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Eine Woche nachdem ich Mark zur Bushaltestelle begleitet hatte, wurden meine Fragen beantwortet. Es war der Tag, an dem Ginas Vernissage in der Zimmer-Galerie stattfand, die irgendwo in der Karl-Marx-Straße lag. Gina hatte sich damals jeglichen Kommentar verkniffen, als sie zurückkam und Mark nicht mehr da war. Unser Leben nahm seinen normalen Rhythmus auf. Wir gingen Abendessen, besuchten Ausstellungseröffnungen, Lesungen und Darbietungen von Ginas Künstlerkollegen. Sie sah glücklich aus, als sie die Besucher von Gemälde zu Gemälde führte, Fragen zu Farbe, Technik und Konzept beantwortete. Im Hintergrund lief getragene Instrumentalmusik, sämtliche Zimmer-Künstlerkollegen waren gekommen. Die Vernissage würde sich über den ganzen Tag erstrecken. Ich stand in einer Ecke, versuchte, mich nützlich zu machen, plauderte mit Julia, der Zimmer-Direktorin, einer großen, schlanken, bescheidenen Frau, mit ihrem Lebensgefährten Klaus, einem Brocken von Mann, der den Riesling hinunterkippte wie Wasser. Ich war seit drei Stunden da, ich war müde und hungrig und überlegte, ob ich irgendwo essen gehen sollte. Ich brauchte etwas Handfesteres als das angebotene Fingerfood und wollte Gina fragen, ob sie mich begleiten würde. Da kam in Begleitung dreier Personen ein Mann herein, der mir bekannt vorkam. Er erkannte mich gleichzeitig, löste sich aus seiner Gruppe und kam herüber. Es dauerte kurz, bis ich ihn einordnen konnte. Es war Julius, der Anwalt. In Jeans und T-Shirt sah er anders aus. Das hier sei die Vernissage meiner Frau, erklärte ich ihm.

Er sah beeindruckt aus. „Meine Lebensgefährtin hat mir von der Ausstellung erzählt.“ Er deutete auf eine der jungen Frauen, die Jeans und Bomberjacke trug. „Übrigens hätte ich Sie morgen angerufen. Ich muss mit Mark reden. Wohnt er noch bei Ihnen?“

„Nein. Alles in Ordnung?“

„Ich muss mit ihm reden. Es geht um seine Visumsverlängerung.“

„Er wohnt schon seit längerem nicht mehr bei uns, aber ich kann es ihm ausrichten. Ich kann ihn finden, wenn es nötig ist.“

Der Anwalt zögerte. „Es ist tatsächlich dringend … ich habe erst heute erfahren, dass sein Visum leider nicht verlängert wurde.“

„Oh, das tut mir leid.“

„Können Sie ihm das bitte ausrichten?“

„Klar.“

Schon im Gehen sagte er: „Eigentlich geht es mich nichts an, aber … Sie wissen, dass sein richtiger Name Mary ist? Das wussten Sie bestimmt schon, Sie sind ja gut befreundet.“

Verdattert starrte ich ihn an. Mary?

„Er ist eine Frau, vielmehr sie ist eine Frau. Mary Chinomba.“

Mark war eine Frau? „Sind Sie sicher?“ Mehr brachte ich nicht heraus.

„Selbstverständlich, schließlich habe ich ihre Papiere gesehen. Sie sehen so erstaunt aus – Sie wussten es also nicht.“

10

Meine Anrufe bei Mark landeten direkt bei einer Stimme, die mir knapp auf Deutsch beschied, ich solle bitte eine Nachricht hinterlassen. Nach einer Weile nahm die Mailbox keine Nachrichten mehr auf. Ich rief Lorelle an, die Mark zwar ebenfalls seit einiger Zeit nicht mehr gesehen, aber gehört hatte, er sei in einem Heim in der Nähe des Görlitzer Bahnhofs untergebracht. Wir trafen uns beim Bahnhof und gingen gemeinsam zum Flüchtlingsheim. Wir kamen an leerstehenden, verfallenen Gebäuden vorbei, deren Fassaden blau-grün-schwarze Graffiti zierten, an Geschäften, deren Rollladentüren dauerhaft geschlossen waren; wir gingen an dubiosen Eckläden vorbei, aus deren schmalen Türen Betrunkene mit Six-Packs unterm Arm heraustaumelten, die Bierbäuche hingen ihnen über den Hosenbund, an schnurrbärtigen Türken, die unter Sonnenschirmen Shisha rauchten und landeten in einer komplett verwaisten Straße, an deren Ende sich ein Zaun befand, an dem das Gras hochwucherte.

