Читать книгу: «Vernehmungen», страница 5

Шрифт:

1.7.1.3.3Disziplinarverfahren im Strafvollzug

81Werden gegen Insassen einer JVA Disziplinarverfahren geführt, erfolgt regelmäßig eine Vernehmung durch Beamte des Strafvollzuges, in deren Verlauf die Betroffenen die Vorwürfe möglicherweise einräumen. Im daraufhin eingeleiteten Strafverfahren sind – so das LG Detmold – bei einem entsprechenden Widerspruch des Angeklagten dessen ursprüngliche Angaben nicht verwertbar, da die besondere Drucksituation in der JVA und die fehlende Belehrung über das Auskunftsverweigerungsrecht im Rahmen des Disziplinarverfahrens zu einem Beweisverwertungsverbot führen.35

1.7.1.4 Falschangaben bei Verkehrsdelikten

82Ein Fahrverbot und/oder der Fahrerlaubnisentzug nebst Sperrfrist beeinträchtigen den Beschuldigten in seiner Lebensführung und treffen ihn deshalb oftmals härter als die (eigentliche) Strafe. Daher häufen sich gerade im Bereich der Straßenverkehrsdelikte die Fälle, in denen der Beschuldigte versucht, den Verdacht von sich (auf andere) abzulenken. Zur Beantwortung der Frage, ob die Grenze zu einer Straftat nach § 164 StGB bzw. dem formell subsidiären § 145d StGB bereits überschritten ist oder sich der Beschuldigte noch im Rahmen „strafloser Selbstbegünstigung“ bewegt, wird überwiegend auf eine Differenzierung nach Fallgruppen zurückgegriffen:

–Schlichtes Bestreiten:

Keine Straftat.36

–Bezichtigung einer bislang unverdächtigen Person:

Falsche Verdächtigung.37

–Bezichtigung einer tatsituativ verdächtigen Person:

Nach vorherrschender obergerichtlicher Rechtsprechung nicht strafbewehrt, da die Person auch durch das bloße Leugnen in den Verdacht der Ermittlungsbehörden geraten wäre.38 Abweichendes gilt jedoch dann, wenn der Beschuldigte weitere, den anderen belastende Umstände vorträgt oder die Beweislage verfälscht.39

–Angabe falscher Personalien:

Grundsätzlich falsche Verdächtigung.40 Die Absicht im Sinne des § 164 StGB kann aber fehlen, wenn der Beschuldigte von faktischen Verfahrenshindernissen ausgeht – also etwa weiß, dass der Namensträger ohne festen Wohnsitz ist41 – oder wenn sich der Beschuldigte unter falschem Namen verfolgen lassen will.42

–Bezichtigung des Belastungszeugen mit einer Falschaussage durch Bestreiten:

Aufgrund der Alltäglichkeit von „Aussage gegen Aussage“-Situationen, der rechtsstaatlichen Bedeutung des nemo-tenetur-Prinzips und der bekannten Unzuverlässigkeit von Zeugenangaben wird sich aus der Einlassung des Beschuldigten nicht nur die objektive Unrichtigkeit der Zeugenbekundungen, sondern darüber hinaus ein zumindest bedingter Vorsatz (§§ 153, 154 StGB) oder Fahrlässigkeit (§ 161 StGB) ableiten lassen müssen, um das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 164 StGB anzunehmen.43

–Aufrechterhaltung/Wiederholung der Verdächtigung:

Keine Eignung, behördliches Verfahren herbeizuführen oder fortdauern zu lassen, es sei denn, die Unterbreitung neuer Tatsachen führt zu einer Verdichtung des Tatverdachts. Nach anderer Auffassung liegt eine Tat im Rechtssinne vor, bei Wiederholung der Verdächtigung vor einer anderen Stelle dürfte dann Tatmehrheit anzunehmen sein.44

–Bezichtigung eines Unbekannten:

Umstritten, ob eine Beteiligtentäuschung im Sinne des § 145d Abs. 2 Nr. 1 StGB vorliegt.45 Denkbar wäre auch eine Strafbarkeit nach § 145d Abs. 1 Nr. 1 StGB, sofern der Beschuldigte durch seine Einlassung den Verdacht hervorruft, dass eine weitere prozessuale Tat begangen worden sei (der Beschuldigte einer Verkehrsunfallflucht behauptet, das Fahrzeug sei vor einigen Tagen von einer unbekannten Person entwendet worden).

