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Als ich die Wohnungstür aufschloss, hörte ich Stimmen und mir fiel ein, dass wir an diesem Tag Gäste hatten. Gina war mit ihrer Reisenden-Serie fertig und hatte ihre Modelle sowie einige von den Zimmer-Leuten zur privaten Vernissage eingeladen – und ich hätte auf dem Heimweg die Getränke dazu mitbringen sollen. „Scheiße“, entfuhr es mir leise und ich sann fieberhaft nach einer Entschuldigung.

„Alles in Ordnung?“, fragte Mark mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich lächelte und winkte ihn herein.

Gina stand, ein Glas in der Hand, im Wohnzimmer und unterhielt sich mit einem Mann, der sein Ralph-Lauren-Hemd ziemlich weit aufgeknöpft trug, damit man seine behaarte Brust bewundern konnte. Sie machte den Mund auf, schloss ihn aber wortlos, als sie Mark sah. Ihre Augenbrauen hoben sich fragend. Ich ging zu ihr und küsste sie auf die Wange. Hi, Darling, sagte ich. Auf dem Balkon standen zwei Frauen mit einem Glas Wein in der Hand und rauchten. Ich winkte ihnen zu und schüttelte dem Mann die Hand.

„Du bist Ginas Mann“, konstatierte er. „Ich bin Dante.“ Er war Franzose oder Italiener, womöglich Spanier. Ob er sich wohlfühlte mit so exponierter Brust? Ich nickte und drehte mich zu Mark um. „Das ist Mark, ein Freund.“ Ich wartete, ob Gina sich an ihn erinnerte, wenn ja, ließ sie es sich nicht anmerken.

„Mark, das ist meine Frau, Gina.“

Gina sah von Mark zu mir, immer noch mit fragendem Blick, gab ihm dann die Hand. Mark mit seiner Baseballkappe, seiner gerade einmal bis zu den Knöcheln reichenden Jeans, dem einschultrig getragenen Rucksack, dem Geruch nach Inhaftierung wirkte neben dem elegant aufgeknöpften Dante dermaßen fehl am Platz, dass ich mich für ihn schämte.

„Komm“, sagte ich, nahm seinen Rucksack und zeigte Mark das Badezimmer, damit er sich die Hände waschen konnte; außerdem musste ich kurz allein sein, um mich zu fassen. Am dringendsten brauchte ich jedoch etwas Alkoholisches. In der Küche standen zwei offene Weinflaschen auf der Arbeitsplatte, eine rot, eine weiß. Während ich im Büfett nach einem Glas suchte, kam Gina herein. Sie machte die Tür zu und lehnte sich dagegen.

„Ich habe versucht, dich zu erreichen.“

Ich schenkte mir ein Glas Wein ein und trank es in einem Zug aus. Gina kam zu mir herüber, nahm mir das Glas ab und stellte es behutsam ins Spülbecken. Ich nahm es wieder an mich und schenkte mir erneut ein. Eine Woche nach unserer Heirat waren zwei ihrer Freunde auf dem Weg nach Baltimore durch unsere Stadt gekommen und Gina wollte mich ihnen vorstellen. Sie hatte gekocht und ich hätte auf dem Heimweg von der Bibliothek, wo ich meine Englisch-Studenten unterrichtete, Wein mitbringen sollen, allerdings war mir die gesamte Sache völlig entfallen. Ärgerlicherweise tat ich nichts Wichtiges, sondern hockte lediglich mit einem Roman in der Bibliothek herum und als ich mich wieder erinnerte, war ich drei Stunden zu spät dran. Als ich heimkam, lag sie im Bett und sprach am nächsten Tag kein Wort mit mir.

„Entschuldige, ich hatte vergessen, dass wir heute Gäste haben.“ Sie sehe in ihrem roten Kleid wunderschön aus, fügte ich hinzu.

„Ich habe mehrmals angerufen. Dir auf die Mailbox gesprochen.“

„Ich kann noch schnell Nachschub holen, wenn es nicht zu spät ist …“

„Natürlich ist es zu spät. Dante hat ein paar Flaschen mitgebracht. Und wer ist dieser Typ? Irgendwie kommt er mir bekannt vor.“

„Er heißt Mark. Er war schon mal bei uns.“

„Was macht er hier?“

„Er braucht einen Platz zum Schlafen.“

„Zum Schlafen?“

„Ja. Ich erklär’s dir später.“

„Du kannst es mir jetzt erklären.“

„Zu kompliziert. Später.“

„Trink bitte nicht so viel“, sagte sie und verließ die Küche. Ich leerte das zweite Glas, diesmal langsam. Um mich den Gästen stellen zu können – so ungefähr das Allerletzte, wonach mir war –, benötigte ich einen Stimmungsaufheller und ein frisches Hemd. Als ich durch den Flur zum Schlafzimmer ging, sah ich, dass die Ateliertür offenstand. Auch dort waren Leute, ein Mann und eine Frau, die sich leise unterhielten. Ich blieb im Türrahmen stehen und räusperte mich. Im Dämmerlicht erkannte ich Manu und die Frau, deren Tochter ebenfalls anwesend war. Sie stand im Schatten einer Leinwand.

„Hallo“, sagte ich. Die drei drehten sich um und starrten mich schweigend an, als erwarteten sie einen Anschiss von mir. Die Frau stellte sich neben ihre Tochter.

„Ich wusste nicht, dass Sie hier drinnen sind“, ich hielt weiterhin den Blick auf Manu gerichtet. Alle starrten mich weiterhin schweigend an und als die Situation immer peinlicher wurde, meinte ich: „Ich bin gerade erst gekommen. Ich habe mich mit einem Freund getroffen.“ Sie sagten immer noch nichts und dann nahm die Frau die Tochter bei der Hand und drückte sich mit größtmöglichem Abstand an mir vorbei durch die Tür ins Wohnzimmer. Wieder sah ich Manu an, dann der Frau hinterher. „Ich weiß gar nicht, wie sie heißt.“

„Bernita.“

„Sie redet nicht viel, oder?“

„Sie ist schüchtern“, sagte er.

Ich betrat das Zimmer und stellte mich neben ihm vor eine der Leinwände. Insgesamt waren es sechs, der Größe nach geordnet, die größte, 150 × 130 cm, links und die kleinste, 60 × 50, rechts. Die Gemälde waren so aufgebaut, dass lediglich das Licht einer einzigen Lampe auf sie fiel. Manus Porträt, 150 × 130, erwiderte unseren Blick, nachdenklich, ein wenig müde, aber voller Würde, wie ein besiegter König inmitten seines zerstörten Palastes.

„Gut getroffen“, sagte ich.

Das nächste Porträt zeigte die Frau mit ihrem Kind. Ich sah die fertigen Gemälde zum ersten Mal. Gina verabscheute es, ihre Werke in halbfertigem Zustand zu zeigen, selbst mir. Die Frau saß da, auf ihrem Schoß schlief das Kind.

„Wie eine Pietà“, meinte Manu. Eine Frau, die ihr entkräftetes Kind hielt, trauerte, wie das nur eine Frau kann. Sie trug den voluminösen Wintermantel, betrachtete die in ihren Armen liegende Gestalt, das Licht umstrahlte ihren bedeckten Kopf wie ein Heiligenschein. Auf drei kleineren Leinwänden war das Kind allein skizziert – ich trat näher. Nein, es handelte sich nicht um dasselbe Kind. Es war ein weißes Kind, der Junge aus dem Heim für mutterlose Kinder, der über der Mauer hing und „Schokolade!“ rief. Und doch war es auf dem nächsten Bild nicht derselbe Junge. Es war ein eher exemplarisches Kindergesicht, ein Allerweltskind. Jedermanns Kind. Und das nächste war noch exemplarischer, geschlechtslos, weder schwarz noch weiß; deutlich zu sehen war jedoch ein geradezu anklagender Schmerz in seinen glänzenden Augen. Ich trat zurück und wandte mich an Manu. Was er wohl darüber dachte? Er hatte sich vorgebeugt, sein Gesicht dicht vor der Leinwand.