„Warst du schon mal hier?“, fragte ich Lorelle. Sie schüttelte den Kopf. Wir bogen um die Ecke in die nächste Straße, die bis auf zwei Männer ebenfalls leer war, mit geröteten, schmuddeligen Gesichtern saßen sie mit dem Rücken an eine Hauswand gelehnt da, die Beine auf dem Gehweg ausgestreckt, ganz im Bann der Chemie, die durch ihre Adern rauschte. Während sie gierig aus ihren Bierdosen schlürften, folgten uns ihre Blicke, bis wir um die nächste Ecke verschwanden. Das Flüchtlingsheim war eine ehemalige Schule, den meisten Fenstern fehlten die Scheiben und im vermüllten Hof wucherte das Gras. Vom geöffneten Tor führte ein breiter Weg zu einem großen, grauen Betonklotz. Auf einer Seite der Einfahrt stand ein weiteres, kleineres Gebäude, wohl ein ehemaliges Wachoder Dienstgebäude, jetzt waren die Fenster mit Sperrholz vernagelt, das sich durch Regen und Sonne schwarz verfärbt hatte und abblätterte. Vor der Tür standen vier Männer, drei Schwarze und ein Asiate, und unterhielten sich leise. Sie starrten lange auf Lorelles Haar und Piercings, musterten dann mich. Einer von ihnen, der über den Dreadlocks ein rot-gelb-grün-schwarzes Rasta-Beanie trug, nickte mir zu und ich nickte zurück. Vor dem Eingang des Hauptgebäudes stritt sich ein Haufen Männer; sie waren unrasiert, schmutzig und eindeutig betrunken. Bei unserem Anblick sahen sie auf und einer von ihnen, der einzige Schwarze, entfernte sich. Der Gestank erschlug uns, noch bevor wir das Gebäude betraten: durchdringend, feucht und ekelerregend. Flüchtlingsheim. Einen weniger heimeligen Ort hatte ich noch nie gesehen.

„Sind wir hier richtig?“, fragte ich Lorelle. Das Gebäude hatte vier Stockwerke, aus den Fenstern oben drangen Stimmen und leise Musik.

„Wir sind hier richtig.“

Auf dem ersten Treppenabsatz befand sich ein Waschraum, dessen Eingang teilweise durch einen Müllhaufen blockiert war, der aus einem Abfalleimer quoll und diesen fast unter sich begraben hatte. Ein Mann mit hagerem Oberkörper und einem Handtuch um die Hüften, das Haar noch nass, kam heraus und stieg vorsichtig über den Unrat.

„Hi“, sagte ich. We are looking for a friend. Mark Chinomba.“ Sein Blick wanderte von Lorelle zu mir. Er schüttelte den Kopf. Where he come from?“

„Malawi“, antwortete Lorelle und fragte, weil sein Englisch so holprig war, ob er Deutsch spreche. Er zuckte die hageren Schultern. Check upstairs.“

Überall an den Wänden im Treppenhaus hingen Flugblätter mit schreienden Parolen Nein zu Grenzen!, No to Illegal Detention! Asyl ist Menschenrecht, Veranstaltungshinweisen auf Englisch und Französisch, die meisten jedoch auf Deutsch: Termine für Theatergruppen, religiöse Zusammenkünfte, Sozialarbeitersprechstunden. Auf dem zweiten Stock begegnete uns niemand, wir bogen nach rechts ab und gingen durch eine Doppeltür in einen langen, dunklen Korridor, der als Rumpelkammer für alte Fahrräder, kaputte Tische und Stühle und anderen Müll diente. Wir standen einer Reihe von Türen gegenüber, die meisten halboffen, man sah Stockbetten mit zerschlissenen Matratzen auf denen Männer schliefen, ihre Beine hingen im Freien. Ich klopfte an eine der Türen und trat ein. Vor einem kleinen Herd, auf dem sich ein Topf befand, stand ein Mann, in der einen Hand ein halbes Hühnchen, in der anderen ein Messer. Der Anblick Lorelles hinter mir brachte ihn aus der Fassung – offenbar gab es in diesem Teil des Flüchtlingsheims nur selten Damenbesuch. Er legte das Hühnchen neben kleingeschnittene Paprika und gehackte Zwiebeln auf den Tisch, wischte sich die Hände an der Hose ab und wandte sich uns zu. Nein, den Namen Mark Chinomba habe er noch nie gehört. „Aus Malawi? Nein, er kann nicht hier sein. Das Zimmer hier ist Senegal.“

Ein anderer Mann saß auf seinem Bett und sah sich auf einem alten Röhrenapparat, der neben dem Bett auf einem Tisch stand, einen Fernsehfilm an. Er blickte nicht auf, während wir uns mit dem Hühnchenmann unterhielten, sondern starrte hingebungsvoll auf den Schirm, dessen Licht ihn beschien, sein Gesichtsausdruck wechselte so rasch wie die Bilder. Auf dem Boden lagen Schuhe und weitere Matratzen verstopften den Durchgang zwischen den Betten. Im Zimmer hing ein widerlicher Geruch nach Essen, müffelnden Schuhen und ungewaschenen Körpern.

„Wo sind die Nigerianer?“, fragte ich neugierig.

Kopfschüttelnd zeigte er nach oben. „Jetzt findest du keine Nigeria. Wenn du Nigeria willst, komm abends. Meiste schlafen jetzt.“

Ich blieb vor der Treppe stehen. Ich war müde und ausgelaugt. „Ich glaube, mir reicht’s.“

Lorelle sah mich an. „Willst du Mark denn nicht finden?“

Im nächsten Stockwerk befand sich ein Raum, der viel größer war, als der vorherige, eine kleine Halle, in der alle Matratzen auf dem Boden lagen. Offenbar waren die meisten Männer hier aus Asien, höchstwahrscheinlich Syrer, Pakistaner, Bangladescher oder Afghanen, dazwischen ein paar Schwarze, alle hatten den gleichen verstohlenberechnenden Blick, alle schüttelten rasch den Kopf, als wir nach Mark Chinomba fragten. Manche lagen auf ihren Matratzen und tippten auf ihren Handys herum, einige saßen an einem Tisch in der Raummitte und stritten beim Kartenspiel. Als wir an weiteren offenen Türen vorbeikamen und über weitere Müllhaufen stiegen, vom Gestank beinahe ohnmächtig wurden, Männern zunickten, die grüppchenweise auf dem Balkon versammelt oder untätig am Fenster standen, kam es mir vor, als schritte ich durch einen Ort aus Dantes Inferno. Niemand kannte Mark. Das oberste Stockwerk war das Frauenstockwerk und schon auf der Treppe konnten wir hören, wie jemand beruhigend auf ein kreischendes Kind einredete. Die durchdringenden Schreie veranlassten mich zum Stehenbleiben.

„Glaubst du, er ist hier, bei den Frauen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Nie im Leben.“

Wir gingen.

Am nächsten Tag rief Lorelle an. „Heute Abend läuft im Neuen Kino eine Doku über Mumia Abu-Jamal. Hat ein Freund erwähnt. Mark ist ein großer Fan von Abu-Jamal.“

Ich hatte keine Ahnung, wer Mumia Abu-Jamal war, notierte mir aber Lorelles Wegbeschreibung. Nach der Vorführung saßen wir in dem kleinen Café neben dem winzigen Kino. An den Nachbartischen unterhielten sich die Leute noch immer über den schonungslosen Dokumentarfilm, den wir gerade gesehen hatten. Mark und Lorelle saßen händchenhaltend auf einem Sofa und Lorelle sah Mark mit einer Zärtlichkeit an, die so gar nicht zu ihrem harten, gepiercten Gesicht passte. Seit über einem Monat hatte sie Mark nicht gesehen. Als wir vorhin reinkamen und ihn an der Theke mit dem Barkeeper reden sahen, waren die beiden aufeinander zugestürzt und hatten sich wild geküsst, während die Leute ringsum Beifall geklatscht hatten. Ich stand da und beobachtete sie, wobei mir kurz durch den Kopf ging, dass Lorelle das Küssen mit all den Ringen in ihren Lippen bestimmt wehtun musste, war von der Szene aber genauso ergriffen wie alle anderen.

„Von Abu-Jamal habe ich heute zum ersten Mal gehört.“

„Wie denn auch?“, lachte Mark. Er wirkte aufgekratzt. „Du wohnst mit deiner schönen Frau in einem großen Haus. Du lebst in Amerika, wo jeder ein Filmstar ist und einen Riesenschlitten fährt.“

„Bei dir hört sich das an, als wäre es eine Sünde oder eine Krankheit, in einem großen Haus zu wohnen.“

„Na ja, ich würde mir keinen Film über Menschen, die in großen Häusern leben, ansehen, über sie auch keine Filme drehen.“

„Das ist fast ein Manifest. Was für Filme würdest du denn machen?“

„Ich sage dir, welche Art Filme ich machen würde. Über einen Mann in einem Tunnel. Einem langen, endlosen Tunnel, an dessen Ende seine Geliebte wartet, aber allmählich begreift er, dass nicht nur seine Geliebte, sondern auch der Tod wartet. Aber wir sehen nie, wie er die Geliebte oder den Tod erreicht, nur eine einzige, lange Einstellung auf ihn im Tunnel, mehr nicht. Es geht um die Reise selbst. Die Ungeheuer, die sich aus der Dunkelheit auf ihn stürzen, existieren sämtlich nur in seiner Phantasie.“

Ich nickte. „Hübsche Allegorie für die menschliche Natur. Schönheit und Tod, Seite an Seite. Wir alle stecken in einem Tunnel, die Liebe treibt uns voran, aber Liebe bedeutet gleichzeitig auch Tod. Begehren heißt sterben.“

„Ja, und nicht zu lieben, bedeutet auch zu sterben“, sagte Mark, ließ Lorelles Hand los und beugte sich vor zu mir. „Wenn ich meinen Film mache, wird der ziemlich avantgardistisch. Marechera. Dostojewski. Caravaggio. Knut Hamsun. So avantgardistisch, dass es einem beim Zuschauen das Herz abdrückt. Was ist der Sinn von Kunst, wenn nicht Widerstand?“

„Widerstand wogegen?“

„Einfach nur Widerstand. Aus Prinzip.“

„Und solche Filme willst du machen?“

„Das ist das Leben, das ich führen will. Kunst und Leben werden eins.“

„Warte nur, bis du älter bist und verheiratet, Kinder hast und Rechnungen bezahlen musst.“

Lachend zuckte er die Achseln. „Vielleicht kommt es dazu ja nie.“

Lorelle hörte zu, den Kopf an seine Schulter gelehnt, und rauchte eine Zigarette. Sie beugte sich vor. „Mark hat einen Kurzfilm gedreht, der hat eine Auszeichnung bekommen.“

Mark hatte einen Film gemacht? Man sah mir meine Überraschung wohl an. Mark lachte und schob Lorelle beiseite. „Ein Kurzfilmchen. Dreißig Minuten lang. Habe ich vor zwei Jahren für ein Seminar gemacht.“

„Aber er hat hier in Berlin einen Regiepreis gewonnen.“

„Toll“, sagte ich. „Über einen Mann in einem Tunnel?“

„Du musst ihn dir ansehen. Ich habe eine Kopie, die kann ich dir leihen“, sagte Lorelle.

Ich wollte mich mit Mark unterhalten, welche Möglichkeiten er jetzt noch hatte, nachdem sein Antrag auf Visumsverlängerung abgelehnt worden war, aber er schien an dem Thema nicht interessiert, und vielleicht war dies ohnehin nicht der richtige Ort.

„Versuch mal, Julius, diesen Anwalt, anzurufen. Wenn möglich, noch heute. Er hat versucht, dich zu erreichen.“ Er nickte und wechselte plötzlich das Thema. „He, hast du nächste Woche Zeit? Da gibt es einen Schallplattenladen, den musst du dir unbedingt ansehen. Der ist gigantisch, der größte in Berlin, vielleicht in ganz Europa.“

„Ich habe Zeit.“

„Gut, dann gehen wir drei dorthin. Danach können wir was essen. Abhängen.“

„Super Idee, aber versprich mir, dass du nicht wieder abtauchst“, sagte ich.

Mark hob sein Bier und zitierte lachend Shakespeare: „When shall we three meet again, in thunder, lightning, or in rain …?“

Er sah glücklich aus und so würde ich ihn immer in Erinnerung behalten, nach vorn gelehnt, um mir zuzuprosten, Lorelle an seiner Seite, denn wie sich herausstellte, war dies unser letztes Zusammentreffen zu dritt.

When the hurly-burly’s done, when the battle’s lost and won“, ergänzte ich automatisch.

11

Am Tag nach unserem Treffen im Kino brachen die Flüchtlingsunruhen aus, wie es die Zeitungen später nannten. Die Heimbewohner wachten auf und fanden das Gebäude von Polizisten umstellt, die Streifen- und Mannschaftswagen versperrten sämtliche Straßenzugänge. Neben den Mannschaftswagen standen von der Bezirksverwaltung gestellte Doppeldeckerbusse. Einer der Polizisten forderte die Bewohner über ein Megafon auf, ihre Sachen zusammenzupacken und das Gebäude zu räumen – sie hätten sechs Stunden Zeit. Offenbar hatten sich Anwohner bei der Bezirksverwaltung beschwert, sie fühlten sich bedroht, ihre Töchter und Söhne seien nicht mehr sicher auf den Straßen, wo Flüchtlinge Drogen verkauften und sich besoffen prügelten; die Fremden hätten die gesamte Straße in eine Müllhalde verwandelt, überall liege Abfall. Sechs Stunden für die Räumung. Die Busse sollten die Bewohner in ein anderes, außerhalb der Stadt gelegenes Flüchtlingsheim bringen, in der Zwischenzeit durfte niemand das Gebäude betreten oder verlassen. Um die Räumung zu beschleunigen, wurden Wasser und Strom abgedreht. Doch bald hatten Aktivisten in der Innenstadt von der Blockade gehört und versammelten sich auf der Straße, bildeten eine Menschenkette um den Block, solidarisierten sich in Sprechchören mit den Bewohnern und riefen, die Polizei solle abhauen.

„Mark hatte mir eine SMS geschrieben. Als ich ankam, war die Stimmung aufgeheizt. Die Polizei hatte bereits Tränengas gegen die Aktivisten eingesetzt und sie aufgefordert, sich fern zu halten. Sie ließen uns nicht durch die Absperrung“, berichtete Lorelle.

„Wohin hat man sie denn gebracht?“

„Nirgendwohin. Das ist ein beliebter Trick von ihnen. Sie stopfen die Migranten in Busse, mit dem Versprechen, sie anderswo unterzubringen, und setzen sie dann außerhalb der Stadt mitten im Nirgendwo ab.“ Sie nippte an ihrem Tee, als wollte sie den bitteren Geschmack hinunterspülen. „Wie kann man hilflosen Menschen nur so was Grausames antun? Weißt du, was auf den Bussen steht?“

„Was?“

„Fahren macht Spaß. Drumrum Bilder von glücklichen Familien Hand in Hand – Kinder und Eltern und obendrein ein Hund. Der reinste Hohn.“

„Was ist mit Mark passiert?“, fragte ich.

„Ich habe ihn pausenlos angerufen, aber er ist nie rangegangen, daher hoffte ich, dass es ihm irgendwie gelungen ist, sich rauszumogeln.“ Lachend schüttelte sie den Kopf. „Reines Wunschdenken. Mark würde so was nie machen. Er liebt solche Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit. ‚Das ist unser historischer Moment‘, sagte er in solchen Situationen immer, ‚das ist unser Sharpeville, unser Agincourt.‘ Er war da drinnen, hatte sich mit den anderen verbarrikadiert. Sie haben die Türen von innen zugesperrt, mit Metallbetten und Tischen verrammelt, damit die Polizei sie nicht aufbrechen kann. Wir konnten sie an den Türen und Fenstern sehen, wie sie ihre T-Shirts schwenkten und sich an den Händen hielten. Die Polizei meinte, sie warten so lange, bis die da drin aufgeben. Es hat drei Tage gedauert.“

