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Kapitel 2

»Ich soll also bei dir leben, bis ich meine Wohnung beziehen kann?«, fragte Sabine Patzak.

»Fällt dir etwas Besseres ein?«, antwortete Thomas Korber mit einer Gegenfrage.

»Ich könnte auch wieder beim Papa wohnen.«

Korber druckste herum. »Bei mir ist es problemloser. Du hast mehr Platz und ein eigenes Zimmer«, führte er ins Treffen. »Außerdem kann dich dein Vater nicht so gut kontrollieren. Der spürt dir sonst wieder auf Schritt und Tritt nach.«

In Wahrheit musste sich Korber eingestehen, dass er in Leopolds Tochter Sabine verliebt war. Wie aus dem Nichts war sie aus ihrem burgenländischen Heimatort Halbturn im Frühsommer in Wien aufgetaucht, um Leopold nach 21 Jahren mitzuteilen, dass er ihr Vater sei. Leopold hatte es zunächst nicht geglaubt, dann aber starke väterliche Gefühle für sie entwickelt. Mit seinem Freund, dem Gymnasiallehrer Thomas Korber, hatte sie sich ohne sein Wissen auf eine kurze Affäre eingelassen, ehe sie wieder nach Hause gefahren war. Nun war sie Anfang Oktober zurückgekehrt. Sie hatte an der Universität Wien inskribiert, um ein Lehramtsstudium für Deutsch und Englisch zu absolvieren. Ob sie bis zum Bezug ihrer ständigen Bleibe bei Korber wohnen wollte, wie es beide vor ihrem Abschied noch angedacht hatten, dessen war sie sich nicht mehr so sicher.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Wenn der Papa da draufkommt!«

»Dann kommt er eben drauf. Du bist erwachsen und kannst tun und lassen, was du willst«, versuchte Korber weiterhin, sie zu überreden.

»So einfach ist es nicht«, konterte Sabine.

»Vor einer Woche am Telefon waren wir uns noch einig«, erinnerte Korber sie.

»Ich fühle mich schäbig. Ich hätte Papa darüber informieren müssen, dass ich zum Studieren nach Wien komme«, plagten Sabine Gewissensbisse.

»Als du das letzte Mal hier warst, hat er nicht einmal gewusst, dass du seine Tochter bist«, gab ihr Korber zu bedenken. »Da hast du dir auch keine Vorwürfe gemacht.«

Beide standen noch immer im Vorzimmer von Korbers Wohnung, wo Sabine Patzak ihre Reisetasche vorläufig abgestellt hatte. »Im Augenblick ist alles ungewohnt. Bei Erika und beim Papa habe ich mich damals schnell eingelebt«, überlegte sie.

»Mein Vorschlag: Du bleibst fürs Erste hier«, drängte Korber auf eine Entscheidung. »Du kannst immer noch zu Erika und Leopold wechseln.«

»Und ihnen sagen, dass ich von dir komme?«

»Natürlich nicht! Du hast bei einer Freundin gewohnt, zum Beispiel bei Natalie, mit der du mich bei deinem letzten Aufenthalt besucht hast. Mach doch nicht alles so kompliziert!«

Sabine seufzte. »Papa kommt mit seinem detektivischen Gespür sicher drauf. Dann ist er für alle Ewigkeit auf dich und mich böse. Aber ich riskier’s unter einer Bedingung: Du vergisst, was kurzzeitig zwischen uns war, und wir bilden eine ganz normale Wohngemeinschaft. Dann hole ich meine restlichen Sachen aus Halbturn und ziehe in ein paar Tagen bei dir ein.«

»Selbstverständlich«, stimmte Thomas Korber zu. Er sah ein, dass im Augenblick nicht mehr drin war. So hatte er Sabine wenigstens in seiner Nähe.

Sabine wiederum wusste, dass sie sich auf eine heikle Sache eingelassen hatte. Sie war sich über ihre Gefühle Thomas Korber gegenüber nicht im Klaren. Einerseits mochte sie ihn sehr, andererseits wollte sie sich keinesfalls an ihn binden, schon gar nicht am Beginn eines Studiums. Studentin sein hieß doch, unbegrenzte Freiheiten zu haben und sich einfach auf Erlebnisse und Bekanntschaften einzulassen.