„So viel Traurigkeit“, sagte er. Als ich schwieg, fuhr er fort: „Aber das ist möglicherweise nur meine Interpretation.“

„Möchten Sie ein Bier? Ich ziehe mir rasch ein anderes Hemd an und dann bin ich bei Ihnen.“

Manu erzählte, er habe eine Tochter. Sie lebten in einem Flüchtlingsheim.

„Warum haben Sie sie nicht mitgebracht?“

„Sie hat heute Deutschunterricht.“

Ich versuchte, seinen Akzent zu erraten. „Kommen Sie aus dem Senegal?“

„Nein, aus Libyen. Mein Vater kam ursprünglich aus Nigeria.“

Mark saß mit einem Glas Wein in der Hand zwischen den zwei Frauen, die auf dem Balkon geraucht hatten, auf dem Sofa. Die eine hieß Ilse, sie war für die PR bei Zimmer verantwortlich, die andere hatte ich noch nie gesehen. Er schilderte den beiden sein Martyrium durch die Einwanderungsbeamten. Dante und Gina rückten näher und mittlerweile war Mark, dem die Aufmerksamkeit sichtlich gefiel, von einer kleinen Gruppe umringt. Er erzählte mit der für ihn typischen Prahlerei, gab der Geschichte einen humoristischen Anstrich, als wäre alles ein großer Spaß gewesen. Mir kam es vor, als hörte ich zum ersten Mal davon, als wäre ich nicht teilweise mit dabei gewesen und unwillkürlich musste ich seine Wandlungsfähigkeit bewundern. Die mir unbekannte Brünette im blauen Kleid, das nur bis zur Mitte der Oberschenkel reichte, lehnte sich zu Mark hinüber. „Also beantragen Sie jetzt Asyl? Das wäre doch das Einfachste für Sie, oder?“

„Mark ist Student“, sagte ich und trat näher.

„Ah so“, sie sah zu mir hoch. Sie wirkte wie Mitte vierzig. Eine Journalistin aus Frankfurt, wie ich später erfuhr. Sie hieß Anna. Wie Gina wohl an sie geraten war? Wahrscheinlich durch Ilse. Zimmer förderte und vernetzte seine Stipendiaten unermüdlich.

„Warum“, Mark wandte sich mit einem schelmischen Funkeln in den Augen an mich, „gehen Weiße immer davon aus, dass jede schwarze Person, die reist, ein Flüchtling ist?“

„Tun sie nicht“, sagte Anna. „Tue ich nicht“, verbesserte sie sich. „Schließlich kann ich nicht für jeden Weißen auf dem Globus sprechen.“

Ich klinkte mich aus und ging in die Küche, um mir Wein nachzuschenken; als ich zurückkam, waren die Frau und ihr Kind gegangen. Mir fiel Manu ins Auge, der mit einem Glas in der Hand etwas abseits in der Nähe der Tür stand. Er starrte die Gruppe an und als ich seinem Blick folgte, stellte ich fest, dass er Gina ansah, die sich mit Dante unterhielt. „Deine Frau ist extrem begabt“, sagte er.

„Komm doch zu uns“, meinte ich, „halt dich nicht so abseits.“

„Ich muss jetzt leider gehen. Es ist schon spät.“

Ich reichte ihm seinen Mantel und als ich mich wieder zu den anderen gesellte, fragte Anna Mark gerade, ob er in Berlin Rassismus erlebt habe, denn bestimmt sei Berlin doch die liberalste und offenste Stadt Europas, in der man die Menschen herzlich willkommen heiße. Mark lächelte unbeeindruckt. „Mir gefällt’s hier. Sogar in Berlin sehne ich mich nach Berlin.“

„Hahaha“, Anna lachte entzückt. Ihr Lachen war erstaunlich laut. „Das gefällt mir. Darf ich Sie zitieren?“

Mark hob die Hand, sein Gesicht war weingerötet. „Bevor Sie mich zitieren, möchte ich noch Folgendes sagen … mir ist auch aufgefallen, dass Frauen, wenn ich in der Nähe bin, unweigerlich ihre Taschen umklammern. Und zwar so.“ Er führte es vor. „Mit beiden Händen. Erst ist mir das gar nicht aufgefallen, aber dann war es so offensichtlich, dass ich es nicht übersehen konnte.“

Anna lachte, wirkte jetzt aber mehr auf der Hut. Gina warf mir einen Blick zu – Mark fiel in meinen Zuständigkeitsbereich. Er sorgte für Unbehagen bei ihren Gästen. Dante versuchte die Situation zu retten. „Aber was Rassismus betrifft, ist die Lage in Europa doch gut. Besser als in Amerika, oder? Ich bin öfter dort für Ausstellungen. Obama wird dort nicht respektiert und bestimmt, weil er schwarz ist.“

„Na ja, es ist nicht ideal, aber so schlimm auch wieder nicht“, sagte Gina. „Wir haben seit den Sechzigern, seit der Bürgerrechtsbewegung große Fortschritte gemacht.“ Sie sah mich an, aber ich hatte dem nichts hinzuzufügen.

„Was für Erfahrungen hast du als Afrikaner in Amerika gemacht?“, fragte Dante mich. Ich betrachtete seine modisch zerrissene Jeans, das blaue Hemd, aus dessen Ausschnitt die Brusthaare lugten und beschloss, ihn unsympathisch zu finden, lächelte aber und erzählte von meiner ersten Reise nach New York. In der Penn Station war ich auf einen Polizisten zugegangen, weil ich ihn nach dem Weg fragen wollte, wie man das überall auf der Welt eben so macht, und als ich näherkam, bemerkte ich, wie sich seine Hand langsam in Richtung der Waffe an seiner Taille bewegte. Ich war stehengeblieben und hatte mich umgesehen, bestimmt war da jemand hinter mir, dessentwegen er nach der Waffe greifen wollte, denn ich konnte ja nicht der Grund sein. Mittlerweile umklammerte er seine Waffe, aber ich fragte ihn trotzdem nach dem Weg, wenn auch mit zitternder Stimme, und er sah mich mit unbewegter Miene an und sagte: „Weitergehen.“ Als ich Gina die Geschichte vor langer Zeit erzählt hatte, war sie ausgerastet. Sie hatte die Polizei als rassistische Schweine beschimpft. Damals war sie hitzköpfig gewesen, in letzter Zeit war sie toleranter geworden, nahm weniger wahr, was um sie herum geschah, ihr Blick galt einzig ihrer Malerei.

7

„Wie lange bleibt er denn?“, fragte mich Gina, als die Gäste gegangen waren und Mark auf dem Wohnzimmersofa schnarchte.

„Ein, zwei Tage.“

„Wie konntest du das nur tun – ihn mitbringen, ohne mich vorher zu fragen? Wenn irgendwas schiefgeht …“

„Was soll denn schiefgehen?“, fragte ich und in dem Moment fiel mir der besorgte Gesichtsausdruck des Anwalts ein, als er mich fragte, ob ich Mark denn gut kennte. Ich verdrängte den Gedanken. „Meinst du, er zündet das Haus an oder bricht bei den Nachbarn ein? Also echt. Er wirkt vielleicht ein bisschen … aus dem Lot, aber er ist in Ordnung. Er braucht einfach einen Platz, wo er sich ein, zwei Tage berappeln kann.“

„Was hat er denn für Probleme?“

„Du hast ihn ja vorhin gehört. Er ist Student und seine Aufenthaltspapiere müssen in Ordnung gebracht werden. Ein Anwalt kümmert sich darum.“

In dieser Nacht bekam ich so gut wie keinen Schlaf, lauschte Ginas leisem Atem. Ich hätte sie gern nach dem Kind gefragt, das sie gemalt hatte, und wofür es stand, aber sie schlief bereits, weit von mir abgerückt, das Gesicht zur Wand gedreht. Schlaflos lag ich da, bis schließlich draußen die Vögel loszwitscherten. Ich machte das Fenster auf, streckte meinen Kopf hinaus und sog tief die Morgenluft ein. Ich bin immer erst richtig wach, wenn ich frische Morgenluft geschnuppert und die Vögel tirilieren höre – selbst im Winter. Das Laub färbte sich allmählich rot. Schon jetzt klang der Sommer aus. Als wir letzten Oktober herkamen, fiel bereits das bunte Laub. Ende Oktober hatte ich am Fenster gestanden und ein einsames Blatt betrachtet, das sich hartnäckig an seinen Ast klammerte, und gedacht, dies müsse das letzte Blatt in der ganzen Straße, der ganzen Stadt, ach was, der ganzen Welt sein, das noch am Baum hing und das genau vor meinem Fenster. Der Herbst ist meine liebste Jahreszeit; ein Augenblick des Dazwischen, weder Winter noch Sommer, und so kurz. Ich beobachtete gern, wie der Wind und die vorbeifahrenden Autos die Blätter wirbeln und kreisen ließen, sie wehten hoch und trudelten hinab, häufelten sich am Gehwegzaun auf. Ich beobachtete gern, wie die Kinder gegenüber mit dem Laub spielten, es zusammenrafften und einander über den Kopf regnen ließen. Sie fassten sich an den Händen und hüpften kreischend durch die rotbraungelben Blätter, beruhigt und aufgestachelt durch das Knirschen und Knacken unter ihren Füßen, und ihr helles Lachen stieg von der Straße hoch in die entlaubten Bäume, erschreckte die Vögel, stieg hoch zu den Balkons und Fenstern, die immer noch offen standen, dem nahenden Winter zum Trotz.

8

Mark war schon wach, saß auf dem Sofa und sah durch die offene Balkontür auf die Wipfel der Pappeln, die die Straße säumten. Er war bis zum Hals in eine Decke gewickelt und wie er so dasaß, ausnahmsweise fast reglos, wirkte er verletzlich, nahezu kindlich. Er hatte auf dem Balkon geraucht und der Geruch war ins Zimmer gewabert. Gina habe zu einer Veranstaltung müssen, teilte ich ihm mit.

„Ja, ich habe mitbekommen, wie sie gegangen ist“, erklärte er.