„Aber davon kam gar nichts in den Nachrichten …“

„Die bringen nur das in die Nachrichten, was sie bringen wollen“, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. „Ich war dort. Geh ins Internet, sieh dich auf alternativen Nachrichtenportalen um, da findest du alles. Am dritten Tag, als die Polizei von der Pattsituation die Nase voll hatte und drohte, sie mit Gewalt rauszuholen, übergossen die Flüchtlinge ihre Matratzen, ihr Bettzeug und die Fußböden mit Benzin und verkündeten, sie würden sich samt dem Gebäude anzuzünden. Manche gingen aufs Dach hoch und drohten, sie würden runterspringen. Mark war mit auf dem Dach. Ich erkannte seine Jacke.“

„Was ist dann passiert?“

„Ich erkannte seine rote Jacke. Ich sah ihn vom Dach fallen. Runter auf den Asphaltboden.“

„Er ist … gesprungen?“, fragte ich und wartete auf eine Wendung in der Geschichte, aber es gab keine.

„Im Scheinwerferlicht des Streifenwagens sah ich seine Leiche. Dann brachten sie ihn weg.“

Ich schwieg, starrte Lorelle nur an. Wir saßen vor einem Café, in dem wir oft mit Mark, Uta, Stan und Eric gewesen waren. Gegenüber befand sich die Kirche, wirkte verlassener denn je. Mark war tot.

„Sie sagen, er sei gesprungen.“

„Und?“

„Das hätte er nie getan. Dazu lebte er viel zu gern. Andere sagen, er sei gestoßen worden und ich glaube ihnen.“ Sie senkte den Kopf, ihr Gesicht war schmerzverzerrt.

„Gestoßen? Warum?“

„Weil er anders war und sie das selbst in diesem Moment der Verzweiflung nicht vergessen konnten. Was spielt das jetzt überhaupt noch für eine Rolle? Er ist tot.“

Mary Chinomba. Eine Pfarrerstochter, die sich so gern als Mann verkleidete, so gern Männerrollen spielte, die kein Interesse an den netten Jungs hatte, die ihre Eltern ihr präsentierten. Die von zu Hause wegrannte und bei ihrem Onkel wohnte, dem Einzigen, der wusste, was oder wer Mary war, und dafür Verständnis hatte. Das Stipendium in Deutschland war für alle Beteiligten die optimale Lösung gewesen, geradezu ein Geschenk Gottes.

„Du hast mir mal erzählt, dass Mark nicht nach Malawi zurückkonnte. Was hast du damit gemeint?“, fragte ich.

„Nachdem sie ungefähr ein Jahr lang in Deutschland gelebt hatte, schrieb Mary ihrem Onkel einen Brief, tat so, als käme er von einem Freund. Darin stand, dass Mary bei einem Unfall ums Leben gekommen und eingeäschert worden sei, weil sich keine Angehörigen gefunden hätten. Sie unterschrieb mit ‚Mark‘. An diesem Tag starb Mary.“

„Glaubte der Onkel ihm … ihr?“, fragte ich.

„Der Brief war eigentlich gar nicht für den Onkel, sondern für den Vater bestimmt. Sie fand, so wäre es für alle Beteiligten das Beste. Mark brach sein Studium in Hamburg ab und wurde zum Nomaden. Er wollte nicht, dass man ihn durch Zufall fand. Wenn ich ihn fragte, ob er eines Tages in die alte Heimat zurückkehre, antwortete er immer mit ‚vielleicht‘.“

Wir saßen da und betrachteten unser kaltgewordenes Essen. Keiner von uns hatte den Wunsch aufzustehen und sich zu verabschieden.

„Erzähl mir, wie du sie kennengelernt hast“, bat ich.

„Ihn“, sagte sie.

