenden Glastür erhellt wurde, die direkt in den großzügigen Wohnbereich des Appartements führte.

Seltsamerweise stand diese Tür ein wenig offen.

Olga beschlich ein merkwürdiges Gefühl. Kein Geräusch drang an ihr Ohr. „Mark?“, rief sie und vergaß dabei ganz, ihre aufgesetzte Miene zu bewahren.

Vorsichtig schob sie die Tür auf. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, entfuhr ihr unwillkürlich ein Schrei.

***

Mark lenkte sein Cabrio gemächlich Richtung Esens. Es war noch früher Vormittag, und so nahm er sich Zeit, seine Erinnerungen aufzufrischen. Es hatte sich seit damals viel verändert. Dort, wo in seiner Kindheit noch Wiesen, Kühe und Pferde zu sehen waren, standen nun Häuser. Er versuchte sich zu orientieren.

An den großen Baumarkt hinter der Ampelkreuzung konnte er sich gar nicht erinnern.

Am Ortsausgangschild bemerkte er, dass er vorher hätte nach rechts abbiegen müssen.

Gleich darauf befand er sich im kleinen Ortsteil Holtgast.

Es dämmerte ihm, dass er und seine Eltern mit den Rädern häufiger von Bensersiel aus nach Holtgast gefahren waren. Es gab diese schmale, kaum befahrene Landstraße, die sie auf dem kürzesten Weg entlang eines Kanals dorthin geführt hatte.

Diesen Schleichweg würde er nehmen. Er hatte ihm schon immer gefallen.

In der Frühe hatte er sich von seinen Eltern in Münster verabschiedet.

Nachdem er am Tag zuvor ziemlich überstürzt seine Sachen gepackt hatte und sich schon Minuten nach seinem Entschluss auf der Autobahn befand, überfiel ihn der Wunsch nach Verständnis. Dafür kamen wohl am ehesten seine Eltern in Frage. Also nahm er den Umweg in Kauf und steuerte Münster an. Bei der Gelegenheit konnte er sie auch gleich über die geplatzte Hochzeit informieren. Im Geist sah er bereits ihre erleichterten Gesichter vor sich.

In seine Angelegenheiten hatten sie sich nie eingemischt, nicht, weil diese sie nicht interessierten, sondern weil sie der Meinung waren, dass jeder Mensch seine eigenen Erfahrungen machen musste, auch seine eigenen Fehler. Selbst wenn sie sich um ihn sorgten.

Ihrem Gesichtsausdruck hatte er sowieso entnehmen können, dass sie über seine Wahl nicht glücklich waren. Doch sie ließen ihn gewähren.

Tatsächlich waren sie mehr als erleichtert bei dieser Nachricht, nahmen ihn aber auch tröstend in die Arme.

Am Abend schwelgten sie in Urlaubserinnerungen. Dadurch frischten sie Marks Gedächtnis auf. Frühmorgens war er deutlich entspannter aufgebrochen.

Und nun versuchte er sich trotz der landschaftlichen Veränderungen zurechtzufinden.

Ausgerechnet die Straße, die ihn nach Bensersiel führen sollte, hatte sich nicht verändert. Triumphierend bog er in den Tannenweg ein, überquerte den Coldewind, die zur Nachbargemeinde Utgast führende Straße, und zuckelte gemächlich über die Pflastersteine des Wolder Wegs dem Küstenort Bensersiel entgegen, den er in etwa fünf Kilometern erreicht haben müsste.

Kurz vor der einzigen scharfen Rechtskurve veränderte sich der Untergrund, und so konnte er auf einer Teerdecke die Geschwindigkeit auf fünfzig Stundenkilometer steigern. Hier war alles wie früher, stellte er mit Freude fest. Der Weg führte ihn zum Benser Tief, das ihn nun für eine kleine Weile begleiten würde. Bald würde der Lauf des Wassers seinen eigenen Weg fortführen und dann großflächige Wiesen durchschneiden. Doch zuvor gabelte sich die Straße. Rechts führte sie über eine Brücke, die beide Seiten des Tiefs miteinander verband und dann nach Esens weiterging.

760,52 ₽
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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
290 стр.
ISBN:
9783948397319
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Правообладатель:
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