Sie hatte mir nicht erzählt, wohin sie ging. In letzter Zeit schien sie immer gerade dann zur Wohnungstür hereinzukommen, wenn ich ging oder zu gehen, wenn ich kam; sie wachte auf, wenn ich schlafen ging. Am Vortag hatten wir nebeneinander im Badezimmer gestanden, redeten aber nicht miteinander, weil jeder den Mund voller Zahnpasta hatte, starrten uns nur im Spiegel über dem Waschbecken an, ein kurzer Blickkontakt, dann beugte sie sich vor und spuckte ins Wasser, das schäumend in den Abfluss strudelte. Ich dachte oft an Gina in ihrem Atelier, die den ganzen Tag allein war, mit Farben und Strichen, Angst und Hoffnung kämpfte, dem Pinsel Formen abrang, Gliedmaßen, Gesichter, Haare, Augen, und manchmal zutiefst zweifelte, ob sie die ideale Form im Platon’schen Sinne, die sie vor ihrem geistigen Auge hatte, einfangen konnte. In unserer Berliner Anfangszeit schien sich alles zu fügen, aber jetzt hielt sie sich manchmal nur im Atelier auf, um mir aus dem Weg zu gehen, so wie ich mich meinerseits mit Mark und seinen Freunden traf, um ihr auszuweichen. Manchmal wenn sie aus dem Atelier kam und mich lesend oder fernsehend im Wohnzimmer vorfand, wirkte sie überrascht von meiner Anwesenheit, dass es mich gab und sie gab, Mann und Frau gemeinsam unter einem Dach. Ich hätte nicht sagen können, wann sich dieses Unbehagen eingeschlichen hatte. Ich wollte sie umarmen und schweigend gemeinsam dasitzen, wie wir das vor langer Zeit oft getan hatten, aber dazu wäre eine enorme Energie nötig gewesen und die hatte ich nicht. Stattdessen schlüpfte ich in meine Jacke und streifte durch die einsamen Seitenstraßen von Berlin. Nichts und Niemand ist so einsam, wie ein einsamer Fremder in einer fremden Stadt.

„Wie habt ihr euch kennengelernt?“, wollte Mark wissen.

„Vorher brauche ich einen Tee“, sagte ich. „Willst du auch einen?“

„Lieber Kaffee, wenn du welchen hast.“

„Kein Problem.“

Als ich mit den Tassen kam, hatte er sich aus der Decke geschält und war bereits angezogen. Ich hatte Gina im März 2007 bei einer Wahlkampfveranstaltung Obamas an der American University in Washington kennengelernt. Obama hatte kurz zuvor seine Präsidentschaftskandidatur verkündet und Gina war eine seiner Wahlkampfhelferinnen. Irgendwann stand sie neben mir, umringt von ihren Freunden, die ebenfalls alle in Obamas Wahlkampfteam waren und entsprechende Buttons trugen. Noch nie hatte ich jemanden gesehen, der so schön war. Zweimal trafen sich unsere Blicke und ich spürte, dass auch ich ihr aufgefallen war – ich bekam kaum ein Wort des Kandidaten mit, war viel zu beschäftigt mir eine Strategie auszudenken, wie ich sie ansprechen könnte, aber noch ehe ich meinen Mut zusammenraffen konnte, waren sie weg, wurden dem Kandidaten vorgestellt.

„Was hast du in den USA gemacht?“

„Ich bin 2006 mit einem Stipendium rüber – ich habe dort meine Dissertation geschrieben. Wie es das Schicksal wollte, studierte sie ebenfalls Geschichte. Eine Woche darauf traf ich sie in der Bibliothek und diesmal gab es kein Halten mehr für mich. Als ich erwähnte, ich sei aus Nigeria, erzählte sie, ihr Vater sei Fulbright-Stipendiat in Nigeria gewesen. Und so fing es an. Jetzt du“, sagte ich.

„Was willst du wissen?“

„Erzähl mir von Malawi. Hast du Geschwister?“

„Ja. Zwei von jeder Sorte, ich bin das Sandwichkind.“ Er klang ernst, der leichtfertige, schwer fassbare Mark war für einen Moment lang verschwunden.

„Erzähl mir von ihnen, von deiner Familie.“

„Ich … mein Vater und ich waren selten einer Meinung. Habe ich schon erwähnt, dass er Pfarrer war?“