„Ihn. Wie hast du ihn kennengelernt?“

Lorelle heiratete mit zweiundzwanzig, gegen den Willen ihrer Eltern. Die Eltern waren in die USA zurückversetzt worden und wollten, dass sie mitkam, aber Lorelle weigerte sich. Nach einigen Jahren wurde ihr Mann, ein DJ, den sie auf einer Party in einem ehemaligen Bunker kennengelernt hatte, gewalttätig. „Er schlug mich. Ich versuchte ein paar Mal, ihn zu verlassen, aber er drohte, er werde mir was antun, wenn ich das durchzöge. Schließlich flüchtete ich nach Berlin, schrieb mich dort an der Uni ein. Gleich am ersten Tag traf ich Mark. Wir wurden Freunde, erst viel später ein Liebespaar. Wir waren das Freakgespann der Uni, die Transvestitin aus Afrika und die Durchgeknallte aus den USA. Mark gab mir den Mut, von Thomas die Scheidung zu fordern. Ich wurde erwachsen. Dank Mark.“

Ich nahm ihre Hand. „Es tut mir so leid.“

Sie nickte.

„Gehst du jetzt zurück nach Amerika?“

„Darüber denke ich schon seit einiger Zeit nach und jetzt das … es kommt mir vor, als hätten die Dinge hier ihren Sinn für mich verloren. Ich möchte meine Eltern wiedersehen, mich ihnen wieder annähern. Wie sieht es bei dir aus?“

„Ich weiß noch nicht recht.“

„Viel Glück jedenfalls. Und wenn du wieder in den USA bist, ruf mich an.“

Ich stieg an der Bushaltestelle bei der Apotheke aus. Gedankenverloren, mit gesenktem Kopf ging ich am Altersheim vorbei, und als ich am Waisenheim vorbeikam, sah ich ihn winkend zur Mauer rennen, sein Gesicht leuchtete vor Begierde wie auf Ginas Gemälde. „Schokolade!“ Ich wandte das Gesicht ab und beschleunigte meinen Schritt, blieb dann aber stehen und drehte mich zu ihm um. Seine Hartnäckigkeit war bewundernswert. Ich hob die Hand und winkte zurück. Er stand da, beide Hände auf die Mauer gestützt, genau wie auf dem Gemälde, und sein Schreck verwandelte sich in Entzücken, als ich „Hallo“ zurückrief.

Langsam nahm er die Hände von der Mauer, drehte sich um und ging zurück zu seinen Freunden. Den Kopf noch immer voller Gedanken setzte ich meinen Heimweg unter den Pappeln fort.

„Der Sommer ist dahin, die Ernte ist vergangen, und uns ist keine Hilfe gekommen.“ Diese Zeile ging mir nicht aus dem Kopf. Ich sah Mark, wie er seinen Vater imitierend hinter dem Lesepult stand und die Faust auf den grünen Filz donnern ließ, sein Blick über die Phantasiegemeinde wanderte.

„Ich gehe nicht zurück“, sagte ich zu Gina. Zwar hatte ich nicht darüber nachgedacht, aber sobald ich es gesagt hatte, wusste ich, dass ich das schon vor langem beschlossen hatte. Ich würde in Berlin bleiben, zumindest noch eine Zeitlang. Meinen Lebensunterhalt konnte ich einige Monate mit Englisch-Unterricht bestreiten, während ich überlegte, wie es weiterging. Ich konnte auch an meiner sträflich vernachlässigten Dissertation arbeiten. Gina saß mit einem Buch in der Hand auf dem Sofa. Sie wirkte nicht überrascht. Ich dachte an unsere Wohnung in Arlington. An den Parkplatz gegenüber und wie wir auf dem Balkon gesessen und die Kinder mit ihren Skateboards beobachtet hatten. Das schien in einem anderen Leben gewesen zu sein; in letzter Zeit konnte ich mich in diesem Bild nicht mehr sehen. Gina saß allein da.

„Wir waren einmal so glücklich“, sagte sie. Und ich wusste, damit meinte sie vor der Fehlgeburt. „Ich dachte, wenn wir gemeinsam nach Berlin gehen, weg von allem … ich dachte, in Berlin würde alles wie früher.“

Sie seufzte. Stille breitete sich aus, nur von gelegentlichem Vogelgesang unterbrochen. Vielleicht brauchten wir genau das, Stille. Eine Zeitlang Abstand. Sie sah mir geradewegs in die Augen und nickte. Aus einem der Bäume erklang der unverkennbare Ruf eines Kuckucks. Ich ging ans Fenster und sah nach oben. Ein Zwitschern, ein grauweiß-getüpfeltes Flügelschwirren. Dann war er weg.

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