Читать книгу: «Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat», страница 2

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Sein Name war für Muzil zum Schreckgespenst geworden. Er wollte ihn tilgen. Ich hatte bei ihm für die Zeitung, bei der ich arbeitete, einen Text über die Kritik bestellt, er sträubte sich, wollte mich gleichzeitig nicht enttäuschen, schob entsetzliches Kopfweh vor, das seine Arbeit lähme, bis ich ihm schließlich vorschlug, diesen Artikel unter falschem Namen zu veröffentlichen, zwei Tage darauf erhielt ich mit der Post einen Text von seiner Hand, klar und scharf, mit diesem Brief: „Welches Wunder an Verständnis hat dir eingegeben, dass nicht der Kopf Ärger macht, sondern der Name?“ Als Deckname schlug er Julien de l’Hôpital vor, und jedes Mal wenn ich ihn zwei, drei Jahre später im Krankenhaus besuchte, wo er im Sterben lag, dachte ich an jenes düstere Pseudonym, das nie das Licht des Tages erblickte, denn natürlich scherte sich die große Tageszeitung, bei der ich angestellt war, nicht im Geringsten um einen Text über die Kritik aus der Feder eines Julien de l’Hôpital, eine Kopie lag noch lange im Ordner einer Sekretärin, als Muzil sie von mir zurückverlangte, war sie daraus verschwunden, ich fand das Original bei mir zu Hause und gab es ihm, Stéphane stellte nach seinem Tod fest, dass er es vernichtet hatte, wie so viele Schriften, überstürzt, in den wenigen Monaten, die seinem Zusammenbruch vorausgegangen waren. Ich trug zweifellos die Schuld an der Vernichtung eines kompletten Manuskripts über Manet, dessen Existenz er einmal erwähnte und um das ich ihn bei anderer Gelegenheit anging, mit der Bitte, es mir leihweise anzuvertrauen, denn es könne mir vielleicht Stoff zu einer Arbeit liefern, die ich unter dem Titel „Die Malerei der Toten“ begonnen hatte und die unvollendet blieb. Um meiner Bitte nachzukommen, nahm Muzil, der mir versprochen hatte, sie zu erfüllen, die Mühe auf sich, das Manuskript in seinem Durcheinander zu suchen, spürte es auf, las es erneut und vernichtete es noch am selben Tag. Seine Zerstörung bedeutete für Stéphane den Verlust von mehreren Zehntausend Francs, obgleich Muzil als einziges Testament ein paar lakonische, ohne Zweifel reiflich überlegte Sätze hinterließ, die seine Arbeit vor jedem Zugriff bewahrten, materiell vor dem der Familie, indem er die Manuskripte seinem Gefährten vermachte, und zugleich ideell vor dem seines Gefährten, indem er ihn durch das Verbot jeglicher posthumer Veröffentlichung daran hinderte, die eigene Arbeit auf den Trümmern der seinen zu errichten, und ihn so zwang, einen deutlich getrennten Weg zu verfolgen, wodurch er von vornherein den Schaden, den man seinem Werk etwa zuzufügen die Absicht hatte, begrenzte. Hingegen gelang es Stéphane, Muzils Tod zu seiner Arbeit zu machen, vielleicht hatte Muzil ihm auf genau diese Weise seinen Tod zum Geschenk machen wollen, indem er den Posten des Verteidigers dieses neuen, originellen und schrecklichen Todes erfand.