Sie hatte dabei vor, ihren Vater Leopold möglichst oft zu sehen. Sie freute sich schon auf ihn und seine Freundin Erika. Sie freute sich auch auf das Café Heller, in dem er arbeitete. Vielleicht durfte sie dort wieder einmal aushelfen. Und wenn sie Glück hatte, war ihr Vater sogar wieder mit der Aufklärung eines Verbrechens beschäftigt.

*

Katja Winkler saß in ihrem großen Fernsehsessel. Jetzt, wo sie dem Alkohol bereits über das verträgliche Maß zugesprochen hatte, ergriffen die Ereignisse aus der Vergangenheit wieder Besitz von ihren Gedanken. So muss es sein, wenn man stirbt, dachte sie. Das ganze Leben zieht in wenigen Zehntelsekunden an einem vorüber. In diesen Momenten dauerte es freilich etwas länger, und sie musste feststellen, dass ihre Erinnerung lückenhaft war.

Es gab zwei Brennpunkte in ihren Träumereien. Da war einerseits ihre Karriere als Schauspielerin und Bühnenliebling. Im Burgtheater und in der Josefstadt hatte sie nicht gespielt, aber sonst beinahe überall in Wien. Die Leute hatten sie fest ins Herz geschlossen. Der Applaus klang ihr noch immer in den Ohren, und sie roch den Duft der Blumen, die sie von ihren zahlreichen Verehrern bekommen hatte. Viele davon hatten eine oder mehrere Nächte mit ihr verbracht.

Dann der andere Brennpunkt: der Unfall, der komplizierte Bruch. Trotz Operation war der Fuß im Eimer gewesen, die Bühnenkarriere damit beendet. Hätte ich damals nicht gleich sterben können, fragte sie sich. Denn was war aus ihrem Leben anderes geworden als ein einziges Warten auf den Tod? Sie saß in ihrer Wohnung, lebte in der Vergangenheit und schaute sich ihren Schmuck an. Manchmal ging sie ins Schopenhauer, damit sie unter Leute kam. Dort gafften sie dann ein paar ältere Männer an, wenn sie sich allein an einen Tisch setzte. Die Auswahl war nicht gerade berauschend. Katja Winkler war immer noch attraktiv, sie pflegte sich, und der Alkohol hatte kaum sichtbare Spuren hinterlassen. Aber Männer von Qualität bekam sie keine mehr. Sie hatte es zuletzt deutlich bei diesem netten Oberkellner gemerkt.

Freunde oder Bekannte gab es praktisch keine, das Verhältnis zu ihrer Tochter war schlecht, genauso wie das zu ihrem Ex-Mann. Katja meinte deshalb, allen Grund zu haben, auf die Welt böse zu sein und anderen Menschen Böses anzutun. Bei ihren Reisen in die Vergangenheit erinnerte sie sich in erster Linie an Zwistigkeiten, Eifersüchteleien und Zerwürfnisse. Darauf gründete sie ihre Aktivitäten. Hier hatte sie etwas, wo sie anderen Menschen das Leben schwer machen konnte.

Gerechtigkeit durfte man nicht verlangen, niemand hatte Anspruch darauf. Aber jeder Mensch hatte die Möglichkeit, böse Dinge, die ihm widerfahren waren, durch ähnliche Gemeinheiten auszugleichen. Diese Dinge beschäftigten Katja, wenn sie abends zu Hause bei einer Flasche Rotwein saß. Im Kopf war sie noch sehr aktiv, und sie hatte in genug Dramen mitgewirkt, um sich ihre eigenen auszudenken.

Den Betroffenen gefiel das ganz und gar nicht. Aber darauf konnte Katja Winkler keine Rücksicht nehmen. Strafe musste eben sein.

