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Am nächsten Tag öffnete Leopold kurz nach 7 Uhr früh die Pforten zum Kaffeehaus. Der Nebel hing noch immer über dem Stadtteil nördlich der Donau, aber es schien, als könne er sich während des Tages lichten – zumindest glaubten das die Wetterfrösche. Einstweilen huschten, nur schwach vom Schein der Straßenlaternen erfasst, die Menschen noch eher schemenhaft vorbei in Richtung U-Bahn, Schnellbahn oder zur gegenüber dem Café liegenden Straßenbahnhaltestelle.

Leopold mochte an sich diese Zeit, wenn der Tag, das Kaffeehaus und die Leute erwachten. Die ersten Gäste trafen zu einem Frühstück ein, und er war mit ihnen, bis auf eine Küchenhilfe, alleine. Herr und Frau Heller blieben am Morgen in ihrer Wohnung oberhalb des Kaffeehauses, und Aufsicht, Kontrolle und Organisation blieben alleine Leopold überlassen, sofern er und nicht ›Waldi‹ Waldbauer, Ober Nummer zwei im Café Heller, Dienst hatte.

Normalerweise wusste Leopold das in ihn gesetzte Vertrauen zu schätzen. Heute hatte er jedoch bleierne Glieder und einen dummen Kopf. Drei Seideln (Glas; 0,3 Liter) Bier und ein Stamperl (kleines (2cl) – oder größeres (4cl) – Glas Schnaps.) Weinbrand hatte er bis 1 Uhr früh noch mit Stefan getrunken, ehe die Chefin verspätet die Sperrstunde verkündet und Stefan hinauskomplimentiert hatte. Drei Seideln und ein Stamperl waren zu viel für einen schwachen Trinker wie Leopold, wenn er am nächsten Morgen arbeiten musste. Außerdem hätte man fast den alten Herrn Ferstl vergessen, der noch hinten bei den Kartentischen gesessen und eingeschlafen war. Ihn aufwecken, ihm sagen, wie spät es war, ihn zur Türe hinaus führen – vier Stunden Schlaf waren Leopold gerade noch geblieben.

Am liebsten hätte er Herrn oder Frau Heller gebeten, heute etwas früher herunterzukommen und ihm Gesellschaft zu leisten, aber er konnte sich noch an das grantige Gesicht der Chefin vom Vortag erinnern. Sie blieb zwar Leopold zuliebe öfter einmal länger auf, verzichtete jedoch nicht gerne wegen Stefan auf einen Teil ihres kostbaren Schlafes. Also nicht an die vergangene Nacht denken! Der Tag war jung.

Gleich würde ein Schwung Schüler aus dem nahe gelegenen Gymnasium das ehrwürdige Haus nach und nach beleben, um sich die Zeit bis zum Unterrichtsbeginn mit einem Schalerl Kaffee zu versüßen. Leopold kannte sie alle. Es waren treue Gäste, und viele blieben dem Kaffeehaus noch viele Jahre erhalten, wenn sie schon längst im Berufsleben standen und verheiratet waren. Sie sorgten für die nötige Blutauffrischung, ohne die die weitere Existenz eines Cafés wie des ›Heller‹ nicht gesichert war.

Und noch jemand würde aller Wahrscheinlichkeit nach wie beinahe jeden Morgen kommen: Professor Thomas Korber, Lehrer für Deutsch und Englisch und Leopolds bester Freund. Thomas war Ende 30, groß – beinahe 1,90 Meter – trug einen braunen Vollbart und leicht gewelltes Haar und zeigte erste Ansätze eines Bäuchleins. Thomas war ein Kaffeehausnarr, und Leopold wäre sein Lebtag gerne weiter ans Gymnasium gegangen, als er nach dem plötzlichen Tod des Vaters eine Lehre als Kellner hatte antreten müssen, weil das Geld zu Hause knapp wurde. So kreuzten sich ihre Interessen. Aber da war noch mehr. Thomas war ein Mensch, der andere in sich hineinschauen ließ. Er verbarg seine Stimmungen nicht. Er konnte ruhig und überlegt, aber auch überaus gereizt und verletzbar sein. Leopold las oft in ihm wie in einem Buch – und verstand ihn. Thomas wiederum schätzte Leopolds Witz und Menschenkenntnis. Daraus war von Anfang an jene Sympathie entstanden, die den Boden für eine jahrelange Freundschaft bereiten sollte.

Leopold fragte sich, wer heute zuerst eintreffen würde, sein Freund Thomas oder dessen Schülerin Gabi Neuhold. Sie kamen nie zusammen, aber immer fast gleichzeitig. Einmal hatte er beide auf seinem Weg ins Kaffeehaus in einer Ecke schmusen gesehen. Seither ahnte er Schlimmes und wusste, dass vieles, was wie Zufall wirkte, kein Zufall war. Hinter der Parallelität des Eintreffens steckte System.

Thomas hatte ein Verhältnis mit Gabi oder wollte eines mit ihr haben.

Aber warum tat er so etwas? Das verstand Leopold nicht. Warum gab Thomas sich mit einer Schülerin seiner Maturaklasse ab, die er noch dazu als Klassenvorstand leitete? Er musste doch wissen, dass das verboten war. Leopold nahm sich vor, sich in nächster Zeit ein wenig mehr um seinen Freund zu kümmern.

Etwas verschlafen wie immer schlurfte Gabi jetzt zur Türe herein, setzte sich zum ersten Tisch ans Fenster und bestellte einen Hauskaffee mit Kipferl. Fesch war sie schon mit ihrem schwarzen Haar, das locker zu den Schultern herabfiel, ihren schmalen, stark angemalten Lippen, auf denen immer ein leichtes Lächeln saß, den blauen, neugierigen Augen und den gut sichtbaren, aber nicht zu großen Brüsten. Das war jedoch noch lange kein Grund für Thomas, sich in sie zu verschauen.

Als der Herr Lehrer wenig später das Lokal betrat, wirkte er so schwungvoll wie eine Spielzeugpuppe, deren Batterien beinahe leer waren. Bei seinen Verrenkungen fielen Leopold unwillkürlich wieder die drei Seideln Bier und das Stamperl ein. Er kratzte sich leicht am Kopf.

»Guten Morgen, Leopold«, grüßte Thomas. »Na, was schaust du denn so? Musst erst auf Touren kommen? Keine Angst, ich auch!« Dabei zwinkerte er verständnisvoll in Richtung Leopold. »Bring mir einen kleinen Schwarzen, damit du auf andere Gedanken kommst.« Dann wandte er sich mit einer unschuldigen Geste in Richtung leere Sitzbank an Gabi:

»Darf ich? Oder musst du noch etwas lernen?«

»Nein, nein, nimm nur Platz«, lachte Gabi. Sie war gerade im Begriff, sich eine Zigarette anzuzünden.

›Jetzt duzen sie sich schon öffentlich‹, dachte Leopold, ›die kennen ja gar keinen Genierer (Schamgefühl). Und Thomas bekommt schon wieder dieses Leuchten in den Augen, kaum, dass er sich zu ihr gesetzt hat. So wie die beiden heute ausschauen, waren sie gestern sicher miteinander fort.‹ Er beschloss jedenfalls, sich zunächst einmal diskret hinter die Theke zurückzuziehen, um den kleinen Schwarzen für seinen Freund zuzubereiten.

Noch jemand kam, Isabella Scherer, eine Mitschülerin von Gabi. Sie winkte kurz schüchtern, blieb einen Augenblick lang stehen, gab sich dann aber einen Ruck und ging zögernd auf ihre Freundin und den Klassenlehrer zu. Thomas wirkte zunächst erstaunt, bedeutete Isabella jedoch, bei ihm und Gabi Platz zu nehmen.

»Ein Cola bitte«, rief Isabella in Richtung Leopold. Dann wandte sie ihren Blick sofort wieder Thomas zu. »Ich möchte nicht stören«, sagte sie, »aber ich muss dringend mit Ihnen reden, Herr Professor!« Es klang nach Geständnis, und Thomas fühlte sich in der Tat gestört.

»Was, jetzt, um halb 8 Uhr früh? Ich würde gerne meinen Kaffee in Ruhe trinken. Ist es denn so wichtig, dass es keinen Aufschub duldet?«, fragte er ein wenig verärgert. Er wäre jetzt lieber mit Gabi alleine gewesen.

Leopold brachte schweigend den kleinen Schwarzen und das Cola.

»Es ist sehr wichtig.« Isabella druckste ein wenig herum. Dann nahm sie sich ein Herz. »Ich … nämlich … ich bekomme ein Kind!«

Damit hatte sie ihren Klassenvorstand kalt erwischt. Thomas verschlug es die Sprache.

»Donnerwetter«, stammelte er. »Weißt du das schon lange?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ein paar Tage erst. Und da wollte ich gleich mit Ihnen darüber reden. Ich meine, Sie müssen das ja wissen, und hier redet es sich leichter als in der Schule.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Cola. »Ich weiß ja jetzt gar nicht, ob ich zur Reifeprüfung antreten kann, die Geburt ist Anfang Juni. Ich glaube, ich komme da in einen ganz schönen Schlamassel.«

»Nein, nein«, versuchte Thomas sie zu beruhigen. »Das mit der Matura kriegen wir schon irgendwie hin. Du musst zunächst einmal den Klassenabschluss schaffen, das ist das Wichtigste. Der ist Ende April, also müsste es sich ausgehen, wenn alles normal läuft. Einen Prüfungstermin finden wir dann schon für dich, auch wenn es sich nicht zum Haupttermin mit den anderen machen lässt. Du könntest etwa die Klausurarbeiten noch im Mai schreiben und dann mündlich im Oktober antreten oder aber alle Prüfungen im Herbst machen. Das ist nicht so schlimm. Zuerst einmal die Klasse, wie gesagt …«

»Von wem ist es denn?«, platzte Gabi dazwischen, die es vor lauter Neugier nicht mehr auszuhalten schien.

Isabella drückte sich um die Antwort herum. Sie trank hastig ihr Cola aus.

»Du musst es nicht sagen«, meinte Thomas mit einem vorwurfsvollen Blick auf Gabi.

»Doch, doch, es muss ja einmal heraus. Die Frage wird mir sicher noch öfter gestellt werden.« Isabella lächelte scheu. »Also, es ist vom … Erich.«

»Vom Erich?« Gabi beugte ihren Oberkörper mitsamt einer frisch angezündeten Zigarette weit über den kleinen Kaffeetisch und hielt sich die Hand vor den Mund, weil sie ein Lachen nicht unterdrücken konnte. »Das ist doch nicht möglich!«

»Es ist möglich!« Isabellas Ton wurde jetzt bestimmter. »Ich werde dir alles einmal erzählen, Gabi, und Ihnen vielleicht auch, aber bitte nicht jetzt. Für den Augenblick möchte ich nur, dass Sie Bescheid wissen, Herr Professor!«

Erich war Erich Nowotny, Sohn des Bauunternehmers und Mitglieds der Bezirksvertretung Ferdinand Nowotny. Er besuchte dieselbe Klasse wie Gabi und Isabella. Unter seinen Mitschülern galt er als durchaus ansehnlich, freundlich und hilfsbereit, aber auch ein wenig verklemmt und schüchtern. Es war ein offenes Geheimnis, dass er sich für Isabella interessierte, allerdings, so hieß es, ohne Erfolg. Sie hatte ihn zumindest öffentlich schon mehrmals abblitzen lassen.

»Weiß Erich es schon?«, fragte Thomas.

»Ja!« Es war ein kurzes, unliebsam hingeworfenes ›Ja‹.

»Und was … was werdet ihr jetzt machen?« Thomas bereute seine Frage, kaum dass er sie gestellt hatte. Er durfte als Klassenvorstand nicht so neugierig sein.

»Wir wollen heiraten«, sagte Isabella beinahe noch eine Spur kühler.

Gabi löste die sich anspannende Situation. »Komm«, sagte sie zu Isabella. »Gehen wir gemeinsam vor zur Schule und plaudern wir noch ein bisschen.« Sie konnte ihre Neugier kaum verbergen.

Isabella überlegte kurz, dann nickte sie, stand auf, nahm Mantel und Tasche und verabschiedete sich von ihrem Klassenvorstand. Gabi griff Thomas im Vorbeigehen auf die Schulter, als ob sie sich entschuldigen wollte, sagte:

»Tschüss, bis später!« und verließ gemeinsam mit Isabella das Lokal.

Zurück blieb ein einigermaßen verdatterter Thomas Korber. Aufpassen, dass es mit Gabi nicht so geht wie mit Isabella und Erich, dachte er. Das konnte er in der jetzigen Situation am wenigsten brauchen. Seine derzeitigen Gefühle waren nicht erlaubt, das wusste er, aber so sehr er sie auch hinterfragte, sie waren stärker als jedwede Rücksichtnahme auf seinen Beruf oder irgendwelche moralischen Wertvorstellungen.

›Was bin ich doch für ein Idiot‹, sagte er zu sich, während er hastig seinen Kaffee austrank und Leopold zum Zahlen rief.

Leopold schien von irgendwo weit her zu kommen. Er hatte in den vielen Jahren seiner Tätigkeit als Kellner gelernt, so unauffällig wie möglich die Nähe eines Tisches zu suchen, an dem sich eine interessante Entwicklung anbahnte. Auf diese Weise konnte er den Großteil einer Unterhaltung verfolgen, ohne dass es den Beteiligten auch nur im Geringsten auffiel. Er war, wie immer, bestens informiert, als ihn Thomas über die Schulter fragte:

»Na, was sagst du zu diesen Neuigkeiten?«

»Was soll ich sagen«, meinte er nur kurz, als er das Geld einstreifte. »Übers Jahr ist Hochzeit, kannst Gift drauf nehmen.«

*

Leopold sog tief und genüsslich an seiner Zigarette. Sein Dienst war gleich vorüber, und draußen schien sich die schwache Novembersonne gegen den Nebel durchzusetzen. Was wollte man mehr? Er musste nur noch warten, bis sein Kollege ›Waldi‹ Waldbauer in seiner Kellnerlivree herunterkam, dann konnte er sich umziehen, nach Hause gehen, einen Nachmittag und Abend ohne Kaffeehaus verbringen.

Was er tun würde? Zunächst einmal ein paar Stunden ausruhen, dann einen Sprung stadtauswärts fahren, zum ›Fuhrmann‹, einem kleinen Heurigenlokal, wo er wahrscheinlich Thomas treffen würde. Er wollte in aller Ruhe mit ihm reden. So durfte das nicht weitergehen. Ein Blinder hatte heute sehen können, dass er dieser Gabi nachstieg. Nicht nur, dass er sich damit vor Schülern und anderen Kaffeehausgästen lächerlich machte, er setzte sich auch jederzeit der Gefahr einer Denunziation aus. Das konnte ihn seinen Beruf kosten. Und was Gabi betraf, die spielte doch nur mit ihm, das war doch niemals ernst gemeinte Zuneigung.

Er musste mit Thomas sprechen.

Es war jetzt Viertel nach zwölf. Warum der ›Waldi‹ nur immer so lange mit dem Umkleiden benötigte. Eine großartige Bestellung konnte Leopold jetzt nicht mehr brauchen. Ganz in Gedanken versunken, merkte er gar nicht, wie die kleine, zerfurchte Gestalt, die plötzlich vor ihm stand, ins Lokal gekommen war. Es war Herr Berger, der Kostgänger von Frau Susi, der um diese Zeit normalerweise mit einem Schnitzel und nicht wie jetzt mit den Tränen kämpfte.

»Ja, grüß Sie, Herr Berger, Mahlzeit!«, begrüßte ihn Leopold. »Aber was haben Sie denn? Sie sind ja ganz aufgelöst.«

»Was ich habe?« Herr Berger bemühte sich, so deutlich zu sprechen, wie es in seinem derangierten Zustand möglich war. »Ich wollte nur zur Frau Susi essen gehen wie immer. Da hat es mich schon gewundert, dass mir niemand aufgemacht hat. Also habe ich meinen Schlüssel genommen und zuerst das Haustor und dann die Wohnungstür aufgesperrt.«

»Und?«, fragte Leopold.

»Nichts und. Auf dem Boden ist sie gelegen, die Frau Susi! Tot ist sie! Den Kopf hat ihr einer eingeschlagen!«

»Um Gottes willen!«

Leopold wirkte nach außen hin schockiert und ergriffen, durchdachte die Situation jedoch in seinem Inneren sofort rational und logisch. Ein Gast war tot, ein guter Gast sogar. Das stand zu bedauern. Andererseits war offensichtlich ein Verbrechen geschehen. Und Verbrechen gehörten zu den geheimen Passionen des Obers Leopold. Er liebte nichts mehr als eine Schreckenstat in seiner näheren Umgebung.

Seit er einmal mitgeholfen hatte, einen biederen Kaffeehausgast als Kopf einer Bande von Kunstdieben zu entlarven, fühlte er sich prädestiniert für die Aufklärung von Straftaten aller Art.

»Aus dir hätte ein großer Kriminalist werden können«, hatte Inspektor Juricek, mit dem er im Gymnasium dieselbe Schulbank gedrückt hatte und der damals mit dem Fall betraut gewesen war, gesagt und ihm herzlich für die Mitarbeit gedankt. »Kannst mir jederzeit wieder aushelfen, wenn es sich einmal ergibt.« Mittlerweile arbeitete Richard Juricek bei der Mordkommission und war Oberinspektor. Und Leopold nahm sein Angebot ernst, sehr ernst sogar.