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So wie er darauf achtete, außerhalb der Grenzen, die er um sein Œuvre zog, seinen Namen, den die Berühmtheit allzu sehr in der ganzen Welt hatte anschwellen lassen, zu tilgen, so zielte er darauf ab, sein Gesicht verschwinden zu lassen, das doch durch einige Merkmale und der zahlreichen Aufnahmen wegen, die die Presse von ihm seit gut zehn Jahren verbreitete, so besonders leicht erkennbar war. Lud er selten einmal einen der wenigen Freunde, deren Zahl er in den Jahren, die seinem Tod vorausgingen, drastisch verringert hatte, indem er die Bekanntschaften in einen Bereich fern der Freundschaft verbannte, der ihm erlaubte, sie zu vernachlässigen und den Kontakt auf einen Brief dann und wann oder einen Anruf zu beschränken, ins Restaurant ein, so steuerte er, kaum hatte er das Lokal betreten, auf die Gefahr hin, einen jener wenigen Freunde, mit denen er noch gern essen ging, beiseite zu rempeln, auf geradem Weg den Stuhl an, der ihm erlaubte, dem Publikum den Rücken zuzukehren und zugleich einem Spiegel zu entgehen, dann besann er sich und bot höflich den Stuhl oder die Bank an, die er verschmäht hatte. Er wandte dem Publikum den rätselhaften, in sich gekehrten Schimmer seines Schädels zu, den er sorgfältig jeden Morgen rasierte und auf dem mir manchmal, wenn er mir die Tür öffnete, Spuren getrockneten Blutes, die seiner Kontrolle entgangen waren, auffielen, zugleich mit der Frische seines Atems, in dem Moment, wenn er mich mit zwei winzig kleinen, sonoren Küssen rechts und links des Mundes begrüßte, was mich daran erinnerte, dass er die Aufmerksamkeit besaß, sich kurz vor der verabredeten Zeit nochmals die Zähne zu putzen. Paris hinderte ihn am Ausgehen, hier fühlte er sich zu bekannt. Ging er ins Kino, so richteten sich alle Blicke auf ihn. Manchmal sah ich ihn nachts von meinem Balkon in der Rue du Bac 203 aus vor das Haus treten, in schwarzer Lederjacke, mit Ketten und Metallringen in den Schulterklappen, und über die offene Galerie, die die verschiedenen Aufgänge der Rue du Bac 205 verbindet, zu der Tiefgarage gehen, von der aus er mit seinem Auto, das er unbeholfen steuerte, wie ein Kurzsichtiger verängstigt hinter der Windschutzscheibe klebend, Paris durchquerte, um zu einer Bar im 12. Arrondissement zu fahren, Le Keller, wo er seine Opfer aushob. Stéphane fand in einem Schrank in der Wohnung, die durch das handschriftliche Testament vor dem Eindringen der Familie bewahrt blieb, eine große Tasche voller Peitschen, Ledermasken, Gurte, Knebel und Handschellen. Diese Gerätschaften, von denen er nichts gewusst haben will, flößten ihm angeblich einen überraschenden Widerwillen ein, als seien auch sie nun tot, eiskalt. Auf Anraten von Muzils Bruder ließ er die Wohnung desinfizieren, bevor er sie in Besitz nahm, dank des Testaments, noch ohne zu wissen, dass die meisten Manuskripte vernichtet waren. Muzil liebte leidenschaftliche Saunaorgien. Die Angst, erkannt zu werden, hinderte ihn daran, die Pariser Saunen zu frequentieren. Wenn er jedoch zu seiner alljährlichen Tagung nach San Francisco reiste, stürzte er sich in den zahlreichen Saunen dieser Stadt ins Vergnügen, die heute wegen der Epidemie stillgelegt und zu Supermärkten und Parkhäusern umgewandelt sind. Die Homosexuellen San Franciscos lebten in diesen Einrichtungen die irrwitzigsten Fantasien aus, sie installierten an Stelle der Urinale alte Badewannen, in denen die Opfer ganze Nächte in der Erwartung verbrachten, besudelt zu werden, sie hievten schrottreife Trucks in die engen Räume und richteten darin ihre Folterkammern ein. Als Muzil im Herbst 1983 von der Tagung zurückkam, hustete er sich die Lungen aus dem Leib, ein trockener Husten griff ihn immer mehr an. Dennoch, zwischen zwei Anfällen, schwärmte er genüsslich von seinen jüngsten Eskapaden in den Saunen von San Francisco. Ich sagte an jenem Tag zu ihm: „Wegen Aids ist wohl kein Mensch mehr dort?“ – „Von wegen“, entgegnete er, „im Gegenteil, nie waren so viele Leute in den Saunen, es ist ganz fantastisch geworden. Diese schwebende Bedrohung hat ein neues Gefühl der Zusammengehörigkeit geschaffen, neue Zärtlichkeiten, eine neue Solidarität. Früher hat keiner ein Wort gesagt, jetzt reden wir miteinander. Jeder weiß sehr genau, wofür er dort ist.“

