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1.2.3 Die philosophische Reduktion auf Selbstspiegelung (Ludwig Feuerbach)

Ludwig Feuerbach (1804–1872) trat der Religion nicht von außen entgegen, sondern hatte in Heidelberg und Berlin Religion und Theologie studiert, in Berlin wurde er beeinflusst vom Philosophen Hegel, von dessen idealistischer Gleichsetzung der christlichen Religion mit der wahren Philosophie er sich wieder distanzierte. An Luther und der zeitgenössischen Theologie glaubte er feststellen zu können, dass diese sich längst als Anthropologie verstehe und dass die Gläubigen sich im Gott ihrer Religion nur selbst wie in einem Spiegel ansähen und ihr eigenes menschliches Wesen reflektierten. Gott ist das vergegenständlichte und vergöttlichte Wesen des Menschen als Gattung. Diese These ist bereits in den ersten Sätzen seines Hauptwerkes »Das Wesen des Christentums« (1841) angelegt: »Die Religion beruht auf dem wesentlichen Unterschiede des Menschen zum Tiere – die Tiere haben keine Religion … Was ist aber dieser wesentliche Unterschied? … das Bewusstsein … Das Wesen des Menschen im Unterschied vom Tiere ist nicht nur der Grund, sondern auch der Gegenstand der Religion.« (Feuerbach, I,35f) So ist der Mensch der Anfang der Religion, deren Mittelpunkt und auch deren Ende. Den Gottesglauben, den er mit Religion identifiziert, sieht Feuerbach im selbstischen Kreisen des Menschen um sich selbst angelegt. Im Gefühl der unentrinnbaren Abhängigkeit von |18| der bewusstlosen Natur macht er das zu seinem anbetungswürdigen Gott, was er selbst nicht ist, aber zu sein wünscht, nämlich: Herr der Lage. Feuerbach war überzeugt, dass mit dem Mechanismus der religiösen Selbstspiegelung alle Religion als Illusion aufgedeckt und die atheistische Philosophie der Zukunft gefunden sei.

1.2.4 Die soziologische Reduktion auf ein Machtinstrument der Herrschenden (Karl Marx)

Karl Marx (1818–1883) war Zeitgenosse Feuerbachs. Sein philosophisches Profil fand er in der Auseinandersetzung mit Hegel und Feuerbach. Von Feuerbach übernahm er den Atheismus und die Einschätzung der Religion als ein illusionäres Machwerk des Menschen. Hatte Feuerbach das Wesen der Religion auf das Wesen des Menschen reduziert, so reduzierte Marx das Wesen des Menschen noch enger auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen es hervorging. In seinen »Thesen über Feuerbach« (1845) stellte er fest: »Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber dieses menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« (These 6) Das, was man als »religiöses Gemüt« bezeichne, sei selbst ein gesellschaftliches Produkt (Marx 1845, These 7). Marx interessierten weder die Inhalte der Religion noch die Frage nach deren Wesen und Wahrheit, sondern lediglich ihre Wirklichkeit als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse. Darunter verstand er vor allem die ökonomischen Verhältnisse, da das Bewusstsein der Menschen durch ihre gemeinsame Arbeit als wirtschaftende Wesen gebildet werde. In den Arbeitsverhältnissen, in denen das Produkt der Arbeit zu einer dem Arbeitenden entfremdeten Ware wird, entfremde sich auch der Mensch vom Menschen. Diese ökonomischen Verhältnisse dienten dem Vorteil bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Die Religion, deren Priester mit den Herrschenden zusammenarbeiteten, habe |19| den Zweck, die bestehenden Verhältnisse stabil zu halten, zu legitimieren und zu rechtfertigen. Während Feuerbach noch dachte, dass sich mit der Aufdeckung ihres illusionären Charakters die Religion selbst auflösen werde, forderte Marx mindestens indirekt den Kampf gegen die Religion als »Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist« (Marx 1844, 1,378). Die Religionskritik allein genügte Marx nicht. Seiner Forderung gemäß, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern zu verändern, gelte es, gegen jene Verhältnisse aktiv vorzugehen, die Religion als »Opium des Volkes« hervorbrächten, förderten oder stützten. Der Befreiungskampf des Proletariats werde zu dieser freien Welt führen.