Er konnte sich nicht helfen, aber die Botschaft von einem Mord war in diesem Fall eine gute Botschaft. Er schien Herrn Berger gar nicht zu hören, der verzweifelt vor sich hin stammelte:

»Wenn Sie das gesehen hätten, Leopold, das viele Blut … direkt abgebeutelt hat’s mich, beinahe hätte ich mich gleich neben die arme Susi gelegt … käsebleich muss ich gewesen sein … dabei wollte ich doch nur zum Mittagessen … aber jetzt ist mir der Appetit vergangen. Man muss die Polizei verständigen, Leopold!«

Den letzten Satz hatte er ein wenig lauter gesprochen und Leopold aus seinen Gedanken gerissen. Leise, Berger, leise! Zunächst einmal musste man dafür sorgen, dass jeder Aufruhr tunlichst vermieden wurde. Gott sei Dank waren im Augenblick kaum Gäste im Lokal, und Berger redete in seiner Verwirrung so undeutlich, dass noch niemand die Situation richtig erfasst hatte.

»Haben Sie gehört, Leopold? Wir müssen die Polizei anrufen!«

»Ja, ja, aber beruhigen Sie sich doch erst einmal, Herr Berger! Trinken Sie ein Stamperl auf Kosten des Hauses. Das ist gut für die Nerven.« In aller Eile kredenzte Leopold dem am ganzen Leibe zitternden Berger einen großen Weinbrand. »Na, geht’s schon besser?«, fragte er, nachdem der ausgetrunken hatte. Und weiter:

»Sie haben doch einen Schlüssel zu der Wohnung von der Frau Niedermayer?«

»Ja, natürlich! Aber warum?«

»Weil wir zwei dort noch einmal hingehen, Herr Berger. Keine Angst, es passiert schon nichts. Aber erstens ist es immer besser, vom Tatort selbst anzurufen, das wissen Sie ja.« Berger schüttelte verdattert den Kopf. »Damit wir sehen, ob die Leiche noch da ist, beziehungsweise, ob überhaupt eine da ist, verstehen Sie! Das möchte ich schon überprüfen. Was machen wir, wenn die arme Frau Susi plötzlich verschwunden ist? Ich wette, Sie haben in Ihrer Aufregung nicht einmal die Tür richtig zugemacht. Und zweitens muss ich noch dringend etwas aus der Wohnung holen.«

Für den verdutzten Berger war das alles ein Rätsel. »Müssen wir wirklich?«, fragte er nur ungläubig.

Aber Leopold hatte seinen Entschluss bereits gefasst. Es war eine einmalige Gelegenheit, noch vor der Polizei einen Blick auf den Tatort zu werfen und dafür auch noch einen halbwegs plausiblen Grund zu haben. Außerdem hatte er gestern etwas aus der Innentasche von Frau Susis Mantel leuchten gesehen, als er ihr in diesen hinein geholfen hatte, und hätte jetzt nur zu gerne gewusst, was das war. Es mochte belanglos sein – aber andererseits gab es bei einem Mord keine Belanglosigkeiten.

»Ja, ja«, sagte Leopold. »Schauen Sie, ob wir von hier oder von drüben die Polizei anrufen, ist doch ziemlich egal. Und ich hab der Frau Susi ja schon vor Wochen den Bildband über Kalifornien geborgt und nie mehr zurückbekommen. Wenn ich mir den jetzt nicht hole, ist er weg. Sie kennen das ja. Wo die Leute von der Spurensicherung ihre Finger einmal drin gehabt haben, findet man so leicht nichts mehr. Und wenn so einem so ein schönes Bücherl auch noch gefällt …« Leopold machte eine ziemlich eindeutige Handbewegung.

»Vielleicht haben Sie recht. Gehen wir aber schnell, damit wir’s hinter uns bringen«, jammerte Berger.

Da tauchte auch schon Herr Waldbauer in seiner Livree auf.

»Jetzt können wir gehen«, sagte Leopold. »Waldi, sag der Chefin, wegen der Abrechnung, ich komm gleich noch einmal. Ich muss nur schnell noch mit dem Herrn Berger was erledigen.«

Waldi Waldbauer wunderte zum Glück nichts mehr, dazu war er schon zu lange in diesem Geschäft und kannte außerdem Leopold viel zu gut. Er nickte nur stumm und trat mit steinerner Miene seinen Dienst an.

Leopold hingegen ging noch zu einer ominösen großen Lade, die sich links neben den Billardtischen befand, und kramte darin herum. Es war seine geheime Schatztruhe, sein Heiligtum, in dem er Dinge aller Art und für jeden Zweck verborgen hielt. Obwohl die Lade stets unverschlossen war, konnte sich niemand daran erinnern, dass sie schon einmal jemand außer Leopold geöffnet hatte. Nun zauberte er zwei Paar Handschuhe daraus hervor. Eines davon drückte er Berger in die Hand.