*

Der Wind wurde in diesen Tagen heftig und kühl. Es war der erste Temperatursturz Anfang Oktober, der das Ende des Sommers einläutete und den Herbst ankündigte. Urteilte man nach den Gesichtern der Menschen an diesem Vormittag im Café Schopenhauer, so stand bereits der Winter vor der Tür. Grimmig sahen sie drein, als würden sie gegen eine unmittelbar bevorstehende Erkältung ankämpfen. Mancher trug bereits einen Schal um den Hals. »Ist denn gar nicht eingeheizt?«, fragte ein Glatzkopf mit Drahtbrille und weißem Vollbart vorwurfsvoll.

»Gleich drehen wir die Heizung auf«, beruhigte ihn Herbert Bäcker, wobei er mit ›gleich‹ bewusst ein Adverb mit höchst nebuloser Bedeutung verwendete. Er hatte nicht vor, sich wegen eines griesgrämigen Gastes in Unkosten zu stürzen. Auch ein heißer Tee wärmte.

David Panozzo schaute nicht gern in die Gesichter dieser mieselsüchtigen Gäste. Wo er konnte, wich er ihnen aus. Am liebsten stand er an so einem Tag hinter der Theke und blickte melancholisch zum Fenster hinaus, bis wieder etwas zu tun war.

Dabei schnappte er die Fetzen eines Telefongespräches auf, die ihn die Ohren spitzen ließen: »Sie wärmt schon wieder die alten Sachen auf. … Ja, die ›Grillparzer-Geschichte‹ … Unangenehm. … Katja kann einen bis aufs Blut ärgern. … Aber bei mir kommt sie damit nicht durch.«

War damit etwa Katja Winkler gemeint? Unwillkürlich war es Davids erster Gedanke, dass es um sie ging. Der Mann, der telefonierte, saß weiter vorn mit dem Rücken zu ihm.

»Nein, sie ist nicht gekommen … Gehört wohl zu ihrer Taktik … Ich hätte es mir gleich denken können.« Der Mann redete leise, aber David verstand trotzdem erstaunlich viel. Deshalb, weil ihn die Sache interessierte? Er beugte sich ein wenig nach vorn.

»Du brauchst keine Angst zu haben. … Ich lasse mir das nicht gefallen. … Dieses Mal nicht. … Ich werde ihr das Maul stopfen, ein für alle Mal. …« Der Mann wurde eine Spur heftiger, nahm sich dann jedoch wieder zurück. Für einen Augenblick schien es David, er wolle sich umschauen, ob ihm jemand zuhörte. Schließlich tat er es doch nicht.

Was er sagte, klang für David ziemlich bedrohlich. Ich muss wissen, wer das ist, ging es ihm durch den Kopf. Da stand der Mann auch schon auf und wandte sich zum Gehen. Richtig, er hatte ein paar Minuten vorher bezahlt. Aber wie hatte er ausgesehen? Jetzt rächte sich Davids Gleichgültigkeit den griesgrämigen Gesichtern der Kaffeehausgäste gegenüber. Er konnte sich nur mehr flüchtig an das äußere Erscheinungsbild des Mannes erinnern. Längeres schwarzes Haar, das über den Kragen hing, aber nicht bis zu den Schultern ging, das sah man jetzt noch. Und sonst? Eine dicke Sonnenbrille hatte er auf. Die trugen ja alle Menschen, die etwas zu verbergen hatten. Ein dünner Schnurrbart, die Lippen ebenfalls eher dünn. Das war’s dann auch schon. Alter? Keine 40 mehr, aber sicher noch keine 60. Kleidung? Jetzt dunkelblauer Mantel, vorher vermutlich graues Sakko. Ergab insgesamt keine zufriedenstellende Personenbeschreibung. David hätte sich ohrfeigen können.

Als er nach vor stürmte, um sich den Mann noch einmal genauer anzusehen, war dieser bereits durch die Tür hinaus verschwunden. Leopold hätte sich in einem solchen Fall wahrscheinlich an die Verfolgung gemacht, aber David, der erst seit Kurzem im Schopenhauer arbeitete, konnte sich so etwas nicht leisten. Er musste den Unbekannten wohl oder übel ziehen lassen.

Was blieb, waren Vermutungen über das rätselhafte Gespräch, das er aufgeschnappt hatte. Hatten sie tatsächlich jener älteren Dame gegolten, der David gelegentlich die Einkäufe hinauftrug? Wer wollte ihr Böses und warum? Sollte David ihr etwas darüber mitteilen, wenn er sie das nächste Mal sah? Oder schickte sich das denn doch nicht?

Er beschloss, es auf die Situation ankommen zu lassen. Aber zunächst ergab sich keine Gelegenheit dazu, da sich Katja Winkler während der nächsten Tage nicht im Schopenhauer blicken ließ.

Kapitel 3

Dienstag, 16. Oktober

Dann war sie plötzlich wieder da. Sie wirkte jedoch so desinteressiert, dass David sich nicht traute, ihr etwas über den seltsamen Zwischenfall zu erzählen. Sie trank ein Glas Rotwein, ging gleich wieder und schaute ihn beim Zahlen nicht einmal an.

Am nächsten Tag rief sie vormittags im Schopenhauer an und verlangte David zu sprechen. »Mir geht es schlecht. Ich kann heute nicht ins Kaffeehaus kommen«, eröffnete sie ihm. »Ich habe deshalb eine große Bitte an dich. Ich habe Lebensmittel im Supermarkt bestellt. Wenn du deinen Dienst beendet hast, sind sie fertig zum Abholen. Bring sie mir bitte wie gewohnt in meine Wohnung. Das tust du doch für mich, oder?«

»Selbstverständlich, gnä’ Frau«, zeigte sich David erbötig. »Ich hoffe nur, ich komme nicht ungelegen, wenn Sie sich nicht gut fühlen.«

»Aber geh, du störst doch nie«, versicherte Katja ihm. »Im Gegenteil! Und es soll dein Schaden nicht sein.«

»Machen Sie sich bitte keine Umstände«, beeilte sich David zu sagen. Katjas Worte erinnerten ihn an die Halskette, die er ihr unbedingt zurückgeben musste. Doch davon wollte er am Telefon nichts erwähnen. Er nahm sich stattdessen vor, konsequent zu bleiben, ihr höflich, aber bestimmt mitzuteilen, dass derartige Zuwendungen den erlaubten Rahmen überschritten, und sich von ihr unter keinen Umständen in eine verfängliche Situation bringen zu lassen.

David holte also nach seinem Dienstschluss Katjas Einkäufe aus dem Supermarkt, die dort schon für ihn bereitstanden. Es war deutlich weniger als bei den letzten Malen, aber schließlich fühlte sie sich nicht gut. Da brauchte sie wohl nur das Nötigste. Ob sie bettlägerig war? Beinahe tat sie David ein bisschen leid.

Er ging zu dem Haus in der Semperstraße, das er bereits kannte, läutete an und meldete sich durch die Gegensprechanlage. Sofort wurde ihm aufgemacht. Als er im zweiten Stock ankam, war die Tür bereits offen. Trotzdem klopfte David kurz an, um sich anzukündigen, und trat mit einem »Ich bin’s, Frau Winkler« ein.

Was ihm dabei sofort auffiel, war die merkwürdige Stille in der Wohnung. Vielleicht schlief Katja. Aber nein, das konnte nicht sein, sie hatte ihn doch eben hereingelassen. Egal, er wollte sich nicht lange aufhalten. Eigentlich genügte es, wenn er die Einkaufstasche im Vorzimmer abstellte und wieder ging.

Da erinnerte David sich an die Halskette. Die musste er Katja Winkler noch zurückgeben. Sie sollte wissen, dass er ihr Geschenk nicht annahm. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als kurz ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Es war ihm jedoch unangenehm, in der Wohnung nach ihr zu suchen. »Frau Winkler?«, rief er deshalb fragend.

Als sie nicht antwortete, nahm er sich ein Herz und ging ein paar Schritte weiter. Im Wohnzimmer war alles leer, nicht einmal die übliche Flasche Rotwein stand auf dem Tisch. Also schaute er ins Schlafzimmer daneben. Dort lag sie, aber nicht im Bett, sondern auf dem Boden. War ihr etwa schlecht geworden?

David blickte in den gequälten Ausdruck ihres Gesichtes, die weit aufgerissenen Augen. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie tot war. Er wollte sich zu ihr niederbeugen, da spürte er einen Schlag auf den Kopf und ihm wurde schwarz vor den Augen.

*

Als David Panozzo wieder zu sich kam, dröhnte sein Schädel. Für einen Augenblick hoffte er, alles sei nur ein böser Traum gewesen. Doch Katja Winklers Leiche vor ihm belehrte ihn rasch eines Besseren. An den Malen an ihrem Hals erkannte er, dass sie stranguliert worden war. Sie war nur mit einem blauen Morgenmantel, Slip und BH bekleidet.

David fuhr mit der Hand über seinen Kopf. Jemand hatte ihn niedergeschlagen, so viel stand fest – mit aller Wahrscheinlichkeit der Mörder oder die Mörderin. Er oder sie hatte sich offensichtlich noch in der Wohnung befunden, als David mit der Einkaufstasche hereingekommen war, hatte ihm sogar die Tür geöffnet. Ihn schauderte.

Wie lang war er da gelegen? Genau ließ sich das nicht feststellen, da er vorher nicht auf die Zeit geachtet hatte, aber sicher einige Minuten. An der bedrückenden Situation hatte sich jedenfalls nichts geändert. Irgendwo tickte eine Uhr, sonst war es vollkommen still. Katja Winklers Augen starrten ins Leere, und doch kam es David vor, als ob sie ihn fixierten. Ihr Mund, der im entscheidenden Augenblick nicht mehr zum Atemholen gekommen war, sah aus, als hätte er noch etwas sagen wollen, Worte, die nun endgültig erstickt blieben. David Panozzo merkte, wie schwach seine Füße waren. Am liebsten hätte er sich für unbestimmte Zeit wieder auf den Boden gelegt. Er sollte wohl die Polizei verständigen. Aber dazu fehlte ihm der entscheidende Mumm. Wenn er den Notruf betätigte, würde man ihm sicher mitteilen, er solle sich nicht vom Fleck wegrühren, bis die Beamten eingetroffen seien. So lange hielt er es aber allein neben der Leiche nicht aus.

»Wenn Leopold jetzt hier wäre, wäre alles einfacher«, sagte David zu sich. Gemeinsam mit ihm und seinem Kollegen von der Rezeption hatte er im Hotel Floridus schon einmal ein Mordopfer entdeckt. Dabei hatte er sich besser gefühlt. Leopold strahlte in solchen Situationen Ruhe aus und verhielt sich so, als sei das Auffinden eines Toten die selbstverständlichste Sache der Welt. Aber Leopold war im Augenblick nicht hier, er versah seinen Dienst im Café Heller jenseits der Donau. David musste also allein zurechtkommen.

Er schaute nochmals auf die Tote, die mit leerem Blick zurückstarrte. Ihn schwindelte. Er hielt es nicht länger hier aus. Hinaus, war sein einziger Gedanke, zumindest für ein paar Minuten, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

Er lief zur Tür und stand unversehens vor einer sehr jungen Frau, die gerade hereinkam. Sie hatte dunkles Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war, und trug einen grauen Pulli, Jeans und Stiefel. »Was tun Sie hier?«, fragte sie nach einer Schrecksekunde.

»Dasselbe würde ich gern von Ihnen wissen«, reagierte David nervös.

»Wo ist meine Mutter?«, kam es resolut von der Frau.

Es handelte sich also um Katja Winklers Tochter. Das machte die Sache auch nicht gerade leichter. »Hören Sie … Sie dürfen sich jetzt nicht aufregen …«, stotterte David, der mit der Situation nun gänzlich überfordert war.

Die junge Frau stieß ihn zur Seite und lief in die Wohnung. Gleich darauf hörte David ihren Aufschrei: »Sie haben sie umgebracht, Sie Mörder!«

Nun verlor David Panozzo endgültig den Kopf. Ohne über die Folgen nachzudenken, rannte er panisch aus der Wohnung, aus dem Haus, auf die Straße.

*

Dort landete er direkt in den Armen von Inspektor Bollek. »Schau an, schau an! Wo kommen Sie denn her?«, wunderte der sich, David wiedererkennend, über die unerwartete Begegnung.

David stammelte unbeholfen: »Ich war in dem Haus … bei einer Bekannten.«

»Und die haben Sie so eilig verlassen?«, meldete sich nun auch Oberinspektor Richard Juricek zu Wort. Raschen Schrittes, sein Markenzeichen – den Sombrero – tief ins Gesicht gezogen, ging er auf David Panozzo zu.

Es half wohl nichts mehr, um den heißen Brei herumzureden. Davids Situation war schlimm genug. Offenbar war die Polizei nicht zufällig da, sondern hatte bereits eine Information bekommen. »Sie ist tot«, räumte er kleinlaut ein.

»So etwas Ähnliches haben wir befürchtet«, teilte ihm Juricek mit und kratzte sich dabei an der Schläfe. »Allerdings nicht, dass Sie damit in Zusammenhang stehen.«

»Ich habe bloß die Leiche gefunden«, verteidigte David sich sofort.

»Sie kommen am besten mit uns hinauf und erklären uns oben alles«, schlug Juricek vor. David war das gar nicht recht, aber es blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Als er sich zähneknirschend anschickte mitzugehen, fiel Bollek etwas an ihm auf. Er stieß Juricek an und deutete auf David Panozzos Sakkotasche. Juricek zog seine Augenbrauen in die Höhe. »Was haben wir denn da?«, fragte er. Dann streifte er Handschuhe über und zog sorgfältig einen Nylonstrumpf heraus.

»Wenn der nicht zur Leiche gehört, gehe ich von da zu Fuß nach Hause«, raunte Bollek ihm zu.

David stand wie zur Salzsäule erstarrt da. »Ich kann mir das nicht erklären«, beteuerte er.

Juricek ließ das Beweisstück einpacken und durchsuchte anschließend Davids Taschen genauer. Nun kam auch Katja Winklers Halskette zum Vorschein, die David Panozzo in der Aufregung bei sich behalten hatte, anstatt sie wie geplant zurückzugeben. Alles schien sich gegen ihn zu verschwören. »Wenn die nicht zur Leiche gehört, gehe ich von mir daheim wieder hierher zurück«, frohlockte Bollek.

»Ihr Erklärungsbedarf wird immer größer«, ließ Juricek David wissen. »Aber schauen wir einmal nach oben. Dort sollten wir auf Jennifer Winkler, die Tochter der Toten, treffen.«

Mittlerweile hatten sich auch die ersten Leute von der Spurensicherung eingefunden. Katja Winklers Wohnung, zuerst noch so schrecklich leer, füllte sich rasch mit Leben. Ihre Tochter Jennifer identifizierte David als den Mann, den sie bei ihrer Mutter überrascht hatte. Dann schilderte sie Juricek mit Tränen in den Augen den Ablauf der Dinge aus ihrer Sicht: »Ich bekam eine SMS von meiner Mutter: ›Ruf die Polizei und komm schnell. Bin in Gefahr!‹« Sie zeigte Juricek den Text auf ihrem Handy. »Ich habe sofort die Polizei alarmiert und bin gleich hergefahren. Da ich nicht weit weg war, ist es sehr schnell gegangen und ich bin gerade gekommen, als der Mörder dabei war zu fliehen. Meiner Mutter habe ich leider nicht mehr helfen können.«

»Haben Sie vorher noch versucht, sie telefonisch zu erreichen?«, wollte Juricek wissen.

»Sicher! Aber sie hat nicht abgehoben«, schluchzte Jennifer. »Da wurde ich richtig panisch.«

»Kennen Sie den Mann, der Ihnen in der Wohnung begegnet ist?«

»Ich habe ihn noch nie in meinem Leben gesehen.«

»Wieso sind Sie dann zu dem Schluss gekommen, dass er der Täter ist?«

»Wer sollte es sonst sein? Er hat sich mehr als verdächtig benommen.«

Juricek musterte Jennifer. Sie war noch keine 20 Jahre alt. »Wohnen Sie noch bei Ihren Eltern?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Zum einen sind meine Eltern geschieden, zum anderen bin ich im Sommer endgültig von hier ausgezogen«, sagte sie, nun schon etwas gefasster. »Aber ich habe natürlich noch einen Schlüssel.«

»Sie leben allein?«

»Ja, in der Wohnung meiner Großtante Erna in Floridsdorf, die im Frühjahr leider verstorben ist. Ich war vorher schon mehr bei ihr als bei meiner Mutter. Es ist praktisch, weil ich dort ins Gymnasium gehe und im Sommer die Matura mache.«

Respekt, dachte Juricek. Patentes Mädel. Geht noch zur Schule, hat aber bereits eine eigene Bleibe und fährt mit dem Auto durch die Gegend. »Sie hatten also nur mehr losen Kontakt zu Ihrer Mutter?«, forschte er.

»Bitte fragen Sie mich nicht so viel«, jammerte Jennifer. »Sehen Sie nicht, in welchem Zustand ich bin? Meine Mutter ist gerade gestorben. Egal, wie oft ich sie in letzter Zeit gesehen habe und wie gut wir uns vertragen haben, sie war meine Mutter. Sie haben den Mörder doch schon. Ich verstehe gar nicht, warum Sie so viel von mir wissen wollen.«

Juricek hatte ein Einsehen. »Davon, dass der Fall bereits gelöst ist, kann keine Rede sein«, informierte er Jennifer. »Aber wenn Sie möchten, setzen wir die Befragung später fort. Denken Sie vor allem darüber nach, mit wem Ihre Mutter häufigen Umgang pflegte, ob sie Feinde hatte, ob Sie sich an etwas erinnern, was Sie mit dem Mord in Zusammenhang bringen können. Sie müssen sich auf jeden Fall zu unserer Verfügung halten. Vorerst eine letzte Frage: Besitzt Ihre Mutter Schmuck?«

Jennifer blickte auf. Sie wirkte erleichtert, dass sie nur mehr über so etwas Triviales Auskunft geben musste. »Jede Menge«, erklärte sie. »Sie hat alles hier bei sich in einem Safe.«

Juricek zeigte ihr die Halskette, die man bei David Panozzo gefunden hatte. »Gehört die ihr?«, fragte er.

»Sicher! Ich habe sie schon ein paarmal damit gesehen«, nickte Jennifer aufgeregt. »Hat er sie deswegen umgebracht?«

»Wir wissen vorerst noch gar nichts über Täter und Motiv«, gab sich Juricek bedeckt. Nachdem er sich ein Bild vom Tatort und der Leiche gemacht hatte, wandte er sich David Panozzo zu.

*

Juricek hörte sich Davids Schilderung der Ereignisse aus seiner Sicht in aller Ruhe an: Wie er in die Wohnung gekommen und von hinten niedergeschlagen worden war, nachdem er die Tote entdeckt hatte; wie er nach einigen Minuten aus seiner Ohnmacht erwacht und in Panik geraten war; und schließlich, wie er nach seinem Zusammenstoß mit Jennifer Winkler erfolglos versucht hatte, davonzulaufen.

»Ich verstehe nicht, warum Sie so reagiert haben, wenn Sie keine Schuld trifft«, bohrte Juricek. »Sie sind doch sonst kein Angsthase und schon gar kein kopfloser Mensch.«

»Wenn Sie’s genau wissen wollen: Ich habe mich hundsmiserabel gefühlt«, führte David aus. »Ich hatte Kopfschmerzen, die Beine waren schwach und der Magen flau. Außerdem war ich allein mit der Toten. Ihr Gesicht hat so einen schrecklichen Ausdruck gehabt. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten.«

»Wie kommt der Nylonstrumpf in Ihre Sakkotasche?«

»Das weiß ich nicht. Ich nehme an, die Person, die mich niedergeschlagen hat, hat ihn mir hineingesteckt.«

»Die Halskette hatten Sie laut Ihren Angaben aber bei sich, um sie Frau Winkler zurückzugeben. Sie behaupten, sie habe sie Ihnen schenken wollen. Warum hätte sie das tun sollen?«

David Panozzo wetzte unruhig im Vorzimmer auf dem Klappstuhl hin und her, auf den man ihn gesetzt hatte. »Frau Winkler hat sich wahrscheinlich einsam gefühlt und wollte mich näher kennenlernen«, räumte er ein und wurde dabei sehr leise. »Ich vermute, sie hat mir die Kette zugesteckt, damit ich mich ihr verpflichtet fühle.«

»Haben Sie die Kette irgendjemandem gezeigt oder jemandem von ihr erzählt? Ihren Kolleginnen und Kollegen im Schopenhauer etwa?«, fragte Juricek.

David lachte gereizt auf. »Nein, sicher nicht«, dementierte er sofort. »Das wäre doch urpeinlich gewesen.«

»Es wusste also niemand davon – außer Ihnen?«

»Nein!«

»Hatten Sie sexuelle Handlungen mit Frau Winkler?«

»Um Gottes willen, nein! Ich stehe nicht auf alte Frauen. Was soll diese geschmacklose Frage?«

»Ich versuche, einen Grund zu finden, warum Ihnen Frau Winkler diese Kette hätte schenken sollen«, setzte ihm Juricek auseinander. »Ihr Aussehen und Ihre zuvorkommende Art allein reichen meiner Ansicht nach dafür nicht aus. Soll ich Ihnen Ihre Geschichte glauben? Die Kette scheint mir wertvoll zu sein – in Gold eingefasste Edelsteine, soviel ich gesehen habe. Ihren Ausführungen zufolge kann niemand bestätigen, dass Sie sie bereits einige Zeit bei sich hatten. Sie könnten sie also genauso gut erst heute aus der Wohnung mitgenommen haben.«

David Panozzo schluckte. »Sie meinen … ich hätte …«

»Ich meine gar nichts, aber Sie müssen zugeben, dass dieses Stück ein logisches Motiv für den Mord an Frau Winkler wäre«, erklärte Juricek.

»Ich war’s aber nicht! Der Mörder war bereits vor mir da. Er hat mir die Tür geöffnet, sich versteckt und mich dann niedergeschlagen. Sie sehen doch, dass ich am Kopf verletzt bin«, wehrte David sich.

»Ich bestreite das nicht«, stellte Juricek klar. »Der Gegenstand war vermutlich ein Aschenbecher. Neben der Leiche liegt einer auf dem Boden. Könnte es aber nicht Frau Winkler gewesen sein, die damit zugeschlagen hat, weil sie sich verzweifelt gegen Sie zur Wehr setzte? Dass Sie nicht für kurze Zeit das Bewusstsein verloren haben, wie Sie behaupten, sondern nur einen plötzlichen starken Schmerz verspürt haben, der Sie nicht daran gehindert hat, die Frau mit einem ihrer Nylonstrümpfe zu erwürgen? Dass Sie daraufhin in Panik geraten sind, Strumpf samt Halskette eingesteckt haben und einfach raus aus der Wohnung wollten, wobei Ihnen Frau Winklers Tochter Jennifer in der Tür begegnet ist?«

»Was reden Sie da daher? Ich habe die Frau nicht umgebracht. Sie kennen mich doch, Herr Oberinspektor! Sie wissen, dass ich zu so etwas nicht fähig bin«, verteidigte David Panozzo sich verzweifelt.

»Wozu Sie fähig sind, kann ich nicht beurteilen«, blieb Juricek sachlich. »Die Indizien sprechen aber allesamt gegen Sie. Wir werden Ihre Fingerabdrücke nehmen und schauen, wo wir sie überall finden. Wir werden den Aschenbecher und den Nylonstrumpf untersuchen. Wenn sich daraufhin unser Verdacht erhärtet, sieht es nicht gut für Sie aus.«

»Welchen Grund hätte ich haben sollen? Ich wollte Frau Winkler die Kette zurückgeben, nicht wegnehmen. Ich habe keine Verwendung dafür.«

»Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie zeitweise einen sehr leichtsinnigen Umgang mit Geld gepflegt. Und die Kette ist einiges wert, das sehe sogar ich als Laie. So viel dazu. Wir werden alles nachprüfen, aber der Hauptverdächtige sind aufgrund der Faktenlage vorläufig Sie«, eröffnete Juricek dem betrübten David Panozzo. »Ich muss Sie deshalb bitten, uns zu begleiten.«

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
263 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839265826
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