83Für einen transparenteren Umgang mit Beschuldigtenlügen plädiert Krell46 und will die Frage der Strafbarkeit an den betroffenen Interessen messen: Sofern ausschließlich staatliche Belange tangiert seien, soll die Straffreiheit der Beschuldigtenlüge aus der grundgesetzlich garantierten Selbstbelastungsfreiheit folgen. Bei Eingriffen in Rechtsgüter Dritter würden diese den Bereich der Grenzen der Legalität jedoch verlassen. Folge soll eine regelmäßige Strafbarkeit von wahrheitswidrigen Vorgaben des Beschuldigten sein, sofern sie unter § 164 StGB fallen, wohingegen sie bei § 145d StGB straffrei bleiben. Es sei nicht nachzuvollziehen, dass die Selbstbegünstigung in § 145d StGB unter Strafe gestellt werde, während sie in anderem Zusammenhang – etwa bei Gefangenenbefreiung (§ 120 StGB) oder Strafvereitelung (§ 258 StGB) – sanktionslos bleibe. Die angebliche überflüssige Arbeitsveranlassung sei nur scheinbar ein Argument für eine derartige unterschiedliche Behandlung selbstbegünstigenden aktiven Tuns. Entsprechende Konsequenz dieser von Krell vorgeschlagenen konsequente(re)n Abgrenzung von straffreiem und strafbewehrtem selbstentlastenden Handeln wäre etwa, dass die rechtfertigende Einwilligung des zu Unrecht Verdächtigten die Strafbarkeit nach § 164 StGB entfallen ließe, da dann – der Tatbestand schützt nach herrschender Meinung sowohl private als auch staatliche Interessen – nur noch die zuletzt genannten betroffen wären. Ferner wäre § 145d StGB aufzuheben. Insgesamt ist eine Lösung de lege ferenda wünschenswert.

1.7.2Guter oder schlechter Leumund

84Ein beliebter und nicht auszurottender Irrglaube dokumentiert sich in einem alten Sprichwort: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“. Dies ist eine Fehleinschätzung, die auf der Grundlage beruht, dass sich die Glaubwürdigkeit einer Person und die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage über die Persönlichkeit, den Lebenswandel und das Vorverhalten erschließt.

85Diese Vorstellung ist schlichtweg unzutreffend: Es gibt keine personenbezogene – quasi allgemeine – Glaubwürdigkeit und damit keinen Leumund. Der BGH trägt dieser Feststellung dadurch Rechnung, dass er Fragen an Zeugen, die deren Verhalten in vorangegangenen vergleichbaren Situationen (uneidliche falsche Aussage oder gar Meineid in einem vorangegangenen Gerichtsverfahren) aufklären sollen, als grundsätzlich unzulässig erachtet.47 Falschaussagen werden nicht durch stabile Persönlichkeitsmerkmale, sondern durch situative und damit variable Faktoren hervorgerufen.48

86Diesem Gedanken trägt auch die neue Gesetzgebung Rechnung; zum 1.10.2009 wurde durch das 2. Opferrechtsreformgesetz § 68a Abs. 2 S. 1 StPO neu eingefügt.

§ 68a StPO Beschränkung des Fragerechts aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes

(2) Fragen nach Umständen, die die Glaubwürdigkeit des Zeugen in der vorliegenden Sache betreffen, insbesondere nach seinen Beziehungen zu dem Beschuldigten oder der verletzten Person, sind zu stellen, soweit dies erforderlich ist.