»Das werden Sie brauchen«, sagte er. »Erstens ist es noch ganz schön frisch draußen und zweitens sollten wir keine Fingerabdrücke am Tatort hinterlassen!«

3

Wen wundert’s, dass Herr Berger das Haus, in dem seine Kostgeberin zu Tode gekommen war, mit schlotternden Knien betrat? Zum einen hatte er noch nie so überraschend und unverhofft eine Leiche zu Gesicht bekommen. Zum anderen strahlen alte Häuser, wenn es sich nicht gerade um ein Stadtpalais oder ein romantisches Herrenhaus, sondern um einen von den Jahren gezeichneten Zeugen billigen Wohnbaus aus der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert handelt, eine eher düstere Atmosphäre aus.

Auf Berger wirkte das alte Gemäuer jetzt noch furchterregender als sonst. Im Eingangsflur und dem engen Stiegenhaus mit der gewundenen Treppe war es so dunkel, dass das schwache künstliche Licht zu jeder Tages- und Nachtzeit aufgedreht bleiben musste. Ein abgestandener Geruch, der durch die feuchten Wände noch verstärkt wurde, raubte denjenigen, die nicht hier wohnten, schon beim Hineingehen den Atem. Zurzeit roch es außerdem zusätzlich nach Kohl und Knoblauch.

Trotz all dieser Widerwärtigkeiten erreichten die beiden Herren unbeschadet den ersten Stock, wo sich die Wohnung von Frau Niedermayer befand.

»Ich will nicht noch einmal hineingehen«, murrte Berger.

»Sie können ja im Vorzimmer stehen bleiben, aber jetzt machen S’ bitte einmal auf«, erwiderte Leopold ungeduldig. Er konnte es nicht erwarten, einen geradezu jungfräulichen Tatort vor sich zu haben. Außerdem war ihm in dem dunklen, engen Gang wohl auch ein wenig mulmig.

Ein wenig zitternd nahm Berger den Wohnungsschlüssel hervor und schloss die Türe auf. Während Leopold kurz den kleinen Vorraum musterte und das Licht aufdrehte, blieb er nahezu unbeweglich hinter der Türe stehen.

»Wenn Sie wirklich nicht weiter gehen wollen, dann sagen Sie mir wenigstens, wo sie liegt«, brummte Leopold.

»Im Wohnzimmer«, kam es leise von Bergers Lippen.

Die Tür zum Wohnzimmer lag rechter Hand. Sie führte in einen einfach eingerichteten Raum mit einem Tisch und einer kleinen Sitzecke, einem Fernsehapparat, einer Zimmerpflanze, einem Wandschrank und einigen Regalen, auf denen Bücher und Zeitschriften gestapelt waren. Zwischen dem Schrank und den Regalen befand sich die Tür zum Schlafzimmer. Vor dem Schrank lag die Tote. Der Kopf war leicht zur Seite gedreht, und so sah Leopold sofort die Wunde am Hinterkopf, die den Tod herbeigeführt hatte. Der Teppich war voll Blut.

Leopold schüttelte den Kopf. »So ein schönes Nachthemd zum Sterben anziehen ist ja die reinste Verschwendung«, murmelte er.

Er vermutete, dass der gewaltsame Tod eingetreten war, als Frau Susi sich gerade zu Bett begeben wollte. Die Türe war nicht aufgebrochen worden. Also hatte der Mörder einen Schlüssel wie Herr Berger, oder Susi hatte ihn noch herein gelassen. Das alles musste sich sehr spät zugetragen haben, denn Susi hatte ja erst um halb zwölf das Kaffeehaus verlassen. Aber wann genau?

Neben dem Fernsehapparat lag eine aufgeschlagene Programmzeitschrift. Am Montag, dem 6. November, waren mehrere Sendungen unterstrichen, zwei Gameshows und einige Dokumentationen. Eine dieser angezeichneten Dokumentationen hieß ›Metropolen der Welt: Chikago‹ und war als Wiederholung von 0.30 Uhr bis 1.15 Uhr gelaufen.

Immerhin etwas. Möglicherweise hatte sich Susi Niedermayer diese Sendung noch angesehen, ehe – oder während – sie auf ihren Mörder getroffen war. Die Leiche lag jedenfalls schon länger da, und außerdem war ein gewaltsamer Tod im Morgengrauen statistisch eher unwahrscheinlich.

