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Kapitel 6

Hilde, 29. September

Draußen regnete es. Schade, da konnte man nicht zwischendurch auf den Balkon des Veranstaltungsraums. Hilde schaute nämlich gern von dort zum Eingangsbereich der Wohnanlage hinunter. Zum Springbrunnen mit den Bänken drum herum und den bunten Blumenrabatten. Sie saß zwar nur selten dort, spazierte lieber mit den Freundinnen durch den Teichpark zum Christgen hinüber oder in die Grünanlagen hinter dem Haus. Aber die Übersicht vom Balkon aus schätzte sie sehr. Sie half ihr bei der Orientierung, gab Hilde Sicherheit. Seit dem Verkauf ihres Eigenheims gehörte sie hierher. Zu dem Mehr-Generationen-Haus mit den netten Familien und den quirligen Kindern, zu Almut und Ruth, den Alten in der WG und zu all den reizenden Menschen in dieser lebensfrohen Architektur des Unverhofft.

Doch in der letzten Zeit vergaß sie dies manchmal. Wusste dann gar nicht mehr, wo sie war. Erkannte plötzlich Menschen und Dinge nicht wieder. Fühlte sich in eine andere Wohnetage versetzt oder gar an einen fremden Ort. Zum Glück nur für kurze Augenblicke, aber immer lange genug, um in Angst zu geraten. Nach dem Wiedererkennen ihrer Welt dann Riesenerleichterung. Doch gleichzeitig auch immer noch Angst. Angst vor dem nächsten Mal. Ob der Schrecken dann länger anhalten würde und ab wann er vielleicht für immer bliebe. Hilde war klar, dass dieser Zustand etwas mit ihrem Alter zu tun hatte. Aber was genau, das wollte sie lieber nicht wissen.

„Sie war eine gute Frau, die zwei erwachsene Kinder hinterlässt. Wir sind in Gedanken und mit den Herzen bei ihrer Familie. Doris Wurzbach hat ihr Leben in den Dienst der Altenpflege gestellt. Mit Humor und Tatkraft hat sie diese Aufgabe stets gemeistert.” Der Pastor war ein lieber Kerl, aber viel zu viel Blabla. Auch ein wenig weltfremd. Hilde hatte die Verstorbene nie leiden mögen. Hundsgemein war sie zu allen Schwächeren gewesen. Hatte sich lustig gemacht. Und dann diese Verleumdung des netten Herrn von der Forst. Reizender Junge. Diebstahlgerüchte über ihn zu streuen. Wirklich die Höhe! Aber gleich umbringen? Nein, das hatte natürlich niemand verdient. Auch dieses Aas nicht.

Neben dem Pastor stand eine Staffelei mit einem großen Foto von Doris Wurzbach. Unschuldig sah sie aus. Na ja, vielleicht entstand dieser Eindruck wegen des Trauerflors. Denn wer genau hinschaute, musste erkennen, dass ihr Lächeln voller Falschheit war. Die Sommerblumen in der Bodenvase gönnte Hilde der Verstorbenen trotzdem. Sie kamen ihr wie ein Garant dafür vor, dass es für Frau Wurzbach kein Zurück mehr gab.

„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.”

Links neben Hilde saß Almut. Sie hatte die Gestaltung der Tischdeko für den Leichenschmaus organisiert. Gemischte Gestecke aus Rosen und Wiesenblumen. Passte gut zusammen. Dazwischen weiße Kerzen. Hilde freute sich schon auf ihr warmes Licht und überhaupt auf das Kaffeetrinken im Raum hinter der Schiebetür. Würde bestimmt gemütlich werden.

Almut trug genau wie Hilde ein schwarzes Kostüm mit weißer Bluse. Nur saß es bei ihr besser als bei Hilde. Musste man ihr neidlos lassen. War auch raffinierter geschnitten. Hilde hatte seit dem Ende ihrer Depression vor zwei Jahren am Bauch deutlich zugenommen. Dort spannte jetzt ihr Rock. Sie sollte ihre Morgengymnastik ausbauen und auch weniger Schokolade essen.

„Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.”