87Vor diesem Hintergrund erscheinen auch empirische Untersuchungen, nach denen Männer mehr lügen als Frauen und geringer gebildete Menschen eine verminderte Lügenquote aufweisen,49 zweifelhaft; sie können jedenfalls für eine konkrete Vernehmungssituation keine brauchbaren Parameter liefern.

88Das Verhalten und die Unbeholfenheit „der Justiz“ – gemeint sind Richter und Staatsanwälte – dokumentierten sich im Kachelmann-Verfahren als einprägsames Negativbeispiel. Hier wurden Leumundszeugen in allen Richtungen benannt und vernommen, was bei genauer Betrachtung schlichtweg überflüssig ist.

1.7.3Fehlen von Realitätskriterien

89Die Realitätskriterien wurden bereits erörtert; es bedarf daher an dieser Stelle nur der Benennung des daraus folgenden Umkehrschlusses: Das Fehlen von Realitätskriterien ist ein gewichtiges Indiz für das Vorliegen einer Lüge.

1.7.4Weitere Warn- und Lügensignale

90Daneben haben Bender/Nack/Treuer eine Dreiteilung von Warnsignalen vorgenommen, die es zu unterscheiden und zu beachten gilt:50


Verlegenheit Übertreibung Mangelnde Kompetenz
•Zurückhaltung •Unterwürfigkeit •Unklarheiten, Versprechen •doppelte Negationen •übertriebene – biologisch unmögliche – Exaktheit •Entrüstung bis Dreistigkeit •Begründungen für einen Sachverhalt statt Schilderung eines Tatsachengeschehens •karge, abstrakte Sachverhaltsschilderungen •fehlende Komplikationen •ausschließlich zielgerichtete Bekundung

Übersicht: Warnsignale bei Vernehmungen

91Nicht jedes Warnsignal beweist bei isoliertem Vorliegen eine Lüge; die vorgenannten signifikanten Merkmale können ihren Ursprung etwa auch darin haben, dass der zu Vernehmende allein die Vernehmungssituation – oder sein aktuelles persönliches und berufliches Umfeld – als großen Stressfaktor empfindet,51 und ihn dies veranlasst, Warnsignale zu produzieren und zu verbreiten.


Praxistipp:
92 Die Warnsignale entfalten eine Indizwirkung; ihr Vorliegen muss zur Folge haben, dass der Vernehmende ihr Zustandekommen und seine eigene Schlussfolgerung in besonderem Maße kritisch hinterfragt.

93Selbst eine jahrzehntelange Berufs- und Vernehmungserfahrung begründet hier nicht zwingend eine sichere Einschätzung.52

Hier ist eine Falsifikationsstrategie anzuwenden,53 mit der, vor dem Hintergrund aller vorhandenen Informationen, hinterfragt wird, was für die Richtigkeit der scheinbar unzutreffenden Aussage spricht. Sofern der Vernehmende auch danach noch vom Vorliegen einer Lüge überzeugt ist, hat er den zu Vernehmenden damit zu konfrontieren.

1.8Zuverlässig funktionierende Lügenerkennungsmethoden?

94Wer glaubt, anhand von Aussagen die Wahrheit erkennen zu können, wird – entgegen anderslautenden Veröffentlichungen54 – in der Praxis schnell eines Besseren belehrt. Insbesondere der Körpersprache wird hier eine Schlüsselfunktion zugeschrieben, die sie nicht hat; darauf wird im Rahmen der Fragetechniken ausführlicher eingegangen werden.55 Das Ergebnis sei an dieser exponierten Stelle vorweggenommen:

95 Es gibt keine zuverlässig funktionierende Lügenerkennungsmethode; eine Bewertung des Wahrheitsgehalts einer Aussage anhand körperlicher Verhaltensmuster verbietet sich.

1.9Kurze tatsächliche Bestandsaufnahme

96Negativbeispiele aus der Vergangenheit und Praxis polizeilicher Vernehmungen spiegeln sicherlich nicht das Alltagsgeschäft oder gar die übliche Vernehmungspraxis wider; sie sind nicht repräsentativ. Ihr Vorkommen und ihre Resonanz in der Bevölkerung sind allerdings unbestreitbar.

97Unstreitig ist jedes Fehlurteil, das zu einer Verurteilung führt, eines zu viel, wohl aber leider nicht immer vermeidbar, mithin Teil einer kritischen Bestandsaufnahme der Strafjustiz. Die an mancher Stelle56 auftauchende Behauptung, jedes vierte Strafurteil sei falsch und ein Fehlurteil, ist eine bloße – nicht verifizierte – Schätzung und definiert zudem nicht, ab wann Falschheit vorliegt: Falsche Tatsachenfeststellungen, falsche Sanktionen oder Verurteilung statt Freispruch und anders herum?

98Veröffentlichungen zu Fehlern im Strafverfahren sind lesenswert: Peters57 und Hirschberg wurden von Darnstädt im Jahre 2013 beerbt; sämtliche Werke sollten schon in der Kriminalistenausbildung als Pflichtlektüre verordnet werden. Selbstkritische Hinterfragung von Hypothesen und/oder Versionen kann niemals schaden. Eben diese Grundhaltung in Kenntnis möglicher Fehlentscheidungen erfordert einerseits eine besonders kritische Würdigung „fremder“ Ergebnisse; gemeint sind damit die Vielzahl kriminaltechnischer, psychiatrischer und psychologischer Gutachten, die in immer größerem Maße in den Verfahren eine Rolle spielen. Deren Entscheidungsrelevanz ist reziprok zu ihrem praktisch nicht vorhandenen Stellenwert im juristischen Studium, Referendariat und in der Kriminalistenausbildung; gleiches gilt andererseits für Vernehmungen.

99Selbst wenn – was nicht überprüft werden konnte – sich in manchen Presseveröffentlichungen „journalistische Ungenauigkeiten“ eingeschlichen haben sollten, führen sie einen Kernbereich misslungener, fehlerhafter und rechtswidriger Vernehmungen mehr als deutlich vor Augen, in denen Vernehmungsbeamte, um eine geständige Einlassung als sicheres Beweismittel zu generieren, über die gesetzlichen Vorgaben und damit das Ziel des Strafverfahrens hinaus schießen.

1.9.1Der Fall Jakob von Metzler

100Die Entführung (und Ermordung) eines Frankfurter Bankiersohns durch einen Jurastudenten im Jahre 2002 endete Ende 2004 auch damit, dass der damalige Polizeivizepräsident sowie ein ermittelnder Polizeibeamter der Nötigung bzw. der Verleitung eines Untergebenen zu einer rechtswidrigen Tat im Amt – nämlich einer Nötigung – schuldig gesprochen und mit Strafvorbehalt verwarnt wurden. Hintergrund war der Umstand, dass der Vernehmende dem Beschuldigten weisungsgemäß die „Zufügung von Schmerzen“ für den Fall angekündigt hatte, dass er das Versteck des Entführungsopfers nicht preisgibt.58

101Der Sachverhalt zeigt – neben anderen interessanten Rechtsfragen – die missliche Situation des Beamten auf, der das Leben eines Entführungsopfers retten will; dass hier die Grenzen strafrechtlicher Verbotstatbestände überschritten werden, ist unstreitig. Es bleibt im hiesigen Kontext die Frage nach einer Rechtfertigung und der (Un)Verwertbarkeit nachfolgender Angaben im Strafverfahren. Der aufgebaute Druck führte hier zu zutreffenden Angaben, die es ermöglichten, das Kind – leider tot – aufzufinden.

