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„Wenn ich diesen Ort so sehe, kann ich nicht versprechen, ob wir ein Lokal finden, welches um diese Zeit noch geöffnet hat“, gab er zu bedenken, als sie die ersten Häuser vom Ortsteil Menden auf der anderen Flussseite erreichten.

Sie gab keine Antwort, sodass er davon ausging, dass auch sie nicht ortskundig war. Nach vielleicht einhundert Metern sah er die Leuchtreklame eines Restaurants. Sie gingen hinein.

„Wir schließen in einer guten halben Stunde“, sagte der Wirt, als sie das Lokal betraten.

Er stand hinter der Theke und musterte die junge Frau mit einem kritischen Blick. Wahrscheinlich hatte er so viel Menschenkenntnis, dass er spürte, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war. Vielleicht waren es auch nur die zerzausten Haare und das noch immer blasse Gesicht.

„Ist in Ordnung. Wir wollen uns nur kurz aufwärmen und einen Wein trinken“, sagte Ronni und zog die Frau am Arm mit hinein.

Das Lokal war so gut wie leer und sofort umgab sie eine angenehme Wärme. Sie setzten sich in eine Ecke und Ronni bestellte zwei Rotwein.

„Ich hoffe, Sie trinken einen Rotwein?“, fragte er.

Sie nickte nur mit dem Kopf, schaute ihn nicht an, sondern starrte auf die Tischplatte vor sich.

Irgendwie muss ich es doch schaffen, ein Gespräch mit ihr zu führen, dachte er. Doch das schien nicht so einfach. Nachdem der Wirt die beiden Gläser vor ihnen auf den Tisch gestellt hatte, hob er sein Glas, schaute sie an und sagte: „Ich heiße übrigens Ronni. Ich finde, nach dem, was wir in der letzten Stunde gemeinsam erlebt haben, könnten wir du zueinander sagen. Findest du das nicht auch?“

„Mein Name ist Sarah“, sagte sie leise und hob vorsichtig das Weinglas, trank einen kleinen Schluck, schaute ihn aber nicht an.

So vorsichtig, wie sie das Glas angehoben hatte, stellte sie es auch wieder auf den Tisch. Das wird ja eine lustige Unterhaltung, dachte er. Sie saßen eine Weile schweigend zusammen. Vielleicht eine halbe Minute, vielleicht auch eine volle Minute. Jeder schaute vor sich auf sein Glas Wein.

„Wann haben Sie … wann hast du dich dazu entschlossen?“, fragte er.

„Wozu?“

„Von der Brücke zu springen. War das ein spontaner Entschluss oder hast du das bereits länger geplant?“

„Das war ganz spontan. Ich wollte einfach nicht mehr. Ich war fertig“, sagte sie und Ronni bemerkte, wie sie mit ihren Tränen kämpfte.

Sie klang erschöpft. Ronni hatte den Eindruck, dass sie etwas Schlimmes erlebt hatte. Er wollte sie dazu bringen zu reden. In vielen Fällen hilft es, wenn man sein Erlebtes jemandem erzählen kann. Er wollte dieser Jemand sein und zuhören.

„Was ist geschehen? Möchtest du darüber reden?“, fragte er und legte seine Hand zu ihrer Beruhigung auf ihre. Zum ersten Mal schaute sie ihn an und er blickte in wunderschöne, braune, aber verängstigte Augen. Ihre Augenlider zuckten. Ein Zeichen für Stress und Anspannung. Dann schaute sie wieder auf ihr Weinglas, atmete hörbar ein und begann:

„Ich bin von diesem Scheißkerl weggerannt. Immer diese Erniedrigungen, diese Gewalt. Ich habe ihn angebettelt, angeschrien er soll mich in Ruhe lassen – ich will nicht, habe ich geschrien – immer wieder. Dann hat er mich vergewaltigt und ist danach einfach ins Wohnzimmer gegangen und hat den Fernseher eingeschaltet, als wäre nichts gewesen.“

Sie stockte. Sie hatte sich beinahe in Rage geredet. Ronni konnte fast sehen, wie ihr Herz hämmerte. Er verstärkte den Druck auf ihre Hand, die er immer noch umfasste.

„Dann klingelte es und sein Freund kam“, fuhr sie fort.

Sie hielt erneut inne. Ronni ahnte, was dann geschah.

„Du musst nicht weitersprechen. Ich kann mir vorstellen, was dann geschah“, sagte er mitfühlend.

