Читать книгу: «Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat», страница 3

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Kurz nach meiner Rückkehr aus Mexiko brach tief in meinem Hals ein monströser Abszess auf, hinderte mich am Schlucken und bald daran, überhaupt Nahrung aufzunehmen. Ich ging nicht mehr zu Dr. Lévy, dem ich vorwarf, meine Hepatitis nicht sorgfältig behandelt zu haben und all meine Leiden auf die leichte Schulter zu nehmen, vor allem jenes hartnäckige Seitenstechen rechts, das mich Leberkrebs befürchten ließ. Dr. Lévy starb bald darauf an Lungenkrebs. Ich hatte ihn durch einen anderen Arzt aus der Inneren Klinik, die mir Eugénie empfohlen hatte, ersetzt, Dr. Nocourt, den Bruder eines Kollegen aus der Zeitung. Indem ich ihm keine Ruhe ließ und ihn wegen jenes Seitenstechens mindestens einmal pro Monat aufsuchte, setzte ich ihm so zu, dass er mir schließlich die Verschreibungen für alle nur möglichen und erdenklichen Untersuchungen aushändigte, darunter natürlich die Blutuntersuchung, mit der mein Transaminasespiegel kontrolliert wurde, aber auch eine Echografie, in deren Verlauf ich, während ich gemeinsam mit ihm auf den Monitor schaute und er meinen eingeschmierten Bauch, das Gewölk meiner Eingeweide, mit seinem Ultraschallabnehmer abtastete, den Arzt beschimpfte, dessen Blick während der Untersuchung mir zu kalt, zu unbeteiligt erschien, um nicht irgendeine Verheimlichung zu verbergen, ich bezichtigte seinen Blick der Lüge, bis meine Verdächtigungen ihn in Gelächter ausbrechen ließen und er mir sagte, man sterbe selten mit fünfundzwanzig an Leberkrebs, schließlich eine Urografie, eine fürchterliche Prüfung, gedemütigt lag ich nackt, länger als eine Stunde, man hatte mich nicht einmal über die Dauer dieser Untersuchung informiert, auf einem eiskalten Metalltisch, unter einem Glasdach, durch das mich Handwerker, die auf einem Dach arbeiteten, sehen konnten, außerstande, irgend jemanden zu rufen, denn man hatte mich vergessen, mit einer dicken Nadel, die man mir in die Vene gerammt hatte und die eine bläuliche Flüssigkeit in mein Blut einströmen ließ, was es zum Sterben erhitzte, bis ich endlich hinter dem Wandschirm die Ärztin kommen hörte, die zu einem Kollegen sagte, sie habe die Gelegenheit genutzt, unten ein Steak zu kaufen, und die ihn über den Urlaub befragte, den er kürzlich auf Réunion verbracht hatte, es stellte sich heraus, dass diese Nachforschung endlich etwas ergeben hatte, was mich erleichterte und enttäuschte zugleich, denn Dr. Nocourt teilte mir mit, es handle sich um eine äußerst seltene, doch vollkommen gutartige Erscheinung, die ihm in den dreißig Jahren seiner Tätigkeit noch nicht untergekommen sei, eine wohl angeborene Missbildung der Nieren, eine Art Becken, in dem sich Kristalle ablagern, die dieses Seitenstechen verursachen können und die mir der Urologe durch massive Gaben von Sprudel und Zitronensaft vom Hals schaffen wollte. Bevor ich mich jedoch einem fanatischen Zitronenkonsum hingeben konnte, hörte das Seitenstechen, dessen Ursprung ich ja nun kannte, auf, und ich war auf einmal, für sehr kurze Zeit, wie ein Idiot, völlig schmerzfrei.