„Ja. Welche Glaubensgemeinschaft?“

„Seine Pfarrei gehörte zur Pfingstbewegung, eine der wenigen in Lilongwe. Als ich kleiner war, hat er mich ermuntert, bei der Kirchentheatergruppe mitzumachen. Ich habe es geliebt, hatte schon früh eine Neigung dazu. Wir spielten hauptsächlich biblische Geschichten nach. Ich liebte es, auf der Bühne zu stehen, liebte die Macht, die Gemeinde mit meiner Tollpatschigkeit, mit Worten und Gesten zum Lachen oder zum Weinen zu bringen. Ich spielte immer die Hauptrolle. Einmal war ich der Verlorene Sohn, der ausgestoßen wurde und mit den Schweinen aß und bei der Heimkehr von seinem Vater mit offenen Armen aufgenommen wurde, dann wieder war ich Josef, den seine Brüder in den Brunnen geworfen hatten. Ich kann verstehen, warum Schauspieler manchmal schizophren werden. Man geht so leicht in der Rolle auf und sich davon zu lösen, ist problematisch. Ich war jeweils felsenfest davon überzeugt, dass ich diese Person war. Wahrscheinlich bin ich schon damals vor etwas geflüchtet, wovor, weiß ich nicht. Meine Kindheit, das war nur die Kirche, keinerlei andere Interessen. Während meine Freunde draußen herumstromerten, Sport trieben und andere Hobbys entdeckten, blieb ich in der Kirche, immer unter dem wachsamen Auge meines Vaters. Mehr gab es in meiner Kindheit nicht. Als ich mit der weiterführenden Schule fertig war, wollte ich natürlich Schauspiel studieren, aber das kam für meinen Vater nicht in Frage.“

„Warum?“

Mark zog aus seiner Jackentasche eine Zigarettenschachtel heraus. Wir stellten uns auf den Balkon und rauchten. „Schauspieler in der Kirche zu sein, war okay, aber außerhalb nicht. Schauspieler sein heiße, eine Lüge zu leben, behauptete er. Mit der Vorspiegelung falscher Tatsachen sein Geld zu verdienen. Gottlos, nannte er es. Aber mit Hilfe meiner Mutter gelang es mir doch. Ich lud die gesamte Familie zu meinem ersten Auftritt ein. Ich spielte die Hauptrolle in Sizwe Bansi ist tot von Athol Fugard. Da war ich neunzehn. Ich hatte mich enorm ins Rollenstudium reingekniet, damit ich den passenden Tonfall, die entsprechenden Bewegungen fand. Aber trotzdem konnte ich, sogar von der Bühne aus, die Enttäuschung im Gesicht meines Vaters sehen.“

„Was genau hat ihm denn missfallen?“, fragte ich.

Mark nahm einen tiefen Zug, lehnte sich dann über die Balkonbrüstung und schnipste die Kippe weg. „Er meinte, es bringe Schande über die Kirche. Es sei zu weltlich. Dazu muss man wissen, dass mein Vater für die Kirche, für die Bibel lebte, das war sein gesamter Lebensinhalt. Ich war dermaßen enttäuscht, dass ich nicht mehr nach Hause fuhr. Während der Semesterferien wohnte ich bei Freunden und wir spielten in kleinen Theatern, in Nachtclubs und auf der Straße und verdienten genug für unseren Unterhalt. Es machte Spaß. Meine Mutter besuchte mich und flehte, ich solle heimkommen. Ich weigerte mich. Nach Abschluss des Studiums ging ich zu Onkel Stanley, dem jüngsten Bruder meines Vaters, nach Südafrika. Er unterrichtet an der Uni und ist das genaue Gegenteil meines Vaters. Ich bin nie wieder nach Hause gegangen. Er war derjenige, der vorschlug, ich solle ins Ausland gehen und dort weiterstudieren. Er hat mich mit seinem Freund am Goethe-Institut in Johannesburg verdrahtet. Ich schrieb mich dort für einen Deutschkurs ein und bewarb mich für ein Stipendium, damit ich hier weiterstudieren konnte. Eins ergab einfach das andere.“

„Hast du je daran gedacht, zurückzugehen?“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf, zuckte die Achseln. „Hin und wieder. Meine Mutter fehlt mir. Und mein Onkel und seine Frau, deren Kinder, meine Geschwister. Aber ich und Rückkehr – eher nicht. Zumindest nicht in nächster Zeit.“

Ich wollte auf das, was der Anwalt gesagt hatte zu sprechen kommen, doch zu meiner Überraschung sagte Mark, er müsse jetzt gehen.

„Wie, du gehst jetzt?“

„Schau mal, ich bin mir nicht sicher, ob deine Frau es so gut findet, dass ich hier bin. Ich habe das schon letzte Nacht gemerkt. Und heute früh hat sie nicht mal auf mein Guten Morgen reagiert.“

Ich entschuldigte mich. „Aber du musst wirklich nicht gehen. Gina ist momentan einfach nur mit den Gedanken woanders …“

„Schon gut“, sagte er. „Ehrlich. Ich weiß zu schätzen, was du alles für mich getan hast.“

Ich kam mir wie Judas vor, als ich Mark zur Bushaltestelle begleitete, war aber gleichzeitig auch erleichtert, ein Gefühl, das ich zu unterdrücken versuchte. Er meinte, er könne bei Freunden unterkommen und wenn das nicht klappe, gebe es immer noch das Flüchtlingsheim. Ich umarmte ihn, eine Judasumarmung, und sah ihm nach, wie er durch eine Verkehrslücke rannte, wobei der Wind seine alberne Jacke hochwehte. Während der letzten Wochen hatte er abgenommen. Er erwischte den M400-Bus und als dieser losfuhr, sah ich Mark am Fester des Oberdecks winken. Mit bleierner Hand winkte ich zurück und schleppte mich schweren Herzens nach Hause. Alles veränderte sich. Das Laub an den Bäumen, die Kleider in den Schaufenstern. In der Luft lag eine fast kaum wahrnehmbare Kühle. Ich dachte an zu Hause und den Harmattan im November, der mich fast immer krank gemacht hatte, meine Mutter meinte, das sei, weil mein Körper auf den Wechsel der Jahreszeiten reagiere. Unsere Körper wollten, träge wie sie seien, immer am Gewohnten festhalten. Ich hatte mit meiner Mutter schon länger nicht mehr telefoniert. In meiner Anfangszeit in Amerika rief ich sie jeden Sonntag an, verplauderte Fünf-Dollar-Telefonkarten, der Hörer wurde an meinen Vater weitergereicht, an meine Schwester und beide Brüder. Eigentlich sollte ich nach meiner Dissertation heimkehren, doch dann traf ich Gina und aus Tagen wurden Monate, aus Monaten Jahre und dann hörte ich auf, daheim anzurufen. Bei meinem letzten Anruf vor einem Jahr, hörte sich meine Mutter derart distanziert an, als würde sie mit einem Unbekannten übers Wetter reden. Ich reichte den Hörer an Gina weiter, aber meine Mutter hatte Probleme, Ginas amerikanischen Akzent zu verstehen, daher dauerte der Anruf nur wenige Minuten. Ich dachte daran, wie es gewesen war, bevor Gina schwanger wurde. Abends saßen wir oft auf dem Balkon, tranken Weißwein und beobachteten den leeren Parkplatz auf der anderen Straßenseite, die Kinder, die auf ihren Skateboards über den Asphalt tretrollerten, den Gehweg entlangdonnerten, mit den an ihren Schuhsohlen festklebenden Brettern hoch in die Luft sprangen, jedes erfolgreiche Kunststückchen mit einem High-five feierten. Ich war so gedankenversunken, dass ich in eine Frau hineinrannte, die eine Schaufensterauslage betrachtete, kurz darauf in einen Mann. Ich war zum ersten Mal in dieser Straße, kannte weder die Namen der Läden noch eventuelle Sehenswürdigkeiten. Der Mann war hochgewachsen und trug eine modische Lederjacke. Er fasste mich am Ellbogen und rüttelte mich aus meiner Tagträumerei. „He, pass auf!“ Ich nickte und ging weiter.

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