Auf der Basis der Thesen von Feuerbach und Marx hat Friedrich Engels (1820–1895) den Kampf gegen die Herrschenden als jener fremden und entfremdenden Macht propagiert, mit deren Verschwinden auch die Religion verlöschen sollte. Die kirchen- und religionsfeindliche Marx-Engels-Ideologie ist in Deutschland lange präsent geblieben. Sie wurde zwischen den Weltkriegen von deutschen Sozialisten sehr offensiv praktiziert und bewirkte zwischen 1920 und 1930 eine beachtliche Kirchenaustrittsbewegung. Die deutschen Sozialdemokraten lösten sich erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in ihrem Programm von den religionsfeindlichen Ideologie-Elementen.

1.2.5 Die naturwissenschaftliche Reduktion auf Messbares

Als Napoleon den französischen Astronom und Physiker Pierre Laplace (1749–1827) fragte, wo in seinem Weltsystem Gott zu finden sei, antwortete dieser: »Ich habe diese Hypothese nicht gebraucht.« Damit sagte er für einen Naturwissenschaftler seiner Zeit nichts Neues. Er fasste aber auf sehr einfache Weise zusammen, was Astronomen wie Nikolaus Kopernikus (1473–1543), Giordano Bruno (1548–1600), Johannes Keppler (1571–1630) und Isaak Newton (1642–1726) und andere Naturforscher seit Jahrhunderten taten, nämlich die Gesetzmäßigkeiten zu erforschen, |20| nach denen sich die Abläufe im Weltganzen wie im Kleinen berechnen und erklären lassen.

Zunächst war man noch überzeugt, dass das Anfangsereignis auf einen Impuls Gottes als dem Urgrund der Welt zurückzuführen sei. Aus dieser Vorstellung entwickelte sich im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich und England das Konzept des Deismus. Danach hat Gott die Welt samt den Bedingungen und den Gesetzmäßigkeiten ihres Existierens geschaffen, er greift aber nach dem Schöpfungsprozess in den Lauf der Dinge nicht mehr ein. Im Horizont dieses Denkens wird Religion auf jene Inhalte reduziert, die der menschlichen Vernunft einleuchtend sind und die sie aus sich selbst haben kann.

Das religiöse Relikt des Deismus, nämlich der Schöpfergott, wurde aber bereits im 18. Jahrhundert von der naturwissenschaftlichen Forschung ganz ausgeschieden. Mit der Inthronisation der »Göttin der Vernunft« am 10. November 1793 auf dem Hochaltar von Notre Dame in Paris glaubte man alles Übernatürliche, alle Offenbarungsreligion und alle Metaphysik endgültig abgeschüttelt zu haben. Naturwissenschaft und konsequenter Atheismus schienen identisch zu sein. Diese Gleichung wird in der Popularliteratur bis heute verbreitet.

Die sich als konsequent atheistisch verstehende Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts fand seine prägnante Stimme in der Person des Jenaer Zoologen Ernst Haeckel, der mit seinem allgemein verständlichen Buch »Die Welträtsel« (1899) nicht nur die Naturwissenschaftler mehrerer Generationen, sondern die Gebildeten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt hat. Im Nachwort zur 10. Auflage bezeichnet er sein Buch als ein »Glaubensbekenntnis der reinen Vernunft« (511). Er singt das Hohelied auf das »Grundgesetz des Weltmechanismus«. Danach »sind die sämtlichen anorganischen Naturwissenschaften rein mechanisch und damit zugleich rein atheistisch geworden« (331). Haeckel war noch fest davon überzeugt, dass die Naturwissenschaft die Gegenstände ihrer Forschung ihrer |21| Natur gemäß erfasst. Er konnte um die Jahrhundertwende noch nicht ahnen, dass Albert Einstein, Max Planck, Max Born, Werner Heisenberg, Erwin Schrödinger und andere Naturwissenschaftler die von Haeckel noch so sicher proklamierten Vorstellungen von Kausalität, Raum, Zeit, Materie, Energie, Atomen und Naturgesetzen überholen und auch sein Verständnis von der Leistung unserer Vernunft neu und anders bewerten würden. Haeckel gründete 1906 den Deutschen Monistenbund, der auf der Basis des Glaubens an die Alleingeltung der Materie das dogmatische Christentum »durch die monistische Philosophie ersetzen« (427) sollte. Diese »vernünftige Religion« hat sich freilich bereits nach dem Ersten Weltkrieg wieder aufgelöst, und zwar zusammen mit dem naiven Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts, den Haeckel in seiner Philosophie auch als Darwinist so selbstbewusst vertreten hatte. In gebildeten Kreisen klang noch lange das Goethe-Motto nach, das Haeckel seinen monistischen Studien über die Religion der Vernunft vorangestellt hatte:

«Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,

der hat auch Religion!

Wer diese beiden nicht besitzt,

der habe Religion!« (418)

1.2.6 Die Reduktion als ermöglichender Grund jeder Hypothesenbildung

Aus dem generellen Reduktionismus von Religion auf die jeweilige Perspektive und den Horizont der einzelnen naturwissenschaftlichen Disziplinen ergeben sich entsprechend unterschiedliche Religionsverständnisse. Die methodische Reduktion ist den Naturwissenschaften nicht vorzuwerfen. Sie ist Wesensbestandteil ihres Selbstverständnisses. Der Philosoph Günther Pöltner klärt das Verhältnis von naturwissenschaftlichen Aussagen und Reduktion so: »Die Naturwissenschaft hat es von vornherein mit |22| einem ihrer Fragehinsicht und -absicht entsprechenden thematisch reduzierten Gegenstand … zu tun. Diese bewusste Ausblendung einer Reihe von Dimensionen des Vorgegebenen macht eine Naturwissenschaft überhaupt erst möglich. Das Objekt der Naturwissenschaft liegt nicht einfach fertig vor, sondern ist das Resultat einer methodischen Reduktion. Durch sie wird von vornherein festgelegt, was an der vorgegebenen Natur zum wissenschaftlichen Gegenstand werden kann und was nicht, was als wissenschaftliche Erfahrung (= Experiment) und was als wissenschaftliches Wissen gelten kann und was nicht, und wie dieses zu begründen ist. Die Reduktion steht am Anfang der Naturwissenschaft, … liegt der gesamten Schrittfolge als deren Ermöglichung zugrunde. Sie ist keine naturwissenschaftliche Hypothese, sondern der ermöglichende Grund jeglicher Hypothesenbildung. … Die bewusste Selbstbindung an die einschränkende Fragehinsicht und an einen dementsprechend eingeschränkten Wissensbegriff macht das Methodische der Fachwissenschaft aus.« (Pöltner 14)

Gegen eine Untersuchung religiöser Phänomene aus der Perspektive und mit den Methoden einer Fachwissenschaft ist nichts einzuwenden. Zu kritisieren ist nur die Meinung, man hätte mit den Ergebnissen einer naturwissenschaftlichen Methode das Wesen der Religion erfasst. Es ist z. B. nachweisbar, dass durch Mozart-Musik im Kuhstall die Milchproduktion gesteigert wird. Nur, die zutreffende Feststellung dieser Wirkung von Kuhstallbeschallung sagt über die Musik Mozarts selbst nichts aus. Die von einer naturwissenschaftlichen Methode erfasste Realität ist nur die von dieser Methode zugelassene Realität und sie ist beileibe nicht die einzige und maßgebliche Realität eines Phänomens. An einigen Beispielen sollen fachwissenschaftliche Reduktionen aufgedeckt werden, weil sie im Bewusstsein vieler Zeitgenossen als wissenschaftliche Wahrheiten im Umlauf sind. |23|

1.2.7 Die darwinistische Reduktion auf evolutionären Vorteil

Bereits im 18. Jahrhundert hatten Naturforscher die Vermutung geäußert, dass Tierarten sich verändern und auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen könnten. Charles Darwin (1802–1882) hat mit seinen Beobachtungen an den Vogelarten auf den Galapagos-Inseln dafür erstmalig den Beweis erbracht. Erst zwei Jahrzehnte später hat er daraus den Schluss gezogen, dass die Triebkraft dieser Veränderungen in der natürlichen Auslese zu suchen sei. Damit hatte er an die belebte Natur die gleichen Maßstäbe und Methoden der Erklärung angelegt, die in der Astronomie bereits üblich waren, nämlich das Bestehende und seine Veränderungen nicht durch göttliche Eingriffe zu erklären, sondern durch das Wirken und Zusammenspiel der Gesetze, die in der Natur walten. Die kausalen Mechanismen der natürlichen Auslese wurden inzwischen durch die Kenntnis der genetischen Mechanismen ergänzt und zu einer umfassenden Evolutionstheorie ausgebaut. Aus der Sicht eines mechanistischen Evolutionsverständnisses ist auch die Religion als ein Phänomen zu verstehen, das sich herausgebildet hat, weil es für das Überleben der Gattung Mensch von Vorteil war. Auf der Suche nach dem Sinn oder Unsinn von Vorteilen eröffnet sich Darwinisten ein weites Betätigungsfeld für die Phantasie.

Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins hat in seiner Kampfschrift »Der Gotteswahn« (2006) das Wesen der Religion dadurch zu erklären versucht, dass er ganz im Sinne der Evolutionstheorie nach dem Vorteil und dem Nutzen fragte, den die religiösen Phänomene dem Individuum oder der Gruppe gebracht haben oder bringen. Religion definiert er als die Gestalt »jener zeitaufwendigen, Wohlstand verschlingenden, Feindseligkeiten provozierenden Rituale, jener tatsachenfeindlichen kontraproduktiven Fantasien« (Dawkins 230), die in keiner Kultur fehlen. Da er für einen nach seiner Einschätzung derart offensichtlichen Unsinn keinen Vorteil erkennen kann, der das bisherige Überleben von Religion begründet, muss er für seine »letztgültigen |24| darwinistischen Erklärungen« (234) sehr weite Umwege gehen, um etwas Theoriekonformes zu entdecken. So stellt er sich an die Spitze jener Biologen, »die in der Religion ein Nebenprodukt von etwas anderem sehen« (239). Was er unter einem »Nebenprodukt« versteht, veranschaulicht er an den Motten, die nachts in ein Kerzenlicht fliegen, was weder für das Individuum noch für die Art ein Vorteil sein kann. Dawkins erklärt, dass sich Motten an den Lichtstrahlen des Mondes orientieren. Da die Kerzenflamme (eine für Motten ganz neue Erscheinung) aber im Unterschied zum Mond keine parallelen Strahlen, sondern Strahlen wie die Speichen eines Rades aussendet, versagt das am Mond orientierte Steuerungssystem und leitet das Tier in die tödliche Flamme. Das führt Dawkins zu der Vermutung, dass auch religiöses Verhalten ein Fehlverhalten sein könnte, nämlich »ein unglückliches Nebenprodukt einer grundlegenden psychologischen Neigung, die unter Umständen nützlich sein kann oder früher einmal nützlich war« (242). Die natürliche Selektion hat also nicht religiöses Verhalten als solches begünstigt, sondern hatte einen ganz »anderen Nutzeffekt, der sich nur nebenher zufällig als religiöses Verhalten manifestiert« (242). Diesen Nutzeffekt demonstriert er an Kindern. Denen sagen die Eltern: »Geh nicht so nah an die Klippe, geh nicht in ein Gewässer, in dem Krokodile schwimmen, iss nicht unbesehen rote Beeren.« usw. Vorteilhafter als die vielen Einzelwarnungen sei aber die Faustregel: »Glaube alles, was die Erwachsenen dir sagen, ohne weiter nachzufragen. Gehorche deinen Eltern, den Stammesältesten, ohne Fragen zu stellen.« (243) Und daraus zieht Dawkins im Blick auf die Religion den Schluss: »Wie bei den Motten kann auch hier etwas schiefgehen.« (243) Der ursprüngliche Nutzeffekt hat sich als Fehlfunktion erwiesen. Freilich hält Dawkins seine eigene Hypothese nicht für besonders tragfähig, denn er schiebt gleich noch weitere Argumente psychologischer und genetischer Art nach, z. B. etwas Analoges zur »Gendrift«, mit der man in jüngster Zeit auch die Evolutionstheorie ergänzt |25| hat. Offensichtlich stellt sich Dawkins seine Leser, die ihm seine Spekulationen als Wissenschaft abnehmen sollen, als noch anspruchsloser vor, als jenen homo religiosus, an dessen Standbild, das er selbst erbaut hat, er sich in unermüdlichem missionarischen Eifer weiterhin abarbeiten muss.

1.2.8 Die psychologische Reduktion auf eine kollektive Zwangsneurose (Sigmund Freud)

Sigmund Freud (1856–1939) betrachtete seine psychoanalytische Arbeit als Naturwissenschaft. Religion verstand er im Deutungshorizont von Darwin, Schopenhauer, Feuerbach und Marx. Darwins Hypothese, nach der die Menschen im Urzustand in kleinen Horden lebten, in der das dominante Männchen alle Frauen für sich beanspruchte, ergänzte er durch die Hypothese, dass die verdrängten Brüder sich schließlich zusammentaten, den Vater der Horde erschlugen, ihn verspeisten und so der Vaterhorde ein Ende machten. Aber dieser Mord schaffte ein Schuldbewusstsein. So wählten sie sich ein Totemtier als Vaterersatz und wiederholten fortan an diesem Totemtier den Vatermord, verstanden aber das Opfer dieses Tieres als Sühne für die Urschuld der Tötung des göttlichen Vaters. Der Totemismus gilt Freud als die älteste Erscheinungsform der Religion und alle Religionen gelten ihm als Versuche, das Problem des Vatermordes zu lösen.

Diese phantasievolle These aus seinem Buch »Totem und Tabu« (1913) erweiterte er später durch den Gedanken, dass jener Urvater das Urbild Gottes darstellt. Den biologischen Grund für Religion sah Freud in der Angst und in den Schuldgefühlen des hilflosen Kindes gegenüber dem übermächtigen Vater. In der Religion werde dieser »psychische Infantilismus« in organisierter Form festgeschrieben. Das hindere den Menschen daran, die Realität wahrzunehmen und erwachsen zu werden. So stellte sich ihm Religion als Illusion mit Anzeichen einer psychiatrischen Wahnidee dar, die er als eine allgemein menschliche und |26| universale Zwangsneurose charakterisierte. In seinen therapeutischen Maßnahmen und in einer entsprechenden Erziehung sah er die Möglichkeit, den Einzelnen von seinen persönlichen neurotischen Entwicklungsstörungen und die Gesellschaft von ihrer kollektiven religiösen Zwangsneurose zu befreien. Angesichts dieser blühenden Phantasie für die menschliche Urgeschichte, die sich als Wissenschaft ausgab, verwundert es nicht, wenn bereits der Satiriker Karl Kraus, der scharfzüngige Wiener Zeitgenosse Freuds, dessen psychoanalytisches Abenteuer als jene Krankheit diagnostiziert, die zu heilen sie verspricht.

1.2.9 Die neurologische Reduktion auf Hirnprozesse

Da Religion ein Bewusstseinsphänomen ist und jedem Bewusstsein Hirnprozesse zugrunde liegen, sehen sich in neuerer Zeit vor allem die Neurowissenschaftler in das Gespräch über Religion einbezogen. Weil auch hier die Absicht des Forschers und das, was er zum Thema Religion beweisen möchte, für die Anlage des Experiments und für die Argumentation bestimmend sind, sind unterschiedliche Richtungen neurologischer Deutung von Religion zu erwarten.

Jene, die Religion für eine überlebte Erscheinung halten, äußern sich zum Thema nur ausweichend und vage. Der Hirnforscher Wolf Singer, Mitglied der Päpstlichen Akademie der Wissenschaft, ließ sich auf die Frage, wo Religion im neurologischen Denkmodell ihren Platz habe, gerade so viel entlocken: In dem Maße, in dem wir das unmittelbar Erfahrbare aus sich selbst erklären können, »müsse sich Religion auf immer abstraktere, unanschaulichere Territorien zurückziehen« (Singer 92). Oder: »Religion muss sich jenseits der Grenze des Konkreten verorten.« (93) Das heißt, mit zunehmender wissenschaftlicher Erkenntnis verliert Religion ihren Boden.

In den Vereinigten Staaten gingen viele Neurowissenschaftler in ihren Experimenten von der Vorgabe aus, dass sich Religion durch die neuen bildgebenden Verfahren als Realität erweisen |27| lasse. Sie gingen außerdem davon aus, dass das Zentrum der Religion der Gottesglaube sei, (was von der Religionswissenschaft nicht bestätigt werden kann). So wählten sie für ihre Experimente aus den vielen Erscheinungsformen von Religion jenes Phänomen aus, für dessen Erforschung sie das methodische Instrumentarium zu haben glaubten: »das mystische Erlebnis«. Mystische Erlebnisse haben die Gestalt von Visionen, Lichterscheinungen, Auditionen, außerkörperlichen Erfahrungen, oft verbunden mit der Entgrenzung des Ichs und seiner Verschmelzung mit einer höheren Realität des Weltganzen, das als »ozeanisches Gefühl« geschildert wird. Da mystische Erlebnisse bei bestimmten Meditationsformen und bei Epilepsie-Anfällen anzutreffen sind, konzentrierte man sich besonders auf deren Erforschung, zumal die Verbindung zu den epileptischen Ereignissen, die von der Medizin auch bei Paulus, Mohammed, der Jungfrau von Orléans, Theresa von Avila u. a. angenommen werden, die religiöse Dimension zu gewährleisten schien. Mit den Daten des Elektroencephalogramms war festzustellen, dass bei diesen mystischen Erlebnissen das Hirnareal, das für die räumliche Orientierung zuständig ist, unterversorgt war. Der gleiche Mangel an Sauerstoff führt auch bei Höhenkrankheit, bei Ertrinkenden und Verschütteten zu dem Gefühl, in einer raum- und zeitlosen Unendlichkeit aufzugehen oder mit ihr verbunden zu sein.

Andrew Newberg, einer der führenden Neurologen dieser Forschergruppe, ist »der Überzeugung, dass wir den Beweis für einen neurologischen Prozess erbracht hatten, der es uns Menschen ermöglicht, die materielle Existenz zu transzendieren und mit einem tieferen, geistigen Teil von uns selbst in Verbindung zu treten, der als absolute, universelle Realität wahrgenommen wird, die uns mit allem Seienden vereint« (Newberg 19). Diese Forschergruppe hält ihre Ergebnisse für einen neurologischen Gottesbeweis. Sowohl die meditierenden katholischen Nonnen wie die buddhistischen Mönche berichteten von Einheitserlebnissen. |28| Nur, während sich das Ich der Franziskanerinnen mit dem persönlichen Gott des dogmatischen Christentums vereinigte, tauchte dieses personale Element bei den buddhistischen Mönchen gerade nicht auf, denn diese erinnerten sich nur an eine Allverbundenheit. Das Einheits-Erlebnis, das bei allen durch eine reduzierte Aktivität des Orientierungszentrums ausgelöst war, wird inhaltlich offensichtlich durch den religiösen Hintergrund der Meditierenden eingefärbt und gedeutet.

Die Neurologen, die ausgezogen sind, um ein Gottesmodul oder Gottesareal im Gehirn zu finden, wie auch jene Biologen, die ein Gottesgen zu entdecken dachten, haben mit ihren Mühen nicht mehr »bewiesen«, als sie bei ihren Experimenten bereits vorausgesetzt haben. Aus zirkulären Argumentationsgängen ist keine Erkenntnis zu erschließen. Deshalb sagen diese Experimente mit ihrer Reduktion von Religion auf die Erscheinungsform von mystischen Erlebnissen weder etwas über Religion noch etwas über eine religiöse Anlage des Menschen. Das Wort »Neurotheologie«, das für diese Forschungen in Anspruch genommen wird, verdankt sich schlichten Kategoriefehlern und erweist sich als irreführender Etikettenschwindel.

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