„Nein, das kannst du dir nicht vorstellen. Du hast keine Ahnung.“

Ihre Stimme war laut, ihr Körper straffte sich und sie schaute Ronni fast wütend an. Dann sank sie wieder in sich zusammen und schaute wie vorher ihr Glas an. Ronni wartete.

„Danach haben sie mich ausgelacht und Witze über mich gemacht. Ich habe mich schnell angezogen und bin aus der Wohnung gelaufen, zu meinem Wagen. Ich bin planlos umhergefahren, bis ich in Menden an der Brücke landete. Dort bin ich ausgestiegen.“

Sie brach ab. Sie wusste, dass Ronni den Rest kannte.

Nach diesem Gefühlsausbruch schaute sie Ronni wieder an. Ihre Augen waren voller Tränen, die unbeachtet ihre Wangen hinunterliefen.

Erst jetzt bemerkte Ronni die roten Striemen am Hals und auf den Händen. Sie hatte die Jacke nicht ausgezogen. Ronni wollte sich nicht vorstellen, welche Hinweise auf Gewaltexzesse sie noch unter der Jacke auf ihrem Körper verbarg.

„Wie kann er mir so etwas antun? Wir haben uns doch einmal geliebt“, stellte sie jetzt die Frage, die sie bereits vorher sich selbst gestellt und keine Antwort gefunden hatte.

„Ich verstehe,“ sagte Ronni, obschon er nicht verstand.

Er verstand nicht, wieso eine junge Frau ihr Leben auf diese Art wegwerfen wollte. Sei der Grund auch noch so schwerwiegend, schließlich hatte man nur ein Leben. Er war der Überzeugung, dass es immer einen Ausweg gab.

„Hat er dich vorher bereits öfter geschlagen?“

„Ja, wenn er getrunken hatte. Danach hatte er sich immer entschuldigt und ich habe ihm jedes Mal wieder verziehen.“

„Wirst du ihn anzeigen?“, fragte Ronni vorsichtig.

„Nein“, antwortete sie nach einigem Zögern und fügte resigniert hinzu: „Nein, ich denke nicht. Das bringt doch nichts.“

„Ich bin der Meinung, so solltest du nicht denken. Ich finde, eine Person, die dir so etwas antut, sollte ihre Bestrafung erhalten. Ich könnte dir dabei helfen. Ich kenne Polizeibeamtinnen, die mit Frauen, denen man so eine Straftat angetan hat – und eine Straftat ist es nun einmal – einfühlsam umgehen.“

„Nein. Ich möchte das nicht“, sagte sie bestimmt und Ronni sah ein, dass er diese Entscheidung akzeptieren musste. Zumindest für den Augenblick.

„Du hast so etwas Schlimmes erlebt und ich finde, du solltest mit einem Arzt, vielleicht auch Psychologen, darüber sprechen. Oft ist es besser, wenn man Hilfe bekommt und nicht allein damit fertigwerden muss. Ich könnte dir bei der Suche eines Arztes behilflich sein.“

„Nein, danke. Das ist nicht notwendig. Ich habe meinen Papa. Wir verstehen uns sehr gut und er wird mir gerne helfen“, sagte sie entschieden und versuchte ein Lächeln, das ihr nicht überzeugend gelang.

Auch diese Entscheidung musste Ronni akzeptieren, selbst wenn er grundsätzlich anderer Meinung war.

„Wo willst du jetzt hin?“, fragte er besorgt.

Ihm war nicht ganz klar, ob der „Scheißkerl“, wie sie ihn nannte, ihr Mann oder ihr Freund war. Fall es ihr Mann war, konnte sie unmöglich nach Hause zurück.

„Nach Hause. Ich habe hier in Menden eine kleine Wohnung. Meinen Wagen habe ich unterhalb der Autobahnbrücke an der Sieg abgestellt. Von dort bin ich auf die Siegbrücke gegangen.“

„Und wo wohnt dein Freund? Ich vermute, dass er nicht dein Mann ist.“

„In Sankt Augustin. Zum Glück ist er nicht mein Mann. Und Freund? Das ist vorbei. Jetzt endgültig.“

Sie sagte das sehr entschlossen und bestimmt.

„Und wegen so einem Typ wolltest du von der Brücke springen? Sei froh, dass du es nicht getan hast.“

„Ja, jetzt bin ich das auch. Als ich auf dem Geländer stand, kamen mir schon Zweifel. Sonst wäre ich längst gesprungen, bevor du kamst. Ich war mir nicht mehr sicher und hatte keinen Mut.“

„Keinen Mut zu springen?“

„Das auch. Ich meine aber, keinen Mut nicht zu springen. Plötzlich fühlte ich so eine Sinnlosigkeit und ich habe einfach losgelassen. Zum Glück warst du da und ich danke dir dafür.“

Sie schaute ihn an und er war sicher, dass sie das ehrlich meinte.

„Keine Ursache. Versprichst du mir, künftig nicht noch einmal solch eine Idee zu haben?“

„Ich glaube, vorerst werde ich so etwas Idiotisches nicht mehr machen. Danke für den Wein. Ich will jetzt nach Hause. Ich bin todmüde“, sagte sie und lächelte.

Vielleicht lächelte sie wegen dem unbeabsichtigten Wortspiel todmüde.

Sie tranken jeder noch einen Schluck Wein. Dann stand sie auf. Auch er stand auf und umarmte sie noch einmal und sie ließ ihn allein zurück. Mit jetzt wesentlich schnellerem Schritt als auf dem Hinweg, verließ sie das Lokal.

Konnte er die Frau so einfach gehen lassen? Er überlegte, ob er ihr hinterherlaufen sollte. Aus dem Gespräch hatte er aber den Eindruck gewonnen, dass die junge Frau nicht nochmal diese selbstmörderische Aktion vorhaben würde. Sie hatte es ihm zumindest überzeugend versprochen und er glaubte ihr.

Er setzte sich wieder an den Tisch und war erleichtert, dass die Situation so gut verlaufen war. Gleichzeitig fühlte er sich aber auch ein wenig einsam, nachdem sie ihn verlassen hatte.

Wahrscheinlich würde sie genauso einsam zu Hause im Bett liegen und um Schlaf ringen, der sich wahrscheinlich nicht einstellen würde. Irgendwie hatte er ein schlechtes Gewissen.

Er trank den letzten Rest seines Weins und bat den Wirt, ihm ein Taxi zu bestellen.

Nachdem der Abend so trist begonnen und so aufregend geendet hatte, war es doch noch zu einem guten Abschluss gekommen, redete er sich ein.

Er nahm sich vor, sie nach ein paar Tagen zu fragen, wie es ihr geht. Erst jetzt registrierte er, dass er weder Nachname noch Anschrift oder Telefonnummer von ihr hatte. Auch sie hatte keine Angaben von ihm. Wie konnte er nur so dämlich sein? Er wusste nur, dass sie Sarah hieß und das war recht wenig.

Resigniert zuckte er mit den Schultern. Er konnte es nicht mehr ändern.

Außerdem war er nur noch müde und wollte ins Bett.

2

Ronni und Susie saßen heute zeitiger am Frühstückstisch als an anderen Tagen. Er musste ausnahmsweise an diesem Montag mit Bus und Bahn zum Polizeipräsidium fahren.

Susies Auto hatten sie gestern am späten Nachmittag in die Werkstatt gebracht. Die Inspektion stand an und die Reparatur eines inzwischen fast fünf Monate alten Blechschadens sollte endlich erledigt werden. Während des Aufenthalts in der Ostseeklinik Kühlungsborn im April war sie beim Rückwärtseinparken ungebremst gegen einen Laternenpfahl gefahren. Als sie es Ronni erzählte, hatte dieser glücklicherweise den kleinen Unfall nicht zum Thema „Frauen und Parken“ gemacht.

Für die zwei, drei Tage, an denen ihr Wagen in der Werkstatt stand, hatte er ihr seinen Wagen versprochen. Nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte, hatte sie eine kleine Damenboutique in Nümbrecht eröffnet. Die Tätigkeit macht ihr großen Spaß und inzwischen konnte sie auch einen ansprechenden Erfolg verbuchen. Die Fahrt mit Bus und Bahn nach Nümbrecht würde aber nahezu zwei Stunden betragen und das wollte er ihr nicht zumuten.

„Ich bin dann mal weg. Bis später. Wenn nichts Unvorhergesehenes geschieht, bin ich früh wieder hier“, rief Ronni und wollte sich auf den Weg machen.

Susie räumte das Geschirr vom Frühstück in die Spülmaschine. Da sie im Gegensatz zu Ronni mit dem Wagen fahren konnte, hatte sie noch viel Zeit.

Ihr Freund war auf dem Weg zur Wohnungstür. Er hatte sich mit einem Schirm bewaffnet, denn das Wetter schien nicht einladend zu sein. So hatte er es zumindest durch einen Blick aus dem Wohnzimmerfenster empfunden.