Ruth rechts neben Hilde scharrte mit den Füßen über den Boden. Lange stillsitzen konnte sie nie. Aber wenn sie etwas in die Hand bekam, war sie gleich ruhiger. Hilde steckte ihr das Gesangbuch zu. Ruths knochige Finger schnappten danach, drückten das Buch kurz an die Brust, legten es dann auf den Schoß, rieben über das eingestanzte Kreuz im Leinendeckel. Liebevoll betrachtete Ruth ihre Beute. Sie trug ihr Kleines Schwarzes. Das zog sie zu Geburtstagen und bunten Abenden ebenso gerne an wie zu Trauerfeiern.

Früher hatte Hilde einen ähnlichen Modeklassiker besessen. Trug ihn, wenn sie mit Kurt Konzerte besuchte oder ins Theater ging. Auch bei Michis Abifeier hatte sie das Kleid getragen. Zum Tanzen in jüngeren Jahren ging es natürlich mit weitem Petticoat. Walzer, Foxtrott, Boogie Woogie, Rock'n Roll im Jugendheim. Pfarrer Scholzen hatte die Mutter damals dazu gebracht, Hilde diese Freiheiten zu erlauben. Auf den Pfarrer hatte die Mutter gehört. Gott sei Dank.

„Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen ein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.”

Ruths Kleid war mit den Jahren zu weit geworden, schlabberte um die alten Knochen. Der silberne Gürtel hing abgeschabt und ausgeleiert um ihre Hüften. Aber Ruth wollte partout keinen neuen Gürtel haben. Wahrscheinlich hingen für sie zu viele schöne Erinnerungen daran. Und was die Leute über Ruths Outfit dachten, war im Grunde egal. Hauptsache Ruth selbst fühlte sich wohl damit.

„Siehst chic aus”, flüsterte Hilde ihr ins Ohr. Ruth lächelte und stieß Hilde neckisch in die Seite. Das war für Ruths Verhältnisse ein gewaltiger Gefühlsausbruch. So konnte man auch mit kleinen Dingen den Leuten eine Freude machen. Komplimente kosteten nichts.

„Lasst uns nun singen das Lied Nr. 529 So nimm denn meine Hände zur Ehre Gottes und zum Andenken an die Verstorbene.”

Das Singen tat gut, weitete die Lungen und befreite Hildes Gedanken von der leisen Wehmut, die sie seit den Erinnerungen an Kurt und dem schwarzen Etuikleid umgab. Ihr war, als habe sich unterhalb ihres Solarplexus ein Pfropfen gelöst. Nun flossen dort mit dem Gesang Gefühle und Stimmungen heraus. Ihr wurde es leichter ums Herz. In den Augen allerdings Tränen. Aber die durften dort auch sein auf einer Beerdigung. Kein Grund zur Scham. Es wusste ja niemand, dass Hildes Gefühle nicht der Wurzbach, sondern den alten Zeiten galten. Das Lied kannte Hilde auswendig. Dazu brauchte sie kein Gesangbuch. Zur Leichtigkeit ihrer Empfindung passte der freie Blick nach oben in die hohe Deckenkonstruktion aus schönen Hölzern.

„Ich mag allein nicht gehen, nicht einen Schritt. Wo du wirst gehn und stehen, da nimm mich mit.”

Das Lied hatten sie auch für Kurt gesungen. Seine Feier war natürlich anders verlaufen als diese hier. Weniger alte, senile Leute, mehr junge Menschen. Im Grunde voll das pralle Leben. Kurt war schließlich im örtlichen Umweltschutz gewesen und gemeinsam mit Hilde im Sauerländischen Gebirgsverein. Statt dem Gedudel aus der hauseigenen Anlage hatte es richtige Live-Musik gegeben. Nicht nur Kirchenlieder, sondern auch Musicals und Pop Musik. Frank Sinatras I did it my way zum Beispiel. Da kannten die Freunde aus Kurts Posaunenchor nichts.

Den feschen Jungen vom CVJM hatte Hilde schon früh kennengelernt. Noch vor ihrer Konfirmation setzte Pfarrer Scholzen sie als Helferin im Kindergottesdienst ein. Ja, so hatte es angefangen mit ihr und Kurt. Denn auch er engagierte sich in der Jugendarbeit in Unna.

„So lasset uns denn miteinander für die Verstorbene beten.”

Ruth hielt noch immer zufrieden das Gesangbuch fest.

„Gleich gibt es Schnittchen und Kuchen”, erklärte ihr Hilde.

„Ruhe!”, mahnte Almut von links.