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Sein Assistent, den ich am Tag seiner Beerdigung kennenlernte, wohin ich Stéphane begleitete, und den ich einige Tage darauf im Autobus wieder traf, machte mir verschiedene aufschlussreiche Mitteilungen. Man wusste noch nicht, ob Muzil sich der Art der Krankheit, die ihn umbrachte, bewusst war oder nicht. Sein Assistent versicherte mir, er sei sich jedenfalls der Unheilbarkeit dieser Krankheit bewusst gewesen. Im Lauf des Jahres ’83 nahm Muzil regelmäßig an den Sitzungen einer humanitären Organisation teil, in einer Hautklinik, deren Chefarzt jener Vereinigung angehörte, die Ärzte in die ganze Welt entsendet, je nachdem, wo sich politische oder elementare Katastrophen ereignen. In dieser Klinik wurden wegen der dermatologischen Symptome die ersten Aidsfälle behandelt, vor allem wegen des Kaposi-Sarkoms, das rote, eher bläulichrote Flecken verursacht, zunächst auf den Fußsohlen und an den Beinen, dann über den ganzen Körper bis hin zur Haut des Gesichts. Muzil hustete während dieser Versammlungen, bei denen es um die Lage in Polen nach dem Staatsstreich ging, wie ein Verrückter. Obwohl Stéphane und ich es ihm wiederholt dringend nahegelegt hatten, weigerte er sich beharrlich, einen Arzt aufzusuchen. Schließlich gab er dem Drängen des Chefarztes der Hautklinik nach, den dieser trockene, heftige, hartnäckige Husten beunruhigte. Muzil ging für einen Morgen zu Untersuchungen ins Krankenhaus, er berichtete mir, in welchem Maß, er habe es vergessen gehabt, der Körper alle Identität verliert, wenn er erst einmal in den Krankenhausbetrieb gerät, und nichts mehr von ihm bleibt als ein willenloser Fleischklumpen, der hin- und hergeschoben wird, gerade noch eine Karteinummer, ein Name, der durch die Verwaltungsmühle gedreht wird, es saugt ihm seine Geschichte und Würde aus. Man schob ihm einen Tubus durch den Mund, der seine Lungen erkunden sollte. Der Chefarzt der Hautklinik war nach diesen Untersuchungen bald in der Lage, auf die Art der Krankheit zu schließen, tat jedoch alles Nötige, um den Namen seines Patienten und Vereinskollegen zu schützen, kontrollierte den Umlauf der Krankenzettel und Untersuchungsergebnisse, die diesen berühmten Namen mit der neuen Krankheit verknüpften, fälschte und zensierte sie, damit das Geheimnis bis zum Schluss gewahrt blieb und er bis zu seinem Tod Ellenbogenfreiheit für seine Arbeit hatte, ohne die Behinderung durch ein Gerücht, auf das er würde reagieren müssen. Er beschloss, gegen das übliche Verfahren, nicht einmal Stéphane, Muzils Lebensgefährten, zu informieren, den er ein wenig kannte, um ihre Freundschaft nicht durch dieses Schreckgespenst zu beeinträchtigen. Hingegen informierte er Muzils Assistenten, damit dieser sich mehr als je dem Willen seines Meisters unterordnete und ihn bei seinen letzten philosophischen Projekten unterstützte. Der Assistent berichtete mir im Autobus, seine Unterredung mit dem Chefarzt der Hautklinik habe stattgefunden, kurz nachdem der Chefarzt und Vereinskollege Muzil das Untersuchungsergebnis mitgeteilt und erläutert hatte. Muzils Blick sei in jenem Augenblick, so hatte der Chefarzt der Hautklinik dem Assistenten erzählt, der es Monate später mir berichtete, unverwandter und schärfer gewesen denn je, mit einer Handbewegung habe er jede weitere Diskussion abgeschnitten: „Wie lange?“ habe er gefragt. Das war die einzige Frage, die ihn bewegte, um seiner Arbeit willen, er wollte sein Buch fertigstellen. Ob der Chefarzt ihm da die Natur seiner Krankheit enthüllte? Heute zweifle ich daran. Vielleicht ließ Muzil ihn nicht zu Wort kommen? Ein Jahr zuvor, während eines unserer Abendessen in seiner Küche, hatte ich ihn auf die Frage der Ehrlichkeit zwischen Arzt und Patient im Falle tödlicher Krankheiten gelenkt. Ich fürchtete, von einer nachlässig behandelten Hepatitis Leberkrebs davongetragen zu haben. Muzil hatte gesagt: „Der Arzt sagt dem Patienten nicht unvermittelt die Wahrheit, sondern bietet ihm durch eine ungefähre Darstellung die Mittel und die Freiheit, sie selbst zu erfassen, indem er ihm genauso erlaubt, nichts davon zu wissen, wenn er diese Möglichkeit im Grunde seines Herzens bevorzugt.“ Der Chefarzt der Hautklinik verschrieb Muzil höchstdosierte Antibiotika, die, indem sie den Husten unterdrückten, den fatalen Ausgang in ungewisse Zukunft verschoben. Muzil nahm die Arbeit an seinem Buch mit neuem Schwung auf, er beschloss sogar, die Vortragsreihe zu halten, die er eigentlich bis auf Weiteres hatte verschieben wollen. Weder Stéphane noch mir gegenüber erwähnte er dieses Gespräch mit dem Chefarzt der Hautklinik. Eines Tages verkündete er mir, indem er mich seltsam prüfend anblickte, er habe beschlossen, doch an seinem Blick sah ich sehr wohl, dass er mich um Rat fragte, dass der Entschluss nicht wirklich feststand, mit einer Delegation jener humanitären Organisation, die er unterstützte, ans Ende der Welt zu reisen, zu einer gefährlichen Mission, von der er, so gab er mir zu verstehen, vielleicht nicht zurückkehren würde. So wollte er am Ende der Welt jenen kleinen Ausschlupf hinter dem Bild suchen, den er für das ideale Sterbehaus erträumt hatte. Entsetzt von diesem Plan und zugleich bemüht, ihm das Ausmaß meines Entsetzens nicht zu zeigen, antwortete ich ihm leichthin, er täte besser daran, sein Buch zu vollenden. Sein Buch ohne Ende.

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Er hatte seine Sittengeschichte begonnen, bevor ich ihn kennengelernt hatte, Anfang ’77, denn mein erstes Buch, La Mort propagande, ist ungefähr im Januar 1977 erschienen, und ich hatte das Glück, auf diese Veröffentlichung hin in seinen kleinen Freundeskreis aufgenommen zu werden. Von seiner monumentalen Sittengeschichte war bereits der erste Band erschienen, ursprünglich die Einleitung zum ersten Band, die er dann aber so ausgearbeitet hatte, dass sie ein ganzes Buch für sich wurde und die Veröffentlichung des eigentlichen ersten Bandes hinausschob, welcher so zum zweiten wurde, schon zur Drucklegung bereit, als dieser Renner von Einleitung ihn überholte und schnitt, im Frühling ’76, zu jener Zeit, da ich ihn noch nicht kannte, da er für mich lediglich ein illustrer und faszinierender Nachbar war, von dem ich noch kein Buch gelesen hatte. Anlässlich des Erscheinens der Einleitung, gegen die schon so viel gehetzt worden war, da er darin eine These aufstellte, die derjenigen, welche damals die Intelligenzija beherrschte, diametral entgegengesetzt war, hatte er sich zum ersten und letzten Mal, denn später schlug er alle Einladungen aus, bereit erklärt, an einer Folge der Unterhaltungssendung für Intellektuelle, „Apostrophes“, teilzunehmen, die ich damals nicht gesehen hatte, von der aber Christine Ockrent, die Moderatorin, die Muzil allen anderen vorzog, er erwartete sogar von mir, abends, wenn ich bei ihm zum Essen eingeladen und etwas früh dran war, um den Häuserblock, in dem er wohnte, Runden zu drehen, damit er bis halb neun mit ihr allein sein konnte, in ihrer Nachrichtensendung, die er um nichts in der Welt verpasst hätte, am Abend seines Todestages im Juni 1984 einen kurzen Ausschnitt brachte. Christine Ockrent, die er oft jubelnd seinen kleinen oder großen Liebling nannte, brachte eigentlich nichts weiter als ein maßloses, nicht enden wollendes Lachen, das sie im Verlauf jener Unterhaltungssendung aufgenommen hatte, bei der man Muzil in Anzug mit Weste und Krawatte sich buchstäblich vor Lachen winden sehen konnte, in einem Moment, da man von ihm erwartete, mit päpstlichem Ernst eine der Vorschriften für jene Sittengeschichte, deren Grundlagen er unterhöhlte, zu verkünden, und dies Lachen wärmte mir das Herz in einem Augenblick, da es mir kältestarr schien, als ich bei Jules und Berthe, zu denen ich mich am Abend seines Todestages geflüchtet hatte, den Fernseher einschaltete, um einmal zu sehen, wie man in den Nachrichten den Nachruf auf ihn gestalten würde. Für mich war dies das letzte Mal, dass ich bereit war, ein bewegtes Bild von Muzil anzusehen, denn seitdem weigere ich mich, aus Angst, darunter zu leiden, mich mit irgendwelchen Vorspiegelungen seiner Anwesenheit herumzuschlagen, außer denen der Träume, und dieses Lachen, das ich unwiderruflich zum Standbild erklärt habe, bezaubert mich noch heute, wenn ich auch ein wenig eifersüchtig bin, dass aus Muzil ein so prachtvolles, so ungestümes, so leuchtendes Lachen hervorquellen konnte, zu einer Zeit kurz vor Beginn unserer Freundschaft. So wie er mit dieser neuen Arbeit die Grundlagen des Konsenses über die Sexualität über den Haufen warf, hatte er begonnen, die Wege seines eigenen Labyrinths zu untergraben. Er hatte auf der Rückseite des ersten Bandes seiner monumentalen Sittengeschichte die Titel der vier Folgebände genannt, da er den nächsten Band schon fertig verfasst und die Recherchen zu den folgenden abgeschlossen hatte. Und nun, da schon das erste Drittel des Baus, zu dem er die Pläne, die Pfeiler und das Maßwerk gezeichnet hatte, auch die Dunkelzonen