Doch bevor er die Hand auf den Türgriff der Wohnungstür legen konnte, hatte Susie ihn im Laufschritt eingeholt. Auch wenn die Trennung nur für acht oder zehn Stunden sein würde, drückte sie ihm zum Abschied einen dicken Kuss auf den Mund.

Seitdem sie aus der Rehamaßnahme zurück war, hatte sich ihr Verhältnis nochmals verbessert, obschon das nach seiner Meinung realistisch kaum möglich war. Aber er empfand das so. Sie war lockerer und liebenswerter geworden. Die Zeit der Scheidung schien sie überwunden zu haben und war kein Thema mehr.

Beim Öffnen der Haustür schlug ihm starker Regen entgegen. Mit Sommer hatte dieses Wetter nichts gemeinsam. Für die einhundert Meter bis zur Bushaltestelle musste er mit geöffnetem Schirm laufen, um nicht völlig durchnässt zu werden.

In Siegburg stieg er in die Straßenbahn um, die ihn bis fast direkt zum Präsidium bringen würde. Die zwei oder drei Minuten Fußweg von der Haltestelle zu seiner Dienststelle würden ihm nichts ausmachen – aber heute bei dem Regen? Abwarten, dachte er und drängte sich mit mehreren Fahrgästen in die Straßenbahn. In einer Vierer-Sitzgruppe war noch ein Platz am Gang frei und er setzte sich zufrieden dorthin.

Bisher hatte die Fahrt besser geklappt, als er es sich vorgestellt hatte, auch wenn er den Regen bei der Vorstellung nicht einkalkuliert hatte.

Es roch muffig, durch die nassen Kleider der Fahrgäste. Er schaute aus dem Fenster, obschon er so gut wie nichts draußen wahrnahm. Die Scheibe war mit Tropfen übersät und zudem beschlagen. Er sah ein, dass sein Unterfangen sinnlos war und wandte sich stattdessen den Fahrgästen zu. Vielleicht gibt es hier jemanden, den ich kenne und der genauso wie ich unter dem öffentlichen Nahverkehr und dem schlechten Wetter leidet, dachte er.

Neben ihm am Fenster saß eine große, korpulente Frau, die eine Frauenzeitung las und mehr Platz beanspruchte, als der Sitzplatz hergab und ihn doch erheblich in seiner Bewegung einengte. Aber was hieß hier Bewegung? Er wollte sich auch nicht bewegen und so lange würde die Fahrt auch nicht dauern. Ihr gegenüber stierte ein älterer Mann, so wie er vorhin, trotz Regentropfen und beschlagener Scheibe aus dem Fenster. Neben ihm, und damit Ronni gegenüber, saß eine junge Frau, die scheinbar in ein Buch vertieft war. Ihre Tasche lag auf ihrem Schoß und das Buch obenauf, sodass er nicht sehen konnte, um was für ein Buch es sich handelte. Wahrscheinlich ein Krimi. Alle Welt liest diese Krimis mit den tollen Kommissaren, die am Ende immer den Täter fassen, dachte er im Hinblick auf seine Tätigkeit ein wenig ärgerlich.

In dem Moment, als er das dachte, hob die Frau ihre Augen und schaute ihn direkt an.

Die Selbstmörderin – nein falsch, dachte er überrascht. Die beinahe Selbstmörderin.

Auch sie schien ihn, ihren damaligen Lebensretter, sofort erkannt zu haben. Sie war jetzt kein Vergleich zu der Frau von damals, vor fünf Monaten. Gebräuntes Gesicht, keine Schminke, wie er schätzte, gelocktes, schwarzes Haar. Insgesamt machte sie den Eindruck einer hübschen und gepflegten, jungen Frau.

„Hallo Sarah, wenn das kein Zufall ist. Du und ich in derselben Bahn und sogar in derselben Sitzgruppe“, tönte es laut und erfreut aus Ronnis Mund.

Durch seinen freudigen Gefühlsausbruch sah sich die Dame neben ihm veranlasst, ihm einen tadelnden Blick zuzuwerfen. Der ältere Mann ihr gegenüber beendete oder unterbrach zumindest seine Betrachtung der Regentropfen an der Scheibe und schaute Ronni erstaunt an.

„Hallo Robbie, schön dich zu sehen. Das ist wirklich ein Zufall, dass wir uns nach vielen Monaten hier treffen. Du fährst bestimmt zur Arbeit?“

„Nicht Robbie. Ronni, einfach Ronni“, verbesserte er sie.