Heute sah man Almut die Strapazen der Chemo an. Da half auch die Pagenkopfperücke nichts. In den letzten Wochen war sie schmaler geworden. Und eine Hautallergie hatte diese Behandlung auch ausgelöst. Juckende Stellen an Händen und Armen. Anfangs war Hilde sauer auf ihre Freundin gewesen. Hatte geglaubt, Almut gehe heimlich in die Stadt shoppen. Allein, ohne sie mitzunehmen. Bis sie ihr dann von dem Lymphknotenkrebs am Hals erzählte und von der Chemotherapie. Ja, so war sie die Almut, bei Krankheiten verschwiegen bis zum Gehtnichtmehr.

„Soll ich mit ärztlichen Hypothesen hausieren gehen? So eine Tratschtante bin ich nicht.”

Angeblich hatte man bei dieser Krebsart gute Heilungschancen. Auch ohne Operation. Mental war Almut immer noch gut drauf. Ließ sich von keinem was vormachen. Half ja auch den Kindern aus dem Familientrakt bei den Schulaufgaben. Hilde unterstützte sie in Mathe. Als ehemalige Bankkauffrau konnte sie gut mit Zahlen umgehen. Auch mit Geschichtsdaten. Aber Almut erklärte ihr ständig, wie man das für die Kinder anschaulicher machte. Nun ja, einmal Lehrerin, immer Lehrerin.

„Amen.”

Nach dem Segen wies der Pastor die Trauergemeinde darauf hin, dass die Beisetzung der Urne zu einem späteren Zeitpunkt im engsten Familienkreis stattfinden werde. Dann sprach er den Wurzbachtöchtern und deren männlichen Anhang noch einmal sein Beileid aus. Händeschütteln am Kopf einer Warteschlange. Auch die anderen Trauergäste wollten der Familie kondolieren. Dazu hatte Hilde keine Lust. Man musste die Sache ja nicht übertreiben. Viel sinnvoller war es, jetzt schnell einen Platz an der Tafel zu sichern. Am besten noch, bevor die Schiebetür zum Speiseraum offiziell geöffnet wurde.

Almut rückte ihren Stuhl. „Will nur schnell zur Toilette, bevor der große Ansturm kommt.”

„Sehr vernünftig. Wir gehen schon mal zu Tisch.”

Drei Damen aus dem Café Christgen stellten gerade Platten mit Kuchen und belegten Brötchen zwischen Almuts Blumendeko, als Hilde mit Ruth durch eine Nebentür in den Feierraum trat .

„Da können wir ja nicht verhungern”, sagte sie. Andrea Caspari, die Konditorin des Cafés, lachte. „Das wollen wir doch nicht hoffen, Frau Körner. Streuselkuchen und Bienenstich kommen frisch aus dem Ofen.” Mit kritischem Blick kontrollierte sie noch einmal Platten und Gedecke. Dann klatschte sie in die Hände. „So, Mädels, alles bereit für die Gäste. Ihr könnt die Tür zum Andachtsraum öffnen.”

Von ihrem Platz aus entdeckte Hilde im Gewusel der Trauergäste eine junge Frau mit dunklen Locken. Wo kam die denn mit einmal her? Stand direkt neben Frau Sommerfeld. Einen wunderschönen Schal trug sie um den Hals. Edle Seidenkreation in Grüntönen. Ob das die Kommissarin war, von der alle sprachen? Sie lächelte so nett, schaute jetzt gemeinsam mit Frau Sommerfeld herüber. Oh, winkte auch noch. Hilde winkte zurück. Bestimmt wollte sie gleich mit ihr über den peinlichen Blackout im Teichpark sprechen. War ja ihre Pflicht als Kommissarin. Hilde wollte auch kooperieren. Aber dass dies jetzt sein musste, wo es gerade so gemütlich wurde, passte ihr eigentlich gar nicht.

Ruth wippte in freudiger Erwartung auf ihrem Stuhl, hielt aber noch immer das Gesangbuch in den Händen.

„Komm, das legen wir einfach neben die Blumen. Schließlich sind wir zum Futtern hier.”

Ruth kicherte. Aus dem Andachtsraum näherte sich Frau Sommerfeld.

„Freut mich, dass es Ihnen beiden schon schmeckt. Aber könnte die Kommissarin gleich mal mit Ihnen sprechen, Frau Körner? Sie wissen ja, dