promo_banner

Реклама

Читать книгу: «Freitod», страница 3

Шрифт:

„Da könntest du mit deiner Vermutung richtig liegen. Was sollen wir deiner Meinung nach unternehmen?“, fragte Ronni reichlich naiv, obschon er Franks Antwort bereits kannte.

„Ja, was wohl? Wir haben einen Fall – einen Vermisstenfall, vielleicht sogar einen unklaren Todesfall. Wir sollten die Ermittlungen aufnehmen“, war Franks eindeutige Forderung.

„Wir? Du meinst sicher ich. Du bist dabei raus“, antwortete Ronni spontan.

„Klar, ich meine auch dich. Aber vielleicht kann ich dir ein wenig zur Seite stehen, schließlich kenne ich die Familie. Ich könnte mich zum Beispiel einmal mit der Ehefrau oder mit der Tochter unterhalten. So von Freund zu Freundin. Ist vielleicht besser, als wenn du offiziell mit der Frau und mit der Tochter sprichst.“

„Hm“, machte Ronni und nickte bedächtig.

„Vielleicht hast du recht. Ich werde bei den Kollegen nachhören, wie damals die Ermittlungen verlaufen sind. Außerdem werde ich genaue Informationen über die Firma von Jochen Lippmann einholen. Vielleicht stoßen wir auf irgendwelche Ungereimtheiten. Aber du hältst dich zurück. Du kannst gerne privat mit der Ehefrau sprechen, aber das war es dann auch. Du bist nicht mehr im Dienst.“

„Natürlich, und danke. Ich fühle mich jetzt wieder besser. Es geht doch nichts über eine interessante Aufgabe.“

Ronni war erstaunt, wie sich die mentale Verfassung seines früheren Kollegen in wenigen Minuten vom Negativen ins Positive ändern konnte. Dass Frank von einer interessanten Aufgabe sprach, darauf wollte er besser nicht eingehen.

„Du hast deine Tochter erwähnt. Habt ihr inzwischen wieder Kontakt? Du hattest doch lange Zeit nichts mehr von ihr gehört, wenn ich mich recht erinnere“, wechselte Ronni das Thema.

„Stimmt. Seit zwei Jahren haben wir uns nicht mehr gesehen und gesprochen. Vor zwei oder drei Wochen habe ich sie gesehen. Sie saß draußen im Café in Bonn. Sie nickte mir kurz zu und wandte sich dann wieder ihrem Begleiter zu.“

„Und was hast du gemacht?“

„Ich habe ebenfalls genickt und bin weitergegangen.“

Ronni schüttelte den Kopf.

„Wieso hast du sie nicht angesprochen?“

„Sie war schließlich in Begleitung. Glaubst du, sie hätte dann Zeit für ihren alten Vater?“

„Du spinnst doch. Was heißt hier alter Vater. Erst einmal bist du nicht alt und zweitens bist du schließlich ihr Vater.“

„Trotzdem, ich will mich nicht aufdrängen. Als ich nach Hause kam, habe ich mir meine Laufschuhe angezogen und bin eine Runde joggen gegangen. Ich hasse Joggen wie du weißt, aber es macht den Kopf frei.“

Ronni schüttelte erneut den Kopf und wollte fragen, wieso er denn joggen gehe, wenn er es doch so sehr hasste, ließ die Frage dann doch bleiben. Er kannte Frank und wusste, dass er sich gerne quälte – besonders dann, wenn etwas nicht so lief, wie er es sich vorstellte.

„Wir hören voneinander. Ich werde demnächst Frau Lippmann aufsuchen“, sagte Frank, stand auf und verabschiedete sich von seinem Freund Ronni.

Würde Ronni ihn nicht kennen, wäre er mit Sicherheit über Franks plötzlichen Aufbruch pikiert gewesen – aber er kannte ihn nur zu gut.

4
Mai 2019

Die Dämmerung hatte eingesetzt und die Straßenlaternen verbreiteten bereits ihr schummriges Licht. Nicht mehr lange und die Dunkelheit der Nacht würde sich wie ein Laken über die Stadt legen.

„Die nächste Straße rechts abbiegen“, sagte die emotionslose Frauenstimme seines Navigationsgerätes.

Jochen Lippmann schaute zur Sicherheit noch einmal auf das Display und fuhr langsam um die Kurve in die genannte Straße hinein. Das große, viereckige Schild direkt hinter der Einbiegung zeigte an, dass es sich um eine Spielstraße handelte. Obschon zu dieser Uhrzeit nicht mehr mit spielenden Kindern zu rechnen war, fuhr er wie vorgeschrieben im Schritttempo. Rechts und links standen kleine und auch große, prunkvolle Einfamilienhäuser. Hin und wieder stand vor der Haustür ein Kinderfahrrad oder Kettcar, das darauf schließen ließ, dass hier junge Familien mit Kindern wohnten.

Er überquerte eine Straßenkreuzung. Die Spielstraße war danach zu Ende, allerdings war die Geschwindigkeit von 30 km/h vorgeschrieben. Die Art der Häuser wechselte in diesem Teil der Straße zu eingeschossigen Reihenhäusern mit Garage und zweigeschossigen Mehrfamilienhäusern. Entlang der Straße befanden sich PKW-Einstellplätze, die durch Bauminseln und mit Sträuchern bepflanzte Grünstreifen vom Bürgersteig getrennt waren. Die Grünstreifen wurden lediglich durch die Garagenzufahrten geteilt.

„Sie haben Ihr Ziel erreicht. Das Ziel befindet sich auf der rechten Seite“, sagte die Frauenstimme mit gleicher Freundlichkeit.

Er schaute aus dem Seitenfenster und sah die gesuchte Hausnummer 88, ein Mehrfamilienhaus. Er parkte den Wagen auf einem der Einstellplätze und stellte den Motor ab.

Mit einem Mal waren da Zweifel. Er hatte sich doch sein Vorgehen gut überlegt – wieso jetzt diese Zweifel? War das die Angst vor seinem eigenen Plan oder konnte das eine böse Vorahnung sein? Eine Vorahnung, dass sein Plan aus dem Ruder laufen würde?

Er lehnte sich zurück und schloss für kurze Zeit die Augen. Noch einmal erinnerte er sich, wie seine Tochter ihn mehrmals abends aufgesucht hatte. Unter Tränen berichtete sie ihm jedes Mal, wie verächtlich und brutal ihr Freund sie behandelt hatte. Er hatte sie immer gedrängt, sich von ihm Freund zu trennen. Stattdessen verzieh sie ihm immer wieder. Als sie ihm schließlich eines Sonntagabends gestand, dass er und sein Freund sie sogar vergewaltigt hatten, brachen auch bei ihm alle Dämme. Schluchzend lagen sich Tochter und Vater in den Armen.

Nachdem sie sich wieder gefasst hatten, versuchte er sie zu überreden, zur Polizei zu gehen, aber sie lehnte das energisch ab. Daher schwor er sich, dass er alles Notwendige unternehmen würde, um seine Tochter vor diesem Menschen zu schützen. Und mit alles meinte er, dass er auch zum Äußersten bereit war.

In Gedanken ging er nochmals die Worte, die Sätze durch, die er sagen wollte. Sein Tonfall sollte eindringlich und wütend sein. Nein, um seinen Ton musste er sich keine Gedanken machen. Er war wütend und er würde eindringlich sein, sogar bestimmend, kompromisslos und wenn es sein musste, auch skrupellos. Ohne seinem Gegenüber die Möglichkeit einer Ausrede zu lassen, würde er seine Forderungen vorbringen. Da war er sich vollkommen sicher. Dieser Kerl musste aus dem Leben seiner Tochter und aus dieser Gegend verschwinden. Er würde ihn dazu zwingen. Er hatte alles dabei was er benötigte, wenn es hart auf hart kommen sollte. Er war fest entschlossen. Er hatte sowieso nichts mehr zu verlieren. Aber darum ging es jetzt nicht.

Aus dem Handschuhfach nahm er zwei dünne Gummihandschuhe und zog sie gewissenhaft über. Aus zahllosen Kriminalfilmen hatte er gelernt, dass Handschuhe unerlässlich sind, wenn man keine Fingerabdrücke hinterlassen wollte. Da er nicht wusste, wie der Tag zu Ende gehen würde, war Vorsicht besser als Nachsicht, dachte er.

Dann stieg er aus. Kurz und routiniert prüfte er den Sitz seiner Glock 43X, die im Gürtelholster verdeckt unter seiner Jacke steckte.

Nach den Ereignissen vor einigen Jahren, hatte er sich entschlossen, sich diese Pistole zuzulegen. Und er hatte sich geschworen, sie ohne Wenn und Aber zu benutzen, falls es erforderlich war.


Damals hatte er wieder einmal bis spät in die Nacht in seiner Firma gearbeitet. Es war wie heute zu Beginn des Frühjahrs gewesen. Er ging nach einem langen und anstrengenden Arbeitstag zum Parkplatz vor dem Firmengelände, wo er seinen Wagen abgestellt hatte.