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Mittlerweile hatte Eugénie mir geraten, Dr. Lérisson aufzusuchen, einen Homöopathen. Marine und Eugénie waren nach Dr. Lérisson völlig verrückt. Eugénie verbrachte ganze Nächte in seinem Wartezimmer, mitsamt Gatten und Kindern, in Erwartung eines unverhofften Termins, umgeben von mondänen Damen und Pennern, denn Dr. Lérisson rechnete es sich als Ehre an, Comtessen tausend Francs pro Konsultation zu berechnen und die gleiche Zeit Landstreichern zu widmen, ohne einen Pfennig dafür zu nehmen, dabei starrte Eugénie, bis sie Halluzinationen bekam, die Tür des Behandlungszimmers an, durch die manchmal, gegen drei Uhr früh, mit einer schlaffen Handbewegung Dr. Lérisson die ganze kleine Familie, alle bei vollkommener Gesundheit, hindurchschleuste, woraus sie mit Rezepten für zehn gelbe Gelatinekapseln von der Größe eines Schokoriegels, die sie jeweils vor den Mahlzeiten schlucken sollten, dazu für fünf rote Gelatinekapseln mittlerer Größe, sieben blaue Pillen und einen Haufen Kügelchen, die sie unter der Zunge auflösen sollten, wieder auftauchten. An dieser Medikation wäre Eugénies Sohn fast krepiert, als er eine schlichte Blinddarmentzündung hatte, Dr. Lérisson ist gegen hartes Vorgehen, chirurgische Eingriffe oder chemische Behandlung, er vertraut dem Gleichgewicht der Natur und Kräuterwickeln, und schon hatte sich Eugénies Sohn eine Bauchfellentzündung eingehandelt, mit diversen Nebeninfektionen als Komplikation, erkennbar an drei aufeinanderfolgenden Schnitten, von denen ihm eine niedliche Narbe blieb, von der Scham bis an den Hals. Marine verkündete mir ekstatisch, Dr. Lérisson sei ein Heiliger, der seiner Kunst alles Privatleben opfere und sogar seine arme Gattin, die sie mit Vergnügen leer ausgehen sah. Als Marine ihn rund drei-, viermal pro Woche aufsuchte, ging sie mitnichten durch das Wartezimmer: Eine Sprechstundenhilfe ließ sie, sobald sie ihre dunkle Brille erkannte, durch eine verborgene Tür in ein Boudoir neben Dr. Lérissons Praxis ein, wo dieser die täuschendsten Experimente für seine berühmtesten Patientinnen bereithielt, welche er nackt in Metallkisten einschloss, nachdem er ihren Leib über und über mit in Kräuterextrakt getauchten Nadeln gespickt hatte, Extrakt von Tomaten, Bauxit, Ananas, Zimt, Patchouli, Rübchen, Lehm und Karotten, denen sie mit weichen Knien, scharlachrot und wie trunken wieder entstiegen. Dr. Lérisson nahm in seiner überfüllten Praxis keine weiteren blinden Jünger an. Dank der außerordentlichen Empfehlungen von Eugénie und Marine wurde mir endlich, nach Unterhandlungen mit einer okkulten Sekretärin, ein Termin für das folgende Quartal gewährt. Ich hatte vier Stunden lang im Wartezimmer geschmort, im Kreise bedrückender Physiognomien, als der unscheinbarste Sprechstundenhelfer der Welt eine Tür öffnete und meinen Namen nannte, ich sagte zu ihm: „Nein, ich habe einen Termin bei Dr. Lérisson.“ – „Treten Sie ein“, sagte er. „Nicht doch“, entgegnete ich, einen Betrug witternd, „ich möchte zu Dr. Lérisson persönlich.“ – „Aber ich bin doch Dr. Lérisson!“ sagte er und schlug ärgerlich hinter mir die Tür zu. Aufgrund der einstimmigen Schwärmereien von Eugénie und Marine hatte ich mir einen Don Juan vorgestellt. Mit einem Blick hatte Dr. Lérisson erfasst, woran es bei mir hing, er kniff mir in die Lippe, starrte meine Lider an und sagte: „Sie leiden an Schwindelanfällen, oder?“ Nach meiner Antwort, die sich von selbst verstand, fuhr er fort: „Sie sind einer der unglaublich spasmophilsten Menschen, die mir je begegnet sind, vielleicht noch mehr als Ihre Freundin Marine, und die ist schon ein ausgeprägter Fall.“ Dr. Lérisson erläuterte mir, Spasmophilie sei nicht recht eigentlich eine Krankheit, übrigens weder organisch noch psychisch, sondern vielmehr ein großartiges Hilfsmittel, das von Kalziummangel dynamisiert und durchaus in der Lage sei, den Körper zu quälen. Spasmophilie sei daher kein psychosomatisches Leiden, doch die Festlegung von Gegenstand und Ort der Beschwerden, die sie hervorrufen könne, hinge ihrerseits von einer halb willentlichen oder häufiger unbewussten Entscheidung ab.