„Ah ja, natürlich. Ronni.“

„Ja, ich habe zwei oder drei Tage kein Auto und fahre daher zum tatsächlich ersten Mal mit der Bahn zur Arbeit. Wie geht es dir?“, fragte Ronni jetzt fast im Flüsterton und lehnte sich etwas nach vorne.

„Am liebsten gut.“

Na, diesen altbekannten Ausspruch hättest du dir schenken können, dachte er.

„Wie ist es mit deinem Freund? Hast du ihn doch noch angezeigt?“

„Nein, das habe ich nicht. Das ist endgültig erledigt und vorbei. Mein Vater hat noch vor seinem Tod mit ihm gesprochen und ihm anscheinend eindringlich gesagt, dass er mich künftig in Ruhe lassen soll. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Weiß du, mein Vater kann sehr bestimmend sein, wenn es sein muss.“

„Dein Vater ist verstorben? Das tut mir leid. Bei dir kommt aber zurzeit alles Schreckliche zusammen. Zuerst die Sache mit deinem Freund und dann der Tod deines Vaters. Ist er plötzlich und unerwartet verstorben oder war er bereits länger krank?“

„Durch einen Unfall. Er war total fit und gerade einmal sechzig Jahre alt.“

„Furchtbar. Ein Verkehrsunfall wahrscheinlich?“

„Nein. Er war mit dem Kanu auf dem Rhein und ist nicht mehr nach Hause gekommen. Das Boot wurde kurz hinter Bonn gefunden. Mit dem Kiel nach oben. Von meinem Vater keine Spur – bis heute. Er ist mit Sicherheit ertrunken.“

„Wie tragisch“, bekundete Ronni seine Anteilnahme.

„Ja, das stimmt. Insbesondere wenn man bedenkt, dass er sein Leben lang Kanu gefahren ist. In jungen Jahren sogar als Leistungssportler. Die letzten Jahre fuhr er nur zur Entspannung und zum Abbau vom beruflichen Stress manchmal auf dem Rhein.“

„Das ist alles sehr traurig und war auch für dich sicher eine schlimme Zeit, aber es freut mich, wenn es dir jetzt wieder gut geht. Hast du inzwischen eine neue Beziehung oder lebst du noch allein in Menden?“

„Ja, ich wohne noch immer in Menden. Von Männern habe ich aber noch immer die Nase voll, wie du bestimmt verstehen kannst. Du bist natürlich davon ausgenommen“, lachte sie.

„Naja, ich habe nur getan, was ich tun konnte“, wiegelte Ronni ab.

„Bei der nächsten Haltestelle am Bahnhof Beuel muss ich aussteigen. Tschüss, und mach`s gut“, sagte sie und stand auf.

„Ich fahre noch bis Ramersdorf. Was hältst du von einem unverbindlichen Feierabendbier, wenn wieder einmal die Sonne scheint? Ich kenne noch nicht einmal deinen Nachnamen. Hast du eine Telefonnummer?“

„Gib mir deine Hand.“

Ronni hielt ihr seine Hand hin und in Windeseile hatte sie einen Kugelschreiber gezückt und schrieb ihm auf den Handrücken, wahrscheinlich ihre Telefonnummer.

In dem Moment gingen die Türen der Bahn auf und sie entschwand im Regen.

Ronni betrachtete die Zahlen auf seinem Handrücken und überlegte, ob er sie sofort abschreiben sollte. Er befürchtete, dass der Regen die Zahlen verwischen könnte, wenn er ausstieg. Doch dann hatte er einen Einfall. Er nahm sein Smartphone und machte ein Foto von seiner Hand.

Die Frau neben ihm hatte, seitdem er sich mit Sarah unterhalten hatte, keinen Blick mehr in ihre Frauenzeitschrift geworfen. Auch der ältere Mann gegenüber schien das Interesse am Regen verloren zu haben. Ronni meinte, ein zustimmendes Nicken bei ihm beobachtet zu haben, als er mit seinem Smartphone seinen Handrücken fotografierte.

Bis zur Endstation in Ramersdorf leerte sich die Bahn merklich. Als er ausstieg, befand er sich nur noch mit wenigen Auserlesenen in der Bahn, die ebenfalls dort ausstiegen und eilends in alle Richtungen in den Regen verschwanden.

Er öffnete seinen Schirm und ging gemächlichen Schrittes in Richtung seiner Dienststelle. In Gedanken war er noch immer bei der zufälligen Begegnung in der Bahn.