Als er die Fahrertür öffnen wollte, standen plötzlich wie aus dem Nichts drei junge Männer um ihn. Sie trugen alle schwarze T-Shirts und Pudelmützen, die sie über das Gesicht gezogen hatten. Für die Augen waren zwei schmale Schlitze vorhanden. Ohne Vorwarnung prügelten und traten sie wie auf Kommando gleichzeitig wahllos auf ihn ein. Er war nur noch in der Lage, sich seine Arme schützend vor das Gesicht zu halten. Bevor er die Besinnung verlor, sah er, dass sich am Handgelenk eines der Schläger ein Tattoo befand. Er erkannte ein Herz mit der Inschrift Hilde.

Dann wurde es schwarz vor seinen Augen.

Später erfuhr er von der Polizei, dass die Täter ihm den Firmenschlüssel entwendeten und in die Firma eindrangen. Dort brachen sie Schreibtische und Schränke auf, stahlen einige Notebooks und eine geringe Menge Bargeld und verschwanden unerkannt. Ihn hatten sie bewusstlos neben seinem Auto liegen gelassen.

Erst nach Stunden fand ihn ein junges Ehepaar, das zu Fuß von einer Party am Parkplatz vorbeikam. Der Mann rief sofort den Rettungswagen. Seine Verletzungen waren gegenüber dem materiellen Schaden der Firma wesentlich schwerwiegender. Ein vierzehntägiger Klinikaufenthalt war erforderlich, um die Wunden seines Körpers zu heilen. Der psychische Schaden dauerte hingegen wesentlich länger.

Die Ohnmacht, hilflos und ohne jegliche Chance gewesen zu sein, nagte an ihm. Er konnte keine Personenbeschreibung abgeben und Zeugen gab es nicht. Die Polizei hatte daher keinerlei Chance, die Täter zu fassen. Auch sein Hinweis auf das Tattoo war nicht wirklich ein Hinweis, sondern entlockte dem ermittelnden Kommissar lediglich ein mitleidiges Lächeln. Doch in seinem Kopf war es für immer abgespeichert. Das sollte ihm nicht noch einmal passieren, schwor er sich. Daher legte er sich eine Waffe zu. Natürlich legal mit Waffenschein, Führungszeugnis, extra Prüfung als Beweis seiner Sachkundigkeit und Nachweis als gefährdete Person.


Heute war er wieder einmal froh und stolz auf sich, dass er diesen Schritt damals getan hatte. Jetzt durfte er ohne Gewissensbisse die Pistole bei sich tragen.

Die Erinnerung kam in ihm hoch, wie die Tritte und Schläge seinen Körper malträtierten. Dann kam ihm wieder seine Tochter in den Sinn. Wie sie ihm unter Schluchzen erzählte, was sie mit ihr gemacht hatten. Er war wild entschlossen. Wenn es sein musste, würde er die Waffe heute auch benutzen, da würde er skrupellos sein.

Er schaute sich um. Die Straße wirkte total friedlich. Keine Menschenseele war zu sehen. Lediglich aus der ersten Etage des gegenüberliegenden Hauses drang aus einem gekippten Fenster Musik an sein Ohr. Shallow von Lady Gaga & Bradley Cooper registrierte er. Die Musik schwebte wie ein Virus über die Straße und schien nicht zu der friedlichen Stimmung zu passen. Wie kann ich mich jetzt mit dieser Musik befassen?, dachte er und konzentrierte sich wieder auf den Grund seines Daseins.

Bisher hatte er den Freund seiner Tochter nicht kennengelernt. Er kannte nur seinen Namen, aus ihren Erzählungen. Seine Anschrift und Telefonnummer hatte sie ihm einmal auf einen Zettel aufgeschrieben, falls er sie erreichen musste, während sie bei ihm war. Seine Tochter hatte ihre eigene Wohnung und lebte ihr eigenes Leben. In der ersten Zeit, wenn er sie traf, hatte sie noch euphorisch von ihrem Freund erzählt. Später immer weniger. Im Nachhinein erinnerte er sich, war sie meistens seinen Fragen ausgewichen. Jetzt war er gespannt, welchen Menschen er antreffen würde.