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Weil der Körper durch die Mitteilung der gutartigen Missbildung der Nieren und danach die Spasmophilie-Theorie frustriert war, begann er, für den Augenblick seiner Leidensmöglichkeiten beraubt, ohne Zweifel gierig, tief in seinem Innern zu bohren, blind umhertastend. Ich erlitt keine epileptischen Anfälle, doch war ich in der Lage, mich von einem Moment zum anderen buchstäblich vor Schmerzen zu winden. Ich habe niemals so wenig gelitten wie seit dem Zeitpunkt, als ich erfuhr, dass ich Aids habe, ich achte äußerst aufmerksam auf die Anzeichen für das Vordringen des Virus, ich glaube die Kartografie seiner Kolonisierung zu kennen, seiner Angriffe und Rückzüge, ich meine zu wissen, wo es schwelt und wo es zuschlägt, meine, die noch unversehrten Zonen zu spüren, doch dieser Kampf in meinem Inneren, der nun wirklich äußerst real ist, wie die medizinischen Untersuchungen bezeugen, ist im Augenblick noch gar nichts, wart nur ab, Freundchen, gegenüber den gewiss fiktiven Leiden, die mich torpedierten. Von deren Äußerungen beunruhigt, schickte Muzil mich in die Sprechstunde des alten Dr. Aron, der seinen Beruf so gut wie aufgegeben hatte, aber trotzdem immer noch täglich zwei, drei Stunden in der Praxis herumspukte, die er von seinem Vater übernommen hatte und wo seit bald hundert Jahren alles unverrückt an seinem Platz zu stehen schien, ein mäusewinziger, durchsichtiger Mann inmitten seiner riesigen, vorsintflutlichen Röntgengeräte. Dr. Aron lauschte meiner Leidensgeschichte, bat mich dann, mich in den Nebenraum seiner Praxis zu begeben, wo sich riesige Apparate mit Gelenken, Armen, Hebeln und Bullaugen reckten, die ihn wie das Innere eines U-Boots wirken ließen, und mich dort auszuziehen. Der winzig kleine, weißlich-durchscheinende Mann kauerte zu meinen Füßen nieder und begann, sein Hämmerchen wie den leichten Schlägel einer Zymbal über meine Zehen, Knöchel und Knie tanzen zu lassen, was sie mit Schauern überzog. Dann schoss er mir den Lichtstrahl einer Rundlampe, die er sich auf die Stirn geschnallt hatte, tief in die Iris und sagte, nach einem sehr langen Seufzen: „Wirklich, Sie sind ein komischer Mensch.“ Ich setzte mich wieder an seinen Schreibtisch und sagte jenen Satz zu ihm, ja, ich erinnere mich sehr gut daran, ich sagte genau diesen Satz zu ihm, 1981, kurz bevor Bill zum ersten Mal die Existenz jener Erscheinung erwähnte, die uns schon alle miteinander verband, Muzil, Marine und so viele andere, ohne dass wir es wissen konnten: „Ich würde dem die Hände küssen, der mein Todesurteil verkündet.“ Dr. Aron zog eine Enzyklopädie zurate, las schweigend einen Artikel darin und sagte: „Ich habe die Krankheit herausgefunden, an der Sie leiden, eine ziemlich seltene Krankheit, aber seien Sie nicht allzu sehr besorgt, diese Krankheit verursacht gewiss viele Beschwerden, aber sie vergeht im Allgemeinen mit dem Alter, eine Jugendkrankheit, die bei Ihnen gegen die Dreißig verschwinden dürfte, ihr verständlichster Name lautet Dysmorphophobie, das heißt, Ihnen ist jegliche Art von Entstellung verhasst.“ Er schrieb ein Rezept aus, ich verlangte, es zu sehen, er verschrieb mir Antidepressiva: Fürchtete er nicht, sie könnten mir eher schaden als nutzen? Téo, der mir den Fall eines Regisseurs berichtete, der sich vor kurzem in dem Raum, der an das Zimmer grenzte, in dem sein Bühnenbildner schlief, das Hirn aus dem Kopf gepustet hatte, gab Antidepressiva die Schuld daran und sagte, nur sie und sie allein gäben im Allgemeinen die euphorische Kraft, der Stumpfheit zu widerstehen und Ernst zu machen. Als ich Dr. Arons Praxis verließ, zerriss ich das Rezept und ging zu Muzil, um ihm die Sitzung zu schildern. Mein Bericht stimmte ihn wütend: „Unglaublich“, sagte er, „diese kleinen praktischen Ärzte haben den Auswurf und die Durchfälle ihrer Patienten dermaßen über, dass sie sich auf die Psychoanalyse verlegen und die verrücktesten Diagnosen stellen!“ Von Stéphane und mir dazu gedrängt, wegen des Hustens, der ihn wieder gar nicht mehr zu Atem kommen ließ, einen Arzt aufzusuchen, konsultierte Muzil widerwillig, kurz bevor er einen Monat vor seinem Tod in seiner Küche bewusstlos zusammenbrach, einen alten praktischen Arzt in seinem Viertel, der ihm, nachdem er ihn untersucht hatte, frohgemut verkündete, er befinde sich bei bester Gesundheit.

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Heute, am 4. Januar 1989, sage ich mir, dass mir nur noch genau sieben Tage bleiben, um die Geschichte meiner Krankheit zu erzählen, und diese Frist ist natürlich unmöglich einzuhalten und unhaltbar für mein inneres Gleichgewicht, denn ich muss am 11. Januar nachmittags Dr. Chandi anrufen, damit er mir telefonisch die Ergebnisse der Untersuchung mitteilt, der ich mich am 22. Dezember unterziehen musste, erstmals im Hôpital Claude-Bernard, wodurch ich in eine neue Phase der Krankheit eintrat, grauenhafte Untersuchungen, denn ich musste frühmorgens nüchtern erscheinen, nachdem ich nachts so gut wie gar nicht geschlafen hatte, aus Angst, diesen Termin zu verpassen, den Dr. Chandi einen Monat zuvor für mich vereinbart hatte, wobei er am Telefon meinen Namen und meine Adresse buchstabiert und mein Geburtsdatum angegeben hatte, wodurch er mich in aller Öffentlichkeit in eine neue, offen eingestandene Phase der Krankheit trieb, es sei denn, um in dieser Nacht vor jener grauenhaften Untersuchung, bei der man mir eine furchterregende Menge Blut abzapfte, davon zu träumen, ich sei durch verschiedene Umstände daran gehindert, diesen für mein Überleben entscheidenden Termin wahrzunehmen, und ich musste zu allem Überfluss das von einer fast allgemeinen Arbeitsniederlegung gelähmte Paris von einem Ende zum anderen durchqueren, schreibe all dies, aus Angst, nachts zusammenzubrechen, in Wirklichkeit am Abend des 3. Januar, rase wütend auf mein Ziel zu und auf seine Unerreichbarkeit, entsinne mich mit Entsetzen jenes Morgens, an dem ich nüchtern auf die eiskalte Straße hinausgehen musste, wo wegen des Streiks mehr Hektik herrschte als üblich, um mir eine astronomische Menge Blut abziehen, mir mein Blut in jener Einrichtung des Gesundheitswesens zum Zweck wer weiß welcher Experimente stehlen zu lassen und es dabei seiner letzten Lebenskräfte zu berauben, unter dem Vorwand, zu kontrollieren, wie viele T4-Zellen das Virus im Lauf eines Monats in meinem Blut massakriert hatte, und wieder eine Dosis meiner übrigen Lebenskräfte einzufangen, um sie den Forschern zu senden, sie in das inaktivierte Material eines Impfstoffs, der andere nach meinem Tode retten wird, in ein Gammaglobulin umzuwandeln, oder um einen Laboraffen damit zu infizieren, doch zuvor hatte ich mich durch die stinkende, resignierte Menschenmasse quetschen müssen, die ein von dem Streik aus dem Takt gebrachtes Métroabteil zum Bersten füllte, musste erstickt aus- und wieder zur Straße emporsteigen, um vor der Telefonzelle zu warten, bis ich der ausländischen jungen Frau mit ihren vielen Gepäckstücken durch die Glasscheibe gestikulierend klargemacht hatte, wie herum sie die Karte einführen und dass sie hinter ihr die Klappe schließen musste, sie überließ mir freundlicherweise den Vortritt und wartete ihrerseits in der Kälte, solange ich mich von der Tonbandschleife auf dem Anrufbeantworter des blauen Taxiunternehmens zur Verzweiflung treiben ließ, während gleichzeitig ein Pariser städtischer Arbeiter, der seinen Gerätewagen neben der Telefonzelle abgestellt hatte, sie mit einem Sprenklersystem, welches das Innere verdunkelte und in blaues Licht tauchte, überfallartig genommen hatte, während ich zum hundertsten Mal den Beantworter des blauen Taxiunternehmens abhörte, mir war noch übel von dem schwarzen, ungezuckerten Kaffee, den mir Dr. Chandi unter Ausschluss jeglicher anderer Nahrung als einziges Frühstück gestattet hatte, während doch die Krankenschwester, als ich den einzigen noch belebten Häuserblock auf dem Gelände des Hôpital Claude-Bernard erreicht hatte, das gerade ausgelagert worden war und das, als ich es durchquerte, außer Betrieb im Nebel lag wie ein Geisterkrankenhaus am Ende der Welt, was mich an meinen Besuch in Dachau erinnerte, den letzten belebten Block, die Aidsstation mit den weißen Silhouetten hinter den Milchglasscheiben, mich fragte, während sie die leeren Röhrchen in eine Schale häufte, eins, dann zwei, dann drei, dann ein großes, dann zwei kleine, schließlich waren es gut zehn, die sich alsbald mit meinem warmen, schwarzen Blut füllen würden, und die nun in der Schale durcheinander lagen, übereinander kullerten und sich ihren Platz suchten wie die entnervten Passagiere in der vom Streik aus dem Takt gebrachten Métro, ob ich denn auch kräftig gefrühstückt hätte, was ich jedenfalls gedurft hätte, sogar gesollt, ganz im Gegensatz zu dem, was mir Dr. Chandi versichert hatte, da ich daran gedacht hatte, ihn danach zu fragen, und was ich das nächste Mal tun sollte, sagte die Krankenschwester und fragte mich zugleich, an welchem Arm ich zur Ader gelassen werden wolle, als wäre ich gegenwärtig in der Lage, ein nächstes Mal auf mich zu nehmen, entsetzt, in einem Zustand des Entsetzens an der Grenze zum Lachkrampf, doch jetzt hatte der Pariser städtische Arbeiter erst einmal draußen die Wassermassen von der Zelle gestreift und wartete mit verschränkten Armen, dass ich mit dem Anrufbeantworter des blauen Taxiunternehmens fertig würde, um dann das Innere in Angriff zu nehmen, willens, die ausländische junge Frau, die an der Reihe war, beiseite zu drängeln, doch überdrüssig verschwand er mit seinem Gerätewagen im selben Augenblick, als die Stimme des blauen Taxiunternehmens mir sagte, woraufhin ich sofort wieder aufhängte, es sei zur Zeit, nach zehn Minuten Warten, kein Wagen für die Nummer der Rue Raymond-Losserand frei, die ich, als ich endlich durchgekommen war, hastig durch das Fenster der Telefonzelle erspäht hatte, in welche ich nun die ausländische junge Frau einließ, um mich wieder in die Métro zu stürzen, diesmal zu allem bereit, mit einer Übelkeit und Schwäche, die schon wieder an Kraft grenzten, zum Äußersten bereit, sogar mit einer gewissen Fröhlichkeit, dazu, mich sozusagen rein zufällig an jenem Morgen zusammenschlagen oder von einem Verrückten unter den Zug stoßen zu lassen, wo ich zum zweiten Mal zerquetscht würde, mit angehaltenem Atem und hocherhobenem Kopf, nur durch die Nase atmend, von dem Gedanken gepeinigt, dass ich zu allem Überfluss Gefahr lief, die Chinesische Grippe aufzuschnappen, die, so stand es in der Zeitung, schon zweieinhalb Millionen Franzosen ans Bett gefesselt hatte. Das Abteil auf der Linie Mairie d’Issy-Porte de la Chapelle, wo Dr. Chandi mir auszusteigen empfohlen hatte, wahlweise auch an der Porte de la Villette, um danach gut zehn Minuten an einem Zubringer zum Autobahnring entlangzulaufen, war seinerseits fast leer. Ein Mann, der eine Kappe mit Ohrenklappen aus Fell trug, beschrieb mir beim Verlassen der Station Porte de la Chapelle den Weg mit ausholenden Gesten, die kilometerweit wiesen, und als ich ihm den Namen Claude-Bernard sagte, denn er fragte mich genauer nach der Nummer in der Avenue de la Porte d’Aubervillers, zu der ich hinwollte, schien es mir, als begreife er meine Situation und mein Unglück voll und ganz, denn er war auf einmal von unvergleichlicher Freundlichkeit mir gegenüber, die, so zurückhaltend und leicht, fast humorvoll sie auch war, mir jenen schwarzen Kaffee nicht weniger versüßte, der mir immer noch Übelkeit verursachte, er hatte in der Zeitung zwei Tage zuvor gelesen, dass man das Hôpital Claude-Bernard, das aus den Zwanzigern stammte und baufällig geworden war, in neue Gebäude umgesiedelt hatte, außer dem Haus Chantemesse, wohin ich auf Dr. Chandis Weisung gehen sollte, der darauf verzichtet hatte, mir die Lage der Dinge zu schildern, ein Gebäude, das ausschließlich Aidskranken vorbehalten war und wo man bis auf weitere Verfügung innerhalb des ausgestorbenen Krankenhauses arbeitete. Am Telefon hatte Dr. Chandi, den ich bat, mir zu beschreiben, auf welchem Wege ich, zumal an einem Streiktag, zum Claude-Bernard käme, denn ich hatte ausgerechnet den Zettel verlegt, auf dem ich es mir einen Monat zuvor notiert hatte, lediglich gesagt: „Ach ja, Ihre Blutuntersuchung, war das schon morgen? Mein Gott, wie die Zeit vergeht!“ Ich fragte mich in der Folge, ob er diesen Satz absichtlich so formuliert hatte, um mich daran zu gemahnen, dass meine Zeit nun abgemessen war und ich sie nicht dadurch verschwenden sollte, unter einem anderen Schriftstellernamen als meinem eigenen zu schreiben, was mir jenen anderen, fast schon rituellen Satz ins Gedächtnis zurückrief, den er einen Monat davor gesprochen hatte, als er an den jüngsten Analysen die geschwinde Verbreitung des Virus in meinem Blut erkannte und mich bat, durch eine erneute Blutabnahme die Suche nach dem Antigen P24 zu ermöglichen, das Zeichen für das offensive, nicht mehr bloß latente Vorhandensein des Virus im Körper, um den Verwaltungsprozess in Gang zu setzen, mit dessen Hilfe ich AZT erhalten sollte, bis heute die einzige Möglichkeit, Aids im Vollbild zu behandeln: „Wenn wir jetzt nichts unternehmen, ist es nicht mehr eine Frage von Jahren, sondern von Monaten.“ Ich hatte nochmals nach dem Weg gefragt, einen Tankstellenwart, denn es war kein Mensch auf dieser von der Autoflut plattgewalzten Avenue ohne Geschäfte, der mir hätte Auskunft geben können, und ich sah am Blick des Tankstellenwarts, dass er irgendeine Gemeinsamkeit, er begriff nicht, welche, in den Gesichtern und Blicken, im fieberhaften, gespielt selbstsicheren und entspannten Auftreten jener Männer zwischen zwanzig und vierzig erkannte, die ihn nach dem Weg zu dem stillgelegten Krankenhaus fragten, zu einer Tageszeit, zu der Krankenbesuche nicht üblich waren. Ich überquerte einen weiteren Zubringer zum Autobahnring, um an das Eingangsportal des Hôpital Claude-Bernard zu gelangen, wo es weder Wachtmann noch Pfortendienst gab, stattdessen ein Schild des Inhalts, die in das Haus Chantemesse bestellten Patienten, jenes, dessen Name mir Dr. Chandi buchstabiert hatte, sollten sich direkt an die Schwestern in diesem Gebäude wenden, das sie auf dem Gelände fänden, indem sie dem mit Pfeilen markierten Weg folgten. Alles lag verlassen, leergeräumt, kalt und feucht, wie geplündert, mit blauen, ausgefransten Vorhängen, die im Wind flatterten, ich ging an den ziegelfarbenen, verbarrikadierten Gebäuden entlang, an deren Frontgiebeln stand: Infektionskrankheiten, Tropenkrankheiten, bis hin zum Gebäude der tödlichen Krankheiten, der einzigen beleuchteten Zelle, hinter deren Milchglasscheiben es weitersummte und wo man ohne Unterlass das infizierte Blut förderte. Ich traf niemanden auf meinem Weg außer einem Schwarzen, der den Ausgang nicht mehr fand und mich anflehte, ihm zu sagen, wo er eine Telefonzelle finden könne. Dr. Chandi hatte mir erzählt, die Schwestern auf dieser Station seien sehr freundlich. Ganz gewiss sind sie es zu ihm, wenn er Mittwoch morgens zu seiner Sprechstunde vorbeikommt. Ich wagte mich in einen gekachelten Flur, der in ein Wartezimmer umfunktioniert war, für arme Schlucker wie mich, die einander anstarrten und dabei dachten, die Krankheit verstecke sich genau wie bei ihnen hinter diesen Gesichtern, die doch gesund aussahen und manchmal voller Jugend und Schönheit, während sie selber einen Totenschädel sahen, wenn sie in den Spiegel schauten oder umgekehrt den Eindruck hatten, in diesen ausgemergelten Blicken unvermittelt die Krankheit auszumachen, während sie selber sich unablässig im Spiegel vergewisserten, dass sie noch bei guter Gesundheit sind, trotz ihrer schlechten Werte, und als ich mich weiter in diesen Flur wagte, erkannte ich hinter einer der Milchglasscheiben, die bis zu den Schultern reichten, von schräg vorn das vertraute Gesicht eines Mannes, mit dem ich zu tun gehabt hatte, und ich wandte mich sofort ab, entsetzt von dem Gedanken, mit ihm jenen Blick des Wiedererkennens, der erzwungenen Gleichheit zu wechseln, wo ich doch nichts als Verachtung für diesen Mann empfinde. Drei Schwestern drängten sich, als seien sie für eine Zirkusnummer übereinandergestapelt, in einem Besenschrank und blätterten wie besessen die Seiten eines Ordners durch, wobei sie Namen riefen, da riefen sie auch schon meinen, doch es gibt ein Stadium der Krankheit, da ist einem die Geheimhaltung herzlich egal, da wird sie sogar widerwärtig, lästig, und eine von ihnen erzählte von ihrem Weihnachtsbaum, man darf sich vom Schrecken dieser Krankheit nicht überwältigen lassen, sonst frisst er alles auf, sie ist schließlich nichts weiter als eine Art Krebs, ein Krebs, der mittlerweile durch den Fortschritt der Forschung fast völlig durchschaut ist. Ich hatte in einer von den Blutabnahmeboxen Zuflucht gesucht, hatte hastig die Tür hinter mir geschlossen und mich so tief wie möglich auf den Sitz gekauert, voll Angst, der Mann, den ich wiedererkannt hatte, könne mich seinerseits erkennen, doch andauernd wurde die Tür wieder von Schwestern geöffnet, die mich nach meinem Namen fragten oder sagten, ich hätte mich in die falsche Box gesetzt. Die Schwester, die mir Blut abnehmen sollte, musterte mich mit einem Blick voller Sanftheit, der bedeutete: „Du stirbst vor mir.“ Der Gedanke half ihr, milde zu bleiben und die Nadel ohne Handschuhe geradewegs in die Vene zu setzen, nachdem sie noch einmal ihre Röhrchen nachgezählt hatte, indem sie sie mit den Fingerspitzen in der Schale hin und her rollte. Sie sagte: „Es geht um die Analyse zur Verschreibung von AZT! Seit wann sind Sie in Behandlung?“ Ich überlegte, bevor ich antwortete: „Seit einem Jahr.“ Als sie das neunte Röhrchen an das Pumpsystem anschloß, das mir das Blut unter Vakuum abmolk, sagte sie: „Wenn Sie wollen, bringe ich Ihnen ein Frühstück, Nescafé und Marmeladenbrote, ist’s recht?“ Ich erhob mich umgehend von dem Sitz, und sie drückte mich ängstlich wieder hinunter: „Nein, bleiben Sie noch etwas sitzen, Sie sind zu blass, sind Sie sicher, dass Sie sich nicht mit einem Frühstück stärken möchten?“ Es drängte mich, hier herauszukommen, zwar konnte ich mich wohl nicht auf den Beinen halten, aber ich hatte Lust zu laufen, zu laufen wie noch nie, im Schlachthof galoppiert das Pferd, dessen Halsschlagader man durchtrennt hat, in Gurten aufgehängt weiter, im Leeren. Die Stapelkünstlerinnen in ihrem Besenschrank gaben mir ungefragt einen Termin für den Morgen des 11., bei Dr. Chandi. Als ich in die Kälte hinaustrat, dachte ich, jetzt fehle nur noch, dass ich wie der Schwarze in diesem Geisterkrankenhaus in die Irre ginge, der Gedanke brachte mich zum Lachen, mich verirren oder umkippen, in diesem einzigen Krankenhaus auf der Welt, da gab es keinen Zweifel, in dem ich womöglich Stunden warten müsste, bis jemand vorbeikäme, um mir aufzuhelfen. Trotz all meiner Anstrengung, mich auf dem mit Pfeilen markierten Weg nicht zu verirren, stellte ich bald fest, dass ich mich einem versperrten Tor näherte, ich musste den ganzen Weg in umgekehrter Richtung zurückgehen und mich auf die Suche nach einem anderen Ausgang machen. Ein Motorradfahrer sauste vorüber, der Helm machte sein Gesicht unkenntlich wie das eines Fechters. Ich kam wieder an dem Haus der tödlichen Krankheiten vorbei, dann an dem der Tropenkrankheiten, dann an dem der Infektionskrankheiten, und es war niemand mehr da, der mich nach dem Weg fragte. Ich verspürte immer noch diese höllische Lust, zu lachen und zu reden, so schnell wie möglich meine Lieben anzurufen, um ihnen all das zu erzählen und es loszuwerden. Ich hatte vor, mit meinem Verleger zu essen und den Vorschuss auf meinen neuen Vertrag auszuhandeln, der mir erlauben würde, eine Weltreise in der eisernen Lunge zu machen oder mir das Hirn mit einer goldenen Kugel aus dem Kopf zu pusten. Am Nachmittag rief ich Dr. Chandi in seiner Praxis an, um ihm zu sagen, dass mich das Erlebnis am Vormittag ernstlich mitgenommen hatte. Er sagte: „Ich hätte Sie informieren sollen, Sie haben mit allem recht, aber ich sehe nichts mehr, ich bin einmal wöchentlich einen Vormittag lang dort, und ich muss mir einfach eine dicke Haut zulegen, damit der Laden läuft.“ Ich sagte, ich wisse schon, er habe mich dorthin geschickt, weil es unumgänglich sei, doch fragte ich ihn, ob wir uns nicht künftig, soweit möglich jedenfalls, diese Krankenhausbesuche ersparen und die Sache weiterhin unter uns behandeln könnten. Beunruhigt von der Drohung, die ich bei unserem letzten Treffen hatte durchblicken lassen, dass ich nämlich zwischen Suizid und dem Verfassen eines weiteren Buches wählen würde, sagte mir Dr. Chandi, er wolle alles dafür tun, was in seiner Macht stehe, die Aushändigung von AZT könne jedoch ausschließlich durch ein Kontrollgremium erfolgen. Ich berichtete noch am gleichen Abend Bill von diesem Gespräch, nachdem ich mit meinem Verleger zu Mittag gegessen und den Nachmittag mit meiner Großtante im Krankenhaus verbracht hatte, und Bill sagte: „Die haben wohl Angst, du könntest dein AZT weiterverkaufen, an Afrikaner zum Beispiel.“ In Afrika lässt man wegen der hohen Kosten des Medikaments lieber die Kranken verrecken und steckt das Geld in die Forschung. Am Nachmittag des 22. Dezember also beschloss ich gemeinsam mit Dr. Chandi, nicht zu dem Termin am 11. Januar zu gehen, den nun er an meiner statt wahrnehmen wollte, womit er eine Rolle in beiden Lagern zugleich spielen würde, um nötigenfalls das ersehnte Medikament zu erhalten, oder um mich glauben zu machen, er könne es nur so erhalten, durch die Vorspiegelung meiner Anwesenheit, indem er die für unseren Termin reservierte Zeit blockierte, um das Kontrollgremium zu täuschen. Ich soll ihn am 11. Januar nachmittags anrufen, um meine Resultate zu erfahren, und aus diesem Grunde sage ich, dass mir heute, am 4. Januar, nur noch sieben Tage bleiben, um die Geschichte meiner Krankheit zu erzählen, denn was mir Dr. Chandi am 11. Januar nachmittags mitteilen wird, droht, egal in welcher Richtung, wobei jede Richtung, wie mich Dr. Chandi vorbereitete, nur verhängnisvoll sein kann, dies Buch zu gefährden, es an seiner Wurzel zu zertrümmern und meinen Zähler auf Null zu stellen, die fünfundfünfzig schon beschriebenen Blätter zu löschen und dann die Revolvertrommel rotieren zu lassen.

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