und die Verbindungswege, fertiggestellt war, alles den Regeln des Systems gemäß, welches sich in den vorausgegangenen Büchern, die seinen internationalen Ruf begründeten, bewährt hatte, da wird er plötzlich von Verdruss oder gar furchtbarem Zweifel übermannt. Er unterbricht die Bauarbeiten, verwirft all seine Pläne, stoppt diese monumentale Sittengeschichte, die er schon im Vorhinein auf dem Notenpapier seiner Dialektik geordnet hatte. Zunächst gedenkt er den zweiten Band ans Ende zu verlegen, ihn jedenfalls in Wartestellung zu versetzen, um seinen Gegenstand von einem neuen Ausgangspunkt her anzugehen, den Ursprung seiner Geschichte zu verlegen und neue Forschungsmethoden zu erfinden. Von Abweg zu Abweg, da er sich auf zentrumsferne Wege ausrichtet, auf Auswüchse, die seinem ursprünglichen Plan entsprießen und nun selber eher zu ganzen Büchern als zu bloßen Abschnitten werden, verirrt er sich, verliert den Mut, zerstört, lässt liegen, baut wieder auf, pfropft erneut auf und lässt sich nach und nach von der nervösen Benommenheit des Rückzugs, der fortwährenden Versäumnis im Publizieren umfangen, Zielscheibe aller möglicher äußerst eifersüchtiger Gerüchte, er sei unfähig und verfalle geistig, oder gestehe ein, sich geirrt oder nichts zu sagen zu haben, während ihn mehr und mehr der Traum von einem unendlichen Buch lähmt, das alle irgend möglichen Fragen eröffnen würde und das durch nichts begrenzt werden könnte, das nichts anhalten könnte, es sei denn der Tod oder die Erschöpfung, das mächtigste und zerbrechlichste Buch der Welt, ein fortschreitender Schatz in der Hand, der ihn bei jedem Auffedern des Gedankens dem Abgrund nähert und von ihm wegführt, bei der mindesten Erschlaffung zum Feuer hin und wieder weg, eine der Hölle geweihte Bibel. Die Gewissheit seines baldigen Todes machte diesen Traum zunichte. Da seine Tage nun gezählt waren, machte er sich voller Klarheit an die Neuordnung seines Buchs. Im Frühling ’83 war er mit Stéphane nach Andalusien gereist. Ich wunderte mich, dass er zweit- und drittklassige Hotels gebucht hatte, er hatte diesen Sinn für Sparsamkeit, dabei fand man nach seinem Tod in seiner Wohnung etliche Schecks über mehrere zehntausend Francs, die zur Bank zu bringen er nachlässig versäumt hatte. Eigentlich erschreckte ihn Luxus geradezu. Dennoch warf er seiner Mutter Geiz vor, die ihm nichts als ein paar angestoßene Kaffeeschalen überlassen hatte, als er sie um einen kleinen Beitrag für das Landhaus bat, das er gerade gekauft hatte, er träumte davon, dort in unserer Gesellschaft arbeitsreiche Sommer zu verbringen. Am Abend vor seiner Abreise nach Andalusien bestellte mich Muzil zu sich und sagte feierlich, indem er auf zwei dickleibige, mit Papieren vollgestopfte Aktendeckel wies, die Seite an Seite auf seinem Schreibtisch lagen: „Das sind meine Manuskripte; ich bitte dich, wenn mir auf dieser Reise irgendetwas zustößt, dann komm her und vernichte sie beide, du bist der Einzige, den ich darum bitten kann, ich rechne fest damit, dass du es mir versprichst.“ Ich antwortete, dass ich unfähig sein würde, das zu tun, und daher seine Bitte ausschlüge. Muzil zeigte sich über meine Reaktion entrüstet und furchtbar enttäuscht. Er sollte seine Arbeit tatsächlich erst Monate später vollenden, nachdem er sie ein letztes Mal vollkommen über den Haufen geworfen hatte. Als er in seiner Küche zusammenbrach und Stéphane ihn leblos in einer Blutlache fand, hatte er beide Manuskripte bereits seinem Verleger ausgehändigt, begab sich aber allmorgendlich in die Bibliothèque du Chaussoir, um die Fußnoten auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.

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Als ich Hals über Kopf aus Mexiko zurückkehrte, im Oktober 1983, nachdem ich den Leiter des Air-France-Büros Mexiko, der mich mit den Füßen auf dem Schreibtisch empfing und zuschaute, wie von der Decke Tropfen für Tropfen der Sintflut, die draußen tobte, in einen Topf platschte, ich war selber tropfnass und appellierte an das menschliche Mitleid, angefleht hatte, er möge mich umgehend nach Frankreich heimkehren lassen und das verfluchte Ferienticket mit festem Rückreisedatum und dreizehn Tagen Mindestaufenthalt verkürzen, nachdem ich noch im Flugzeug, das mich hilfreich in mein Heimatland brachte, schwere Fieberanfälle gehabt hatte, umgeben von mit Sombreros aufgeputzten, außer Rand und Band geratenen Touristen, die kreischend in großen Zügen den restlichen Tequila soffen, rief ich Jules vom Flugplatz an, und er berichtete mir, dass er die ganze Zeit, die ich in Mexiko war, im Krankenhaus zugebracht hatte, selber von schwerem Fieber geschüttelt, den ganzen Leib voll geschwollener Lymphknoten, und dass man im Universitätskrankenhaus unablässig Untersuchungen an ihm vorgenommen hatte, die zu nichts führten, bis man ihn schließlich nach Hause schickte. Während ich die grautrübe Pariser Vorstadtlandschaft hinter den Fenstern des Taxis, das mir wie ein Krankenwagen vorkam, vorüberziehen sah, und weil Jules mir eben die Symptome beschrieben hatte, die man allmählich mit der rätselhaften Krankheit verknüpfte, sagte ich mir, dass wir beide Aids hatten. Das änderte alles, augenblicklich, diese Gewissheit ließ alles, mitsamt der Landschaft, umkippen, und das lähmte mich zugleich und verlieh mir Flügel, nahm mir die Kraft und verzehnfachte sie, ich hatte Angst und war berauscht, ruhig gleichzeitig und zu Tode erschrocken, vielleicht hatte ich endlich mein Ziel erreicht. Natürlich gaben die anderen sich Mühe, mir meine Überzeugung auszureden. Zuerst Gustave, dem ich mich noch am selben Abend telefonisch anvertraute und der mir skeptisch von München aus riet, ich solle nicht aus einer schlichten Panik heraus urteilen. Dann sagte mir Muzil, bei dem ich Tags darauf zu Abend aß, und der sich selbst in einem ziemlich fortgeschrittenen Stadium der Krankheit befand, ihm sollte weniger als ein Jahr zu leben bleiben: „Mein armes Häschen, was willst du dir denn noch alles einbilden? Wären alle Viren tödlich, die in der Welt herumreisen, seit Charterflüge in Mode gekommen sind, dann wäre dieser Planet doch so gut wie entvölkert.“ Das war zu der Zeit, da über Aids die fantastischsten Gerüchte kursierten, die aber damals doch glaubwürdig schienen, so wenig wusste man noch über Art und Wirkung dessen, was noch nicht als Virus erkannt war, als Lenti- oder Retrovirus, ähnlich dem, der sich in Pferden verbirgt: Man fange ihn sich, indem man Amylnitrit schnüffelt, das auf einmal außer Gebrauch geriet, oder es handle sich dabei um die Waffe eines biologischen Kriegs, mal von Breschnew abgefeuert, mal von Reagan. Ganz am Jahresende ’83 sagte ich zu Muzil, weil er wieder mit alter Heftigkeit hustete, nachdem er die Antibiotika abgesetzt hatte, deren Dosierung, so hatte ihm ein Apotheker in seinem Viertel versichert, ausreichen würde, ein Pferd krepieren zu lassen: „In Wahrheit hoffst du, Aids zu haben.“ Er warf mir einen Blick zu, finster und voll herrischen Gleichmuts.

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