Wie sich ein Mensch in wenigen Monaten doch verändern kann, dachte er. Bei ihrer ersten, einschneidenden Begegnung im April wirkte sie verzweifelt, schüchtern und sie schien sich selbst nicht zu mögen. Heute machte sie auf ihn den Eindruck einer selbstsicheren, strahlenden, das Leben bejahenden, jungen Frau. Wenn er sich ihr Bild nach diesen wenigen Minuten erneut ins Gedächtnis rief, musste er sich eingestehen, dass ihm dieses Bild gefiel.

Zum Glück hatte er ihr nicht gesagt, dass er Kommissar bei der Kriminalpolizei war. Er hatte festgestellt, dass es die meisten Menschen abschreckt, sich privat mit einem Polizisten zu unterhalten. Wie hatte sein ehemaliger Kollege Frank Eisenstein einmal gesagt: Wenn die Menschen in Not sind oder Hilfe benötigen, rufen sie nach der Polizei. Geht es ihnen wieder gut, sehen sie die Polizei lieber von hinten.

Trotzdem beschloss er, sie in Kürze anzurufen und wenn möglich ein Treffen mit ihr zu vereinbaren.

3

An manchen Tagen betritt man nicht mit besonders viel Euphorie sein Büro. Insbesondere dann nicht, wenn es draußen regnet und man mit dem aufgespannten Schirm durch Wind und Regen laufen muss und die Hosenbeine bis zu den Oberschenkeln hin nass sind.

Schlechtgelaunt stellte Ronni den vor Wasser triefenden Schirm am Garderobenständer ab und entledigte sich seiner Jacke, die ebenfalls vom Regen nicht verschont geblieben war. Das Wasser tropfte von ihr auf den Boden und bildete dort in kurzer Zeit eine Pfütze.

Lediglich ein knappes „Morgen“ zu Sybille Baum, seiner Sekretärin und Bürogehilfin, kam lustlos über seine Lippen.

„Morgen, Ronni“, begrüßte ihn Sybille auch nicht gerade enthusiastisch.

Normalerweise war sie morgens immer gut gelaunt und freundlich. Aber an diesem Morgen schien ihr eine Laus über die Leber gelaufen zu sein. Oder war es das Wetter? Dafür hätte er Verständnis.

„Du hast bereits netten Besuch“, überraschte sie ihn und zeigte zu seinem Schreibtisch.

Mein Gott, der Büroalltag fängt ja bereits gut an. Wer besucht mich denn so früh am Morgen?, dachte er. Erst jetzt sah er, dass jemand auf dem Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch saß und eine Zeitung aufgeschlagen in den Händen hielt.

Es ist erstaunlich, wie manchmal ein kleiner Impuls oder Anlass reicht, um die Stimmung komplett umzukrempeln. Sowohl zum Positiven als auch zum Negativen. In diesem Fall schlug Ronnis Stimmung in Freude um.

„Hallo Frank – der frischgebackene Pensionär hat Sehnsucht nach seiner früheren Wirkungsstätte?“, begrüßte er seinen ehemaligen Kollegen Frank Eisenstein.

Frank warf die Zeitung auf den Schreibtisch, stand auf und umarmte seinen Freund und ehemaligen Kollegen herzlich.

„Nein, ich hatte zufällig in der Gegend zu tun und wollte nur kurz ‚Hallo‘ sagen“, wiegelte Frank mit einem Lächeln ab.

„Ja, natürlich. Kann ich durchaus verstehen. Ramersdorf ist ja auch der Nabel der Welt, wo man immer etwas zu erledigen hat“, lachte Ronni.

„Egal, komm setz dich. Ich freue mich, dass du vorbeigekommen bist. Ich habe Zeit, wir können in Ruhe plaudern. Warst du schon in den anderen Büros und hast dort die Kolleginnen und Kollegen begrüßt?“, fragte Ronni.

„Nein, das möchte ich nicht, sonst heißt es noch, der Alte hat zu viel Zeit und hält uns nur von der Arbeit ab. Aber es stimmt – ich habe Zeit, leider zu viel.“

„Ich verstehe, aber ich bin sicher, das wird sich irgendwann einpendeln. Du bist gerade mal ein paar Wochen in Pension und du wirst dich an den Ruhestand noch gewöhnen. Bald wird die Zeit kommen, dass du, wie viele andere Pensionäre überhaupt keine freie Minute mehr hast, weil du mit allen möglichen Sachen beschäftigt bist, für die du während der Berufstätigkeit keine Zeit hattest.“

Ronni versuchte, seinen Freund aufzumuntern und ihm eine Perspektive zu geben, denn er hatte den Eindruck, dass der Ruhestand ihm stark zusetzte.

„Von wegen ein paar Wochen. Es sind inzwischen zwei Monate. Früher, ich meine, als ich noch im Dienst war und es kommt mir vor, als wären es Jahre her, verrann die Zeit wie im Fluge. Jetzt tickt sie langsam und gleichmäßig vor sich hin. Ein Tag vergeht wie der andere. Diese Zeit der Eintönigkeit ist wie ein Dieb. Sie stiehlt mir Stunden und Tage meines Lebens – und dann noch dieses Sch…wetter.“

Ronni war beinahe erschüttert über das, was sein Freund von sich gab.

„Es wird auch wieder irgendwann die Sonne scheinen und dann kannst du am Rhein spazieren gehen oder Fahrrad fahren. Ich beneide dich um diese Freiheit. Wenn man berufstätig ist, wünscht man sich mehr Zeit für solche Aktivitäten. Hat man wie du die Möglichkeit dazu, ist der Wunsch plötzlich nicht mehr vorhanden.“

Ronni lebte inzwischen sechs, sieben oder waren es bereits zehn Jahre in Bonn und er war in dieser Zeit maximal dreimal in seiner Freizeit am Rheinufer gewesen. Frank war wahrscheinlich während seiner viel längeren Dienstzeit in Bonn höchstwahrscheinlich nie am Rhein gewesen. Hobbys hatte er keine und Freizeitaktivitäten waren für ihn verpönt. Er hatte sich überwiegend seiner Arbeit verschrieben. So wie Frank wollte Ronni nicht enden – wobei enden sicherlich das falsche Wort war. Er glaubte, dass der Zeitpunkt auch für ihn jetzt schon reif war, etwas zu ändern. Sich vorzubereiten, einen Plan zu erstellen, für die Zeit nach seinem Beruf. Aber wie und was? Einfach würde es jedenfalls nicht werden.

„Was hältst du von einem Kaffee? Ich sehe gerade, Sybille hat welchen aufgebrüht.“

Ronni schaute zu dem halbhohen Aktenschrank in der Nähe von Sybille Baums Schreibtisch, auf dem eine alte Kaffeemaschine vor sich hin gurgelte. Sybilles Kaffee war berühmt und berüchtigt. Er weckt Tote auf, sagte Ronni einmal.

„Nein, danke. Wenn es gestattet ist, hole ich mir eine Tasse heißes Wasser in der Küche. Einen Beutel grünen Tee habe ich immer dabei.“

Frank griff in seine Hosentasche und holte eine zerknitterte Teebeuteltasche heraus und ging damit zur Küche. Sie befand sich in einem winzigen Zimmer am Ende des Flurs, das mehr einer Abstellkammer glich.

Als er nach einigen Minuten zurückkam, schaute Ronni ihn irritiert an.

„Du warst doch immer derjenige, der Sybilles Kaffee über alles liebte. Wie hast du immer gesagt? Dieser Kaffee ist nur für starke Männer. Und jetzt trinkst du grünen Tee?“

„Je älter man wird, desto einsichtiger wird man. Susanne hat mir gesagt, grüner Tee wäre gut gegen hohen Blutdruck“, antwortete Eisenstein mit der Miene eines weisen Gelehrten.

„Seit wann hast du Bluthochdruck? Das ist mir total neu.“

Ronni kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

„Ich habe keinen Bluthochdruck. Susanne meinte, der Tee wäre auch gut zur Vorbeugung. Inzwischen schmeckt er mir besser als diese Plürre dort drüben.“

Dabei zeigte er mit dem Arm zu dem tiefschwarzen Gebräu auf dem Aktenschrank.

„Kann ich verstehen, wenn Susanne das sagt“, lachte Ronni, stand auf und holte sich eine Tasse von Sybilles superschwarzem Kaffee.

„Komm, lass uns von etwas anderem reden. An welchem Fall arbeitest du zurzeit?“, wechselte Frank das Thema, nachdem sich Ronni wieder hinter den Schreibtisch gesetzt hatte.

Dabei richtete er seinen Oberkörper auf, denn er war in den letzten Minuten etwas in sich zusammengesunken. Sein Blick war wieder fest und neugierig – beinahe so wie früher. Womöglich war das die Folge des neuen Lebensspenders grüner Tee.

„Okay, du möchtest also wissen, an welchen schwierigen Fällen wir uns festgebissen haben, seitdem du nicht mehr da bist? Und lass mich raten, du möchtest diese Rätsel lösen? Diese Fälle, die niemand bisher gelöst hat. Dich juckt es in den Fingern, mitzumachen. Stimmt‘s?“

Ronni hatte sich vorgebeugt und schaute Frank lachend in die Augen.

„Ja, du hast recht. Mich juckt es tatsächlich. Aber nicht in den Fingern, sondern im Kopf. Ich brauche etwas, womit sich meine Synapsen im Gehirn beschäftigen können“, dabei kratzte er sich demonstrativ seine kurzen, grauen Haare.

Plötzlich erhellte sich sein Gesicht, als hätte er eine unerwartete Erleuchtung.

„Apropos Rhein. Du hast recht. Ich sollte tatsächlich öfter am Rhein spazieren gehen. Dann würde ich vielleicht die Leiche dieses Industriellen finden. Ist dir der Fall von dem gekenterten Kanufahrer auf den Tisch gekommen?“, fragte Eisenstein.

Ronni erkannte in den Augen des pensionierten Kriminalhauptkommissars die gleiche Neugierde wie früher.

„Nein. Ich kenne keinen Fall von einem gekenterten Kanufahrer. Wann war das? Wenn dich das interessiert, kann ich gerne mal nebenan bei den Kollegen nachfragen.“

„Das war im Juni. Das stand doch groß in der Zeitung. Der Firmenchef Jochen Lippmann, diese Zulieferfirma für Windkraft, der Name ist mir entfallen, ist mit seinem Kanu auf dem Rhein gefahren und nicht mehr nach Hause gekommen. Die Ehefrau hat ihn bei der Polizei am nächsten Tag als vermisst gemeldet. Irgendwann hat man sein Kanu in der Nähe der Siegmündung kieloben gefunden. Von ihm keine Spur – bis heute.“

„Nein, den Fall kannte ich bisher nicht. Du scheinst ja gut informiert zu sein. Zumindest hast du den Fall ausführlich in der Zeitung verfolgt.“

Mit einem Mal wurde Ronni sehr nachdenklich. Er schaute zur Zimmerdecke hoch, als wenn er dort oben die Lösung seiner Fragen finden könnte.

„Fast die gleiche Geschichte habe ich heute Morgen gehört. Nur in der Geschichte handelte es sich um keinen Firmeninhaber, sondern um einen Vater und die Geschichte hat mir die Tochter erzählt. Dass es zweimal die gleichen Ereignisse in kürzester Zeit gibt, halte ich für unwahrscheinlich. Nein, das ist ein und dasselbe Ereignis, da bin ich mir sicher.“

Ronni erzählte seinem Freund in wenigen Worten, wie er Sarah vom Suizid abgehalten hatte und wie er sie heute Morgen unverhofft in der Straßenbahn wiedergetroffen hatte.

„Kennst du den Nachnamen dieser Sarah?“, wollte Eisenstein wissen.

„Nein. Trotzdem, ich vermute, das ist die Tochter dieses Jochen Lippmann.“

„Kann sein. Ich weiß, Jochen Lippmann hat eine Tochter, die ungefähr in dem Alter dieser Sarah sein muss. An den Vornamen kann ich mich nicht mehr erinnern.“

„Woher weiß du das und wieso interessiert dich dieser Fall so sehr?“, fragte Ronni verwundert.

„Ich kenne Jochen Lippmann noch aus meiner Zeit in Duisburg. Er hat seine Firma, einige Jahre bevor ich nach Bonn kam, in Bonn gegründet. Er ist ungefähr so alt wie ich. Vielleicht ein, zwei Jahre jünger. Ich kenne seine Tochter als junges Mädchen. Sie und meine Tochter waren gute Schulfreundinnen. Daher interessiert mich der Unfall – wenn es denn überhaupt ein Unfall war.“

„Was meinst du damit: Wenn es denn überhaupt ein Unfall war?“

Ronni wurde hellhörig. Hatte Frank ihn aufgesucht, um mit ihm den Unfall von Jochen Lippmann zu besprechen? War er eventuell mehr als nur neugierig? Ganz klar! Er wollte aus dem Unfall einen Fallseinen Fall – machen.

„Überlege doch mal: Jochen Lippmann ist ein äußerst sportlicher Mann, erfahrener Kanufahrer, der bestimmt nicht in der Mitte des Stroms, in der stärksten Strömung fuhr. Außerdem ist er ein hervorragender Schwimmer. Der Rhein hatte zu dieser Zeit kein Hochwasser, im Gegenteil, der Pegelstand war unter Normalwasser gesunken. Und dann kentert er aus unbekannten Gründen und seine Leiche ist bisher nicht auffindbar? Ich sage nur: seltsam – mehr als seltsam!“

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