1.9.2Falsche Geständnisse und der Bauer Rudi Rupp

102Der Bauer Rudi Rupp verschwindet im Oktober 2001 spurlos nach einem Gaststättenbesuch; er hatte diese mit seinem Pkw aufgesucht, dort erheblich Alkohol konsumiert und war – mit gewissen Ausfallerscheinungen – von der Gaststätte fortgefahren. Die Vermisstenanzeige der Ehefrau führte zu keinem Erfolg – sowohl die Person als auch der Pkw blieben verschollen.

103Knapp eineinhalb Jahre später wurde die Akte im normalen Geschäftsgang dem für Tötungsdelikte zuständigen Kriminalkommissariat vorgelegt, das – aufgrund gewisser Anhaltspunkte – die Ermittlungen zu einem Tötungsdelikt aufnahm, Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen und Durchsuchungsbeschlüsse gegen die Familienangehörigen anregte, die die Justiz beantragte und erließ und die dann vollstreckt wurden. Rudi Rupp war in seinem Heimatort wenig gut gelitten, streitsüchtig und ein Einzelgänger, der – so jedenfalls die Gerüchteküche – auch innerfamiliär Probleme hatte.59 Unvermittelt wurden später die Ehefrau, die beiden Töchter und der Freund einer Tochter früh morgens zur Polizei verbracht und als Zeugen vernommen. Die intellektuell eher schlicht strukturierten vier Personen – die Ehefrau hat einen IQ von 53 – wurden anhand von langer Hand vorbereiteter 30-seitiger Fragenkataloge durchgecheckt und kippten: Alle legten letztendlich Geständnisse ab und wurden mit den Angaben der anderen konfrontiert.

104Selbst eine sich standhaft wehrende Tochter, die zunächst dabei geblieben war, dass ihr Vater in der Nacht nicht nach Hause zurückgekehrt war, war schließlich bereit, die wahre Geschichte zu erzählen … nachdem ihr (Pflicht-)Verteidiger den Vernehmungsort verlassen hatte.

105Die Beschuldigten schilderten schließlich ein Tötungsdelikt und es erfolgte eine Rekonstruktion des Geschehens vor Ort.60 Auch das spurlose Verschwinden des Pkw wurde geklärt – Entsorgung über einen Schrotthändler in der Umgebung – und die Unauffindbarkeit der Leiche bzw. von Leichenteilen damit erklärt, dass eine Verfütterung an die Hunde und/oder Schweine erfolgt sei. Die Familie wird in der Folgezeit zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

106Bei der Reparatur einer Staustufe der Donau in einem Nachbarort Anfang des Jahres 2009 taucht dann der Pkw des Mordopfers und auch dieses selbst wieder auf – nicht erschlagen, nicht geteilt und auch nicht verfüttert. Ein gewaltsamer Tod, der auch nur ansatzweise den Geständnissen der Verurteilten entspricht, ist jedenfalls auszuschließen. Die Wiederaufnahme der Verfahren führt dann später zu Freisprüchen.

107Aber auch der umgekehrte Fall ist denkbar: Der Verurteilte hat kein Geständnis abgelegt. Ein Makel, den mancher Ermittler als Minuspunkt auf seine Fahnen schreiben würde. Dabei wurde insbesondere nach Anwendung des Reid-Vernehmungsmodells das Geständnis des Tatverdächtigen als „Krönung des Ermittlungsverfahrens“ proklamiert. Fälschlicherweise. Die Frage beginnt bei den Ermittlungen, setzt sich aber unerkannt massiv in den Verhandlungsphasen, im Urteil, in Einschätzungen von Richtern und Schöffen, im Strafvollzug und schließlich in der Reintegration so konsequent fort, dass ein kritisches Hinterfragen nicht nur erlaubt sein dürfte, wissenschaftlich sogar geboten erscheint.