Erst jetzt fiel Leopold der eigenartige Geruch auf. Es roch in der Wohnung nach Rauch, wenn auch nur schwach. Zuerst hatte er es gar nicht richtig wahrgenommen. Seine Nase war an die verrauchte Kaffeehausluft so gewöhnt, dass ihm dieser leichte Geruch nach Zigarettenrauch gar nicht aufgefallen war. Aber jetzt merkte er es umso deutlicher: Hier hatte jemand geraucht, und er glaubte nicht, dass es Frau Susi gewesen war.

»Herr Berger, haben Sie die Frau Susi jemals rauchen gesehen?«, rief Leopold ins Vorzimmer.

»Nicht, dass ich wüsste«, kam es trocken von dort zurück. »Wann rufen Sie endlich an? Das Telefon steht neben dem Fernseher.«

»Gleich, Herr Berger, gleich! Ich kann nicht zaubern«, sagte Leopold. Dann warf er einen Blick ins Schlafzimmer und entdeckte auch hier Seltsames. Links über dem breiten Doppelbett, dessen Sinn Leopold jetzt nur mehr durch eine gewisse körperliche Verbreiterung bei Frau Susi begründet sah, das aber früher einmal beiden Schwestern als Schlafstatt gedient haben mochte, hing die eingerahmte Fotografie einer weiten Prärielandschaft. Der Platz rechts daneben war frei, eine etwa 50x70 cm große Fläche, bei genauerer Betrachtung heller als der Rest der Wand. Was auch immer dort gehangen hatte, hing jetzt nicht mehr da.

Das Bett selbst war unberührt. Frau Susi hatte sich also noch nicht schlafen gelegt, als sie umgebracht wurde.

»Kommen Sie, Leopold, rufen Sie an!«, klang es ungeduldig aus dem Vorzimmer.

»Jetzt beruhigen Sie sich doch, Herr Berger, und beantworten Sie mir noch eine Frage: Wie viele Bilder hängen für gewöhnlich über dem Bett der Frau Susi?«

»Ach, Sie meinen die zwei komischen Fotos? Da ist das eine, das einmal jemand von ihr und so einem Kerl mit Cowboyhut gemacht hat – furchtbar geschmacklos – und das andere, das … das …«

»Von der Prärie?«

»Von der Prärie, genau. Was soll diese Fragerei?«

»Sie werden schon sehen, Herr Berger, alles hat seine kriminalistische Notwendigkeit. Und noch etwas ist wichtig: Wie gründlich war immer aufgeräumt, wenn Sie zum Mittagessen gekommen sind?«

»Mir tut es langsam schon leid, dass ich Sie überhaupt bemüht habe, Leopold. Sie scheinen ja gar nicht an den Anruf zu denken! Aber bitte. Die Frau Susi war keine schlampige Person, wenn Sie das meinen, sie hat schon auf sich und die Wohnung geschaut. Nicht übertrieben allerdings.«

»Es lag also ab und zu etwas herum?«

»Ja, sicher! Aber das hat nicht weiter gestört. Mich zumindest nicht.«

Und jetzt lag nichts herum außer der Leiche. Alles sah blitzblank zusammengeräumt aus. Der Täter hatte sich reichlich bemüht, alle Spuren zu verwischen. Wie gut ihm das gelungen war, würden die Leute von der Spurensicherung herausfinden. Jedenfalls handelte es sich um eine gründliche Person, und es war einstweilen völlig unklar, ob etwa Geld oder Wertgegenstände fehlten. Eine Tatwaffe war natürlich auch nirgendwo auszumachen.

Leopold durchquerte den Vorraum, sagte automatisch:

»Gleich, Herr Berger, gleich«, und warf noch rasch einen Blick in die Küche. Dort herrschte schon ein wenig mehr Unordnung. Schmutziges Geschirr stand im und neben dem Abwaschbecken. Leopolds Augen suchten nach irgendetwas, einem Aschenbecher, zwei Kaffeeschalen oder zwei Gläsern, den Überresten eines – wenn auch noch so kurzen – Beisammenseins, das dann mit einem gewaltsamen Tod geendet hatte. Aber nichts deutete mit Bestimmtheit auf ein solches Beisammensein hin. Der Täter war also auch in dieser Hinsicht sehr gewissenhaft gewesen, oder Leopold lag einfach falsch mit seiner Vermutung.

Er öffnete den Kühlschrank. Wurst, Käse, Milch, Rahm, Eier. Nichts Besonderes, bis auf eine ungeöffnete Flasche Wein im obersten Regal und eine halbvolle Flasche Martini in der Kühlschranktür. Das wunderte ihn schon ein bisschen. Im Kaffeehaus hatte Frau Susi seines Wissens nie Alkohol getrunken.

Langsam erkannte Leopold, dass sich ihm immer mehr Fragen stellten, auf die er keine Antwort wusste. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, seinen Freund Richard Juricek bei der Mordkommission anzurufen.

»So, jetzt werden Sie endlich erlöst, Herr Berger«, sagte er, als er wieder durchs Vorzimmer ins Wohnzimmer gehen wollte. Da fühlte er plötzlich eine merkwürdige Stille um sich. Er hob die Augen, und sein Herz schlug jetzt merkbar schneller.

Das Vorzimmer war leer. Herr Berger war nicht mehr da.

*

»Herr Berger?«

Ungehört verhallte diese reflexartig gestellte Frage im Raum. Herr Berger war verschwunden, hatte das Weite gesucht, hatte sich still und heimlich aus dem Staub gemacht. Leopold war mit der Leiche allein.

Die Stille behagte ihm nicht. Es war einer jener Augenblicke, in denen seine sonstige Selbstsicherheit auf die Probe gestellt wurde. Oft waren es diese kleinen, überraschenden Wendungen, die ihn kurz aus dem Tritt brachten, ehe er wieder klar zu denken begann. »Ich bin ja selber schuld, wenn ich jetzt dastehe wie bestellt und nicht abgeholt«, sagte er zu sich. »Ich habe es eben wieder einmal übertrieben. Trotzdem ist der Berger ein elender Feigling!«

Der Mantel! Vor Leopolds Augen hing jener dunkelblaue Mantel, den Frau Susi gestern im Kaffeehaus angehabt hatte. Er hatte deutlich gesehen, dass innen etwas Weißes herausleuchtete, als er ihr hineingeholfen hatte. Beinahe hätte er vergessen, dass er auch deswegen in diese Wohnung gekommen war. Voller Erwartung machte er einen fachmännischen Griff in die Innentasche des Mantels, und sein Erinnerungsvermögen wurde belohnt. Zwei Dinge fanden sich in seiner Hand: ein Brief und eine Notiz auf einem Zettel. Der Brief war an Gertrud Niedermayer in Groß Enzersdorf adressiert, es klebte aber noch keine Marke darauf, und das schien auch der Grund zu sein, warum er noch nicht aufgegeben war. Auf dem Zettel stand eine Telefonnummer: 271 77 85.

›Merkwürdig‹, dachte Leopold, ›jetzt hat die mit ihrer Schwester tatsächlich nur mehr schriftlich verkehrt.‹ Er steckte sicherheitshalber Brief und Notiz ein.

Als er überlegte, was nun weiter zu tun war, läutete es zweimal an der Tür. Er zuckte zusammen. »Herr Berger?«, rief er nochmals fragend und unsicher.

Statt einer Antwort läutete es wiederum. »Machen Sie auf«, sagte eine schrille Frauenstimme. »Ich weiß, dass Sie hier sind.«

»Wer ist da?«, fragte Leopold. Zögernd öffnete er die Tür einen Spalt breit. Draußen stand eine Frau unbestimmten Alters, nicht mehr taufrisch, aber jünger als die Ermordete. Sie hatte schwarzes, grau durchzogenes, fettiges Haar, das nach hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Das Gesicht war stark geschminkt und hatte sicher mehr Falten, als man in dem diesigen Licht erkennen konnte. »Ich heiße Maria Ivanschitz«, sagte sie. »Und Sie sind sicher der Herr Leopold!«

»Woher wissen Sie denn das?«, fragte Leopold misstrauisch.

»Vom Herrn Berger. Er ist gerade ganz aufgeregt auf dem Gang gestanden, als ich ihn zufällig durch meinen Türspion gesehen habe. Ich bin nämlich die Nachbarin von gegenüber. Na, und wie ich ihn so sehe, habe ich die Tür aufgemacht und ihn gefragt, was denn los ist, was er denn hat, ob etwas mit der Frau Susi ist. Er war ja heute schon einmal da, wie Sie wissen, und ist da gleich wieder weggerannt. Kurzum« – sie holte einmal tief Luft – »kurzum, er sitzt jetzt bei mir auf ein Schalerl Kaffee und hat mir gesagt, dass Sie auch hier sind. Sagen Sie, stimmt es, dass die Frau Susi tot ist? Dass man sie … erschlagen hat?«

»Sie können ja selber nachschauen«, meinte Leopold, immer noch misstrauisch.

860,87 ₽
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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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283 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839230787
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