Vier Mietparteien wohnten im Haus. Er drückte die dritte Klingel von unten – Mike Brünner. Es dauerte vielleicht fünfzehn Sekunden und ein Summen des Türöffners zeigte ihm an, dass er eintreten konnte. Keine Frage über die Gegensprechanlage, wer denn klingele. Wurde er womöglich erwartet? Unmöglich, entschied er und trat in den Hausflur. Die gesuchte Wohnung befand sich auf der linken Seite auf der ersten Etage. Er stieg langsam die Treppe hoch, denn er wollte nicht außer Atem seinem Gegenüber entgegentreten. Ein kurzes Klingeln an der Wohnungstür, die sich binnen drei Sekunden öffnete.

Vor ihm stand ein junger Mann. Er trug eine Trainingshose und die dazu passende Jacke. Seine schwarzen Haare wirkten strubbelig und ungewaschen und passten zu dem Drei- oder Viertagebart. Trotzdem konnte Jochen Lippmann nicht sagen, dass er unsympathisch wirkte. Mike Brünner sah ihn mit Augen an, die Überraschung und Neugierde gleichzeitig ausdrückten.

„Ja?“, kam es kurz fragend über seine Lippen.

Mit einer Hand hielt er die Tür fest, mit der anderen stützte er sich am Türrahmen ab und demonstrierte damit, dass er nicht gewillt war, dem unangemeldeten Besucher Einlass zu gewähren.

„Mein Name ist Jochen Lippmann. Der Name sagt Ihnen bestimmt etwas. Ich hätte Sie gerne gesprochen“, dabei kam Jochen Lippmann ihm so nahe, dass er eine leichte Alkoholfahne riechen konnte.

„Ah, jetzt schickt die Schlampe sogar ihren Vater als Bittsteller, oder wie soll ich Ihren Besuch auffassen?“

„Wollen wir das nicht drinnen besprechen?“, fragte Jochen Lippmann anstelle einer Antwort.

„Ja, kommen Sie nur herein. Ich werde Ihnen schon sagen, was ich von Ihrer Tochter halte.“

Damit drehte er sich um und ging in die Wohnung. Jochen Lippmann folgte ihm ins Wohnzimmer und schaute sich um. Schlichtes Mobiliar, ein Sofa, ein Fernsehsessel mit abgewetztem Leder auf den Armlehnen, ein Holztisch und ein Schrank in Ikea-Optik. Kein Teppich, nur PVC-Boden, keine Gardinen, lediglich zwei bunte Schals rechts und links des Fensters. Von der Zimmerdecke tauchte das kalte Licht mehrerer LED-Strahler das Zimmer in eine ungemütliche Helligkeit. Zusammengefasst, keine Wohnung, die Behaglichkeit ausstrahlte.

Mike Brünner ließ sich provozierend locker auf das Sofa fallen, entnahm der Packung, die auf dem Tisch lag, eine Zigarette und zündete sie sich genussvoll an. Halb liegend, einen Arm auf die Lehne gestützt, die Beine übereinandergeschlagen, blaffte er Jochen Lippmann an:

„Und, was willst du? Hat dir deine Tochter erzählt, dass ich sie mal richtig rangenommen habe? Du verstehst, was ich meine oder muss ich deutlicher werden?“, fragte er, in den Du-Modus verfallend.

Jochen Lippmann kochte vor Wut. Musste er sich diesen Ton gefallen lassen und dass dieses menschliche Individuum seine Tochter als Schlampe betitelte? Und von wegen Bittsteller, du wirst mich noch um Gnade bitten, wenn ich mit dir fertig bin, dachte er grimmig.

Da er noch im Zimmer stand, war er mit zwei Schritten vor Mike Brünner, bückte sich und packte ihn mit beiden Händen am Hemdkragen, um ihn zu sich hochzuziehen. Dabei brüllte er voller Hass und Wut:

„Was bilden Sie sich ein, so mit mir zu reden? Ich sage Ihnen nur eins, wenn Sie meine Tochter nicht …“

Weiter kam er nicht. Mike Brünner winkelte sein Bein an und stieß es mit voller Kraft gegen seinen Leib. Jochen Lippmann torkelte rückwärts, verlor die Balance und fiel hin. Sein Hinterkopf knallte auf den harten Fußboden. Sterne tanzten vor seinen Augen und er war kurz davor, ohnmächtig zu werden.

Verdammt, das darf doch wohl nicht wahr sein. Der will mich fertigmachen. Ich muss schnellstens wieder hoch, schossen ihm die Gedanken binnen zwei Sekunden durch den schmerzenden Kopf.

Mühsam kam er auf die Knie und versuchte sich aufzurichten. Ein Tritt traf hart seine Magengegend. Nach Luft ringend brach er zusammen und landete auf dem Bauch, wobei seine rechte Hand unter seinem Oberkörper eingeklemmt wurde. Plötzlich fühlte er den kalten Stahl seiner Pistole. Diese Berührung ließ ihn wieder Mut fassen und ungeahnte Kräfte mobilisieren.

Vorsichtig zog er die Pistole aus dem Halfter und drehte sich auf den Rücken. Mike Brünner stand einen Schritt neben ihm und inhalierte geruhsam den Rauch der Zigarette. Für ihn war klar, dass von diesem unliebsamen Besucher keine Gefahr mehr ausging.

„Bei der kleinsten Bewegung drücke ich eiskalt ab. Und glauben Sie mir, dass ist kein Spaß“, sagte Jochen Lippmann leise mit spröder Stimme.

Langsam erhob er sich unter Stöhnen, den Lauf der Pistole immer auf Mike Brünner gerichtet.

5

„Du siehst mürrisch aus“, sagte Susanne Ohlrogge, als sie aus dem Bad in die Küche kam.

„Mürrisch?“, fragte Frank Eisenstein.

Er war wie immer als Erster aufgestanden und bereitete das Frühstück für sich und seine Lebenspartnerin.

„Nein, stimmt nicht. Nicht direkt mürrisch. Du wirkst wie eine Katze, die einen Spatz verspeist hat und der das Federvieh jetzt schwer im Magen liegt.“

„Mein Gott, welch ein Vergleich am frühen Morgen.“

Es war Dienstagmorgen und Frank hatte bereits über eine Stunde wach im Bett gelegen, ehe er aufgestanden war. Seitdem er bei Ronni im Kommissariat gewesen war, ging ihm Jochen Lippmann nicht mehr aus dem Kopf. Sein Kanu sei gekentert und er im Rhein ertrunken. Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Nicht Jochen Lippmann. So wie er ihn in Erinnerung hatte, war er ein durch und durch sportlicher Mann, ein guter Schwimmer und ein exzellenter Kanufahrer. Zugegeben, es war schon einige Jahre her, dass er ihn das letzte Mal gesehen hatte, aber er glaubte, dass sich grundsätzlich nichts daran geändert hatte. Und dann ist seine Leiche bisher nicht gefunden worden. Sehr seltsam, ging es ihm ständig durch den Kopf.

Schweigend saßen Frank und Susanne beim Frühstück. Er mit den Gedanken weit weg und sie sah ihn immer wieder an. Sie wartete darauf, dass er endlich das Schweigen brechen und ihr seine Überlegungen mitteilen würde.

„Nun sag‘ schon, was los ist. Worüber grübelst du seit gestern?“, begann Susanne dann doch und beendete das Schweigen.

Es schien, als sei Frank erleichtert, dass sie endlich fragte. Wahrscheinlich hätte er nie als Erster das Gespräch begonnen. So sprudelte er los und berichtete Susanne vom Unfall von Jochen Lippmann, und dass er die Familie von früher her kannte. Auch mit seiner Meinung über den angeblichen Unfall blieb er nicht hinter dem Berg.

„Was hältst du davon?“, fragte er, als er seine Ausführungen beendet hatte.

„Was ich davon halte? Ich weiß nicht recht. Vielleicht verrennst du dich mit deinen Zweifeln.“

„Mag sein. Aber findest du nicht auch …“, Frank hielt kurz inne.

„Was finde ich?“

„… dass zu viele Faktoren gegen einen normalen Unfall sprechen?“

„Hm“, machte Susanne.

„Wenn du hm sagst, bist du meistens schon zu neunzig Prozent meiner Meinung.“

„Kann sein, kann auch nicht sein. Ich weiß es nicht“, sagte Susanne zweifelnd.

„Ich habe mit Ronni darüber gesprochen. Er will sich die Akte des Unfalls besorgen und sich über Jochens Firma informieren. Er wird mir Bescheid geben, was er erfahren hat“, sagte Frank.

„Aber der alte Kommissar wittert Unheil und will nicht abwarten, sondern bereits auf eigene Faust ermitteln?“, fragte Susanne, nicht ohne eine Prise Sarkasmus in der Stimme.

„Nein, Ronni will sich darum kümmern. Ich werde vielleicht einmal mit Margret, der Ehefrau von Jochen Lippmann, sprechen. Ansonsten halte ich mich da heraus.“

„Aha. Du hältst dich da raus. Bist du davon überzeugt?“, lächelte Susanne.

„Na ja, mal sehen“, lächelte auch Frank.

Susanne wusste, dass damit das Thema für Frank vorerst erledigt war und es für sie sinnlos war, weiter bei ihm nachzubohren.

Sie beendete das Frühstück, denn es war für sie Zeit, zur Arbeit zu fahren.

„Bei uns in der Rechtsmedizin ist zurzeit nicht viel los. Ich werde früh am Nachmittag zu Hause sein. Wenn das Wetter so bleibt, können wir vielleicht noch eine Stunde die Sonne und anschließend einen Kaffee in der Rheinaue genießen. Was hältst du davon?“

„Gerne. Bis dahin bin auch ich wieder zurück.“

„Was hast du vor?“, fragte Susanne, die neugierig geworden war, obschon sie ahnte, was ihr Lebenspartner vorhatte.

„Ich werde Margret Lippmann einen Besuch abstatten. Soviel ich weiß, wohnt sie in Troisdorf-Eschmar. Zumindest hatten sie früher dort einen Bungalow.“

„Hatte ich mir doch gedacht, dass du sofort etwas unternehmen wirst. Ich wünsche dir viel Erfolg“, sagte Susanne, schlüpfte in ihre Jacke, gab ihm einen Kuss auf den Mund und machte sich auf den Weg zu ihrer Arbeitsstelle.


Frank Eisenstein war auf dem Weg zur Gartenstadt Eschmar, einem, im Stil der frühen 70er Jahre gebauten, Stadtviertel der Stadt Troisdorf. Der Baustil bestand aus Flachdachbungalows. Ein wichtiger Trendsetter war damals für viele Bauherren in der Region der Kanzlerbungalow auf dem Gelände des Bundeskanzleramtes in Bonn. In Troisdorf wurde mit der Gartenstadt ein ganzes Viertel in dieser Bauform errichtet.

Er hatte es vermieden, seinen Besuch telefonisch bei Margret Lippmann anzukündigen. Er hätte dann am Telefon sagen müssen, weswegen er käme, und er wollte den Überraschungseffekt ausnutzen und sie unvoreingenommen antreffen.

Auf dem Weg nach Troisdorf telefonierte er mit seinem früheren Kollegen Ronni Kern, der die genaue Anschrift der Familie Lippmann in Erfahrung gebracht hatte und sie ihm mitteilte.

„Und stell‘ dich nicht mit Kriminalhauptkommissar vor“, warnte ihn Ronni.

„Du bist nicht mehr im Dienst. Du bist a.D.“

„Ja, natürlich. Du immer mit deinen Spitzfindigkeiten. Manchmal kommt es halt vor, dass man die letzte Silbe a.D. bei der Vorstellung verschluckt. Grundlegend richtig gesagt habe ich es dann trotzdem“, schmunzelte er und legte auf.

Als seine Tochter noch zur Schule ging, hatte er sie bei den Lippmanns öfters abgeholt. Dennoch hatte er keinerlei Erinnerung mehr, wo sich das Haus befand und wie es aussah. Dafür war zu viel Zeit vergangen. Auch wenn ein Flachdachbungalow neben dem anderen stand und sie sich wie ein Ei dem anderen glichen, hatte sich anscheinend viel im Umfeld der Häuser verändert.

Vor der Haustür schaute er sich von oben bis unten prüfend an und zog noch einmal sein Sakko gerade. Er würde mit Sicherheit später abstreiten, nervös gewesen zu sein. Dann klingelte er.

„Guten Tag. Mein Name ist Eisenstein, Frank Eisenstein, Kriminalhauptkommissar aus Bonn“, stellte er sich vor.

Der Blick der Frau in der Türöffnung musterte ihn von oben bis unten und wieder zurück. Ihr Gesicht war blass und von vielen Falten gezeichnet. Die blonden Haare waren mit grauen Strähnen durchzogen, ob es echte Strähnen oder gefärbte waren, vermochte er nicht zu beurteilen. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er sie auf über siebzig Jahre geschätzt. Sie trug alte, abgewetzte Jeans und einen grau-schwarz gemusterten Pullover, der unvorteilhaft locker um ihren Körper hing.

„Frank Eisenstein, ich glaube es nicht“, sagte die Frau und schaute den Kommissar an, als wäre er eine Erscheinung aus einer anderen Welt.

„Hallo Margret. Lange nicht gesehen.“

„Weiß Gott, das stimmt. Du scheinst aber noch gut in Form zu sein“, sagte sie und taxierte ihn nochmals von oben bis unten.

Er sagte nichts dergleichen. Er hätte lügen müssen und das wollte er nicht.

„Darf ich reinkommen?“, fragte er stattdessen.

Sie zögerte einen Moment. Um ihren Mund zuckte es, aber es kam kein Wort heraus. Frank Eisenstein räusperte sich etwas verlegen.

„Es geht nur um ein kurzes Gespräch bezüglich des Unfalls deines Mannes. Du musst dir keine Sorgen machen. Ich möchte dir nur ein paar Fragen stellen“, erklärte er ihr.

Sie zuckte leicht zusammen, als ginge ein Ruck durch sie, der sie aufwachen ließ. Ihr Körper straffte sich.

„Ja, natürlich, entschuldige. Komm‘ rein.“

Sie ging ihm voraus durch einen kurzen Flur. Direkt neben der Haustür führte eine Treppe in den Keller. Bis auf die Wohnzimmertür am Ende des Flurs, waren alle Türen zu den anderen Zimmern geschlossen. Vor dem Wohnzimmer führte der Flur nach links weiter. Auch hier waren die beiden Türen am Ende geschlossen.

Als Eisenstein das Wohnzimmer betrat, erschrak er. Das hatte er nicht erwartet. War das der Geschmack von Firmenchef Jochen Lippmann? Margret traute er schon eher diese Stilrichtung zu, aber Jochen? Er konnte sich nicht erinnern, dass die Einrichtung im Wohnzimmer bereits damals so gewesen war, als er seine Tochter in jungen Jahren bei den Lippmanns abgeholt hatte.

Wohnzimmerschrank, zwei Sideboards oder Kommoden, ein Tisch. Alles in Gelsenkirchener Barock. Edelholzfurnierte, hochglänzende Möbelstücke in schwungvoller Üppigkeit mit einer Vielzahl von Formen und Verzierungen, so, wie sie in den 1950er Jahren populär waren. Die Glasteile des Vitrinenschranks waren mit Porzellan und Nippes, wie es auf den ersten Blick aussah, vollgestopft. In zwei Ecken des Zimmers standen je ein Stuhl mit Lehne, wie man sie aus der Chippendale-Zeit der 1960er Jahre kannte.

„Nimm Platz“, sagte Margret und wies auf ein braunes Ledersofa, das Gott sei Dank aktuellerem Datums zu sein schien.

Als er sich setzte, bestätigte sich sein Eindruck, denn der Federkern war fest und gemütlich. Sie nahm in einem Sessel ihm schräg gegenüber Platz.

„Wie geht es dir?“, fragten beide wie aus einem Mund.

Margret und Frank mussten wegen der Gleichzeitigkeit ihrer Frage lachen. Auf jeden Fall schien das die Stimmung zu lockern. Frank übernahm als Erster das Wort.

„Mir geht es verhältnismäßig gut. Ich bin seit einigen Monaten Pensionär, woran ich mich allerdings noch gewöhnen muss. Nach so vielen Jahren mit einem Mal keine Aufgabe mehr zu haben, ist nicht so leicht. Und was machst du so?“

„Ach ja, mir geht es auch verhältnismäßig gut“, begann Margret und lächelte ein wenig, da sie auch das Wort verhältnismäßig benutzte.

„Hin und wieder kommt Sarah bei mir vorbei. Wir haben nicht das beste Verhältnis. Du hast sie ja lange nicht mehr gesehen. Sie ist inzwischen eine richtige Frau geworden“, sagte sie und Frank bemerkte, wie stolz sie auf ihre Tochter war, auch wenn sie, wie sie sagte, nicht das beste Verhältnis miteinander hatten.

„Das ist bestimmt schlimm, wenn der Ehemann verunglückt, wahrscheinlich tödlich, und man kann noch nicht einmal von ihm Abschied nehmen, da der Leichnam nicht gefunden wird. Vielleicht hast du ja doch in Sarah eine Stütze, auch wenn ihr euch nicht oft seht.“

Das war nicht besonders taktvoll von Eisenstein, Margret so einfach mit der Behauptung zu konfrontieren, dass Jochen tot sei. Aber so war er nun mal, manchmal unverblümt zu sagen, was er dachte.

An Margrets Gesichtsausdruck konnte er erkennen, dass er einen wunden Punkt angesprochen hatte. Sie schaute ihn nicht an, als sie antwortete.

„Hm, na ja …“, begann sie und knetete dabei ihre Hände.

„Wir leben seit Jahren nicht mehr zusammen. Wir haben uns getrennt. Aber du hast Recht. Es ist schon eine Belastung, nicht zu wissen, was wirklich geschehen ist, auch wenn man nicht mehr zusammenlebt. Sarah scheint das nicht sonderlich zu berühren. Wie junge Frauen heute halt so sind. Ich bin mehr oder weniger auf mich allein gestellt.“

Es entstand eine peinliche Pause.

„Ihr seid geschieden. Das tut mir leid“, sagte Frank, um das Schweigen zu brechen.

„Das muss dir nicht leidtun. Nein, geschieden sind wir nicht. Ich wollte mich bisher nicht scheiden lassen. Es ist halt so, dass jeder von uns sein Leben lebt. Er hat seine Wohnung und Firma in Bonn und ich lebe hier.“

Wieder entstand eine Pause. Frank überlegte noch, wie er das Gespräch wieder in Gang bringen konnte, als sie ihm zuvorkam.

„Ich konnte einfach nicht mehr. Immer wieder neue Freundinnen, die wesentlich jünger waren als er. Ich kam mir dabei als alte, nutzlose Frau vor. Er hatte kein Gewissen – hatte es noch nie. Er fühlte einfach nicht, was er mir antat. Ich habe ihn vor die Wahl gestellt, entweder er zieht aus, oder ich verkaufe meine Anteile an der Firma“, sagte sie und stand auf.

Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Sie musste sich mit etwas anderem ablenken.

„Entschuldige. Möchtest du etwas trinken? Eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wasser? Ich habe auch ein Bier da, wenn du möchtest?“

„Danke. Ein Glas Wasser reicht mir.“

Sie holte eine Flasche und zwei Gläser aus der Küche und schenkte ein.

„Dann hat er also immer noch seine Firma? Und du hast Anteile daran? Das wusste ich nicht“, nahm Frank das Thema wieder auf, nachdem sie sich gesetzt hatte.

„Ja, die habe ich von Anfang an gehabt. Mich interessiert die Firma aber überhaupt nicht. Demzufolge konnte er immer machen, was er wollte. Was glaubst du, wenn ich die Anteile verkaufen würde? Mit einem neuen Teilhaber könnte er nicht machen, was er mit mir macht. Und das weiß er. Daher wollte auch er bisher nicht, dass wir uns scheiden lassen. Es sollte alles so bleiben, wie es war. Ich als stille Teilhaberin und er als der Macher.“

Der Ton in ihrer Stimme hatte an Schärfe zugenommen und zeigte ihre Verärgerung.

„Du musst aber auch an dich denken. Du kannst doch nicht dein ganzes Leben von deinem Mann abhängig sein. Da gibt …“

Margret schnitt ihm das Wort ab.

„Ach Frank, du hast doch keine Ahnung. Ich bin auf ihn und sein Geld angewiesen. Ich selbst habe nichts. Ich werde noch nicht einmal eine Rente bekommen, da ich nie gearbeitet habe, weil er das nicht wollte. Jochen hat immer für alles gesorgt. Ich bin auf ihn angewiesen.“

„Hm“, machte Frank und kratzte sich gewohnheitsmäßig den Kopf.

Was sollte er dazu noch sagen? Er fühlte sich in der Situation unwohl. Er musste sich daran erinnern, weswegen er Margret eigentlich aufgesucht hatte.

„Jetzt ist aber eine völlig andere Situation eingetreten. Wahrscheinlich ist er im Rhein ertrunken. Wie geht es mit der Firma weiter?“, kam Frank auf den eigentlichen Punkt seines Besuches.

„Das weiß ich auch nicht. Vermutlich werde ich jetzt doch verkaufen. Im vorigen Jahr hat er einen Geschäftsführer mit weitreichenden Vollmachten eingestellt. Jochen meinte seinerzeit, dass er nicht mehr so viel arbeiten wolle“, erläuterte sie.

„Ja, aber geht das so einfach? Ich habe von solchen Dingen keine Ahnung“, fragte Frank und kratzte sich dabei erneut seine kurzen Haare.

„Ich habe auch keine Ahnung. Aber anscheinend geht das. Jochen wollte nur noch leben, gut leben. Jetzt, da Jochen nicht mehr da ist, kommt dieser Geschäftsführer, Sven Jürgens heißt er, hin und wieder bei mir vorbei und ich muss ihm dann einige Unterlagen unterschreiben.“

„Hm“, machte Frank. „Dann hast du ja einiges um die Ohren.“

Бесплатный фрагмент закончился.

399
515,19 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
202 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783961361212
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Эксклюзив
Черновик
4,7
187
Хит продаж
Черновик
4,9
507