Beispiel:

108Der Angeklagte steht im Verdacht, an mehreren Stellen in einem Wohnhaus Feuer gelegt zu haben. Der Verdacht ergibt sich aus der Motivlage, Anwesenheit zur Tatzeit am Tatort, und – bemerkenswerterweise – aus der psychischen Auffälligkeit des Angeklagten, ein „verstecktes“ Tourette-Syndrom, so die einschätzenden Psychologen (auch schon vor der Tat). Er wird nach einem Indizienprozess wegen versuchten Mordes zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Ein Geständnis hat er nicht abgelegt, trotz mehrerer „Angebote“ des Vorsitzenden Richters, sich durch derartige selbstinitiierte „Vereinfachungen“ während des Prozesses eine mildere Strafe erarbeiten zu können.

In der Haft muss er weitere psychologische Begutachtungen über sich ergehen lassen. In deren Rahmen wird zunächst jeweils die „Therapierbarkeit“ geprüft, die zumindest ein gewisses Maß an Einsicht erfordert. Jede Hafterleichterung, schließlich auch die – eigentlich fast obligatorische – Verkürzung der Haftstrafe wird von eben dieser Therapierbarkeit abhängig gemacht.

Der Häftling weigert sich, einsichtig zu sein und streitet die Tat nach wie vor ab.

Die Folge während der Haft: „Nicht therapierbar“ = Keine Haftvergünstigungen. In der weiteren Folge die logische Konsequenz: Keine vorzeitige Entlassung zum 2/3 Zeitpunkt. Die zehn Jahre verbüßt er vollständig. Schließlich wird er nach zehn Jahren entlassen und sucht direkt anschließend das Büro der seinerzeit ermittelnden Beamten auf. Er legt 4,50 Euro auf den Tisch und erklärt, damit die Zigaretten bezahlen zu wollen, die ihm im Ermittlungsverfahren während der Vernehmung zur Verfügung gestellt worden waren. Er wolle niemandem etwas schuldig bleiben.

1.9.3Das Holzklotzverfahren61

109In einem Schwurgerichtsverfahren geht es um den Tod einer 33 Jahre alt gewordenen Frau, die im Jahr 2008 auf der Autobahn A 29 bei Oldenburg vor den Augen ihrer Familie von einem Holzklotz erschlagen wurde. Die SOKO Brücke ließ in den Medien verbreiten, es gäbe an dem Tatwerkzeug DNA-Spuren und kündigte entsprechende Reihenuntersuchungen an. In der Folgezeit meldete sich der 30-jährige, drogenabhängige Beschuldigte, der erklärte, er habe im tatrelevanten Zeitraum einen Holzklotz („wie der im Fernsehen gezeigte“) auf der Autobahnbrücke gesehen und angefasst. Er habe den Klotz zur Seite gelegt, damit sich Passanten nicht daran verletzen. Der heroinabhängige Beschuldigte spricht nur gebrochen Deutsch und hat zehn Jahre zuvor einmal eine Straftat (Schuld an einem Verkehrsunfall) auf sich genommen.62

110In einer weiteren Zeugenvernehmung erklärt er erneut, einen Holzklotz angefasst und beiseite geschoben zu haben, stellt aber in Abrede, den Klotz von der Brücke auf die Autobahn geworfen zu haben. Zudem habe er einen „Fahrradreifen“ weggeräumt. Protokolliert wurde eine „Felge“ (weil eine Felge am Tatort gefunden worden war) und aus „an einen Zaun geschoben“, wurde ein Brückengeländer, das sich naturgemäß auf Brücken befindet. Ein Dolmetscher wurde nicht hinzugezogen, sondern dem Beschuldigten wurden die Begriffe „erläutert“.

111Zwei Wochen später erfolgte nach einem 90 Minuten dauernden Vorgespräch die erste Beschuldigtenvernehmung; während des Vorgesprächs gab es diverse gemeinsame – weil in öffentlichen Gebäuden ein Rauchverbot herrscht – Rauchpausen vor dem Gebäude. Der Beschuldigte, der behauptet, er sei auf Entzug gewesen, erklärte später, ihm sei eine Substitution nach der Vernehmung versprochen worden, weswegen er sich geständig eingelassen habe.

2 790,68 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
892 стр. 37 иллюстраций
ISBN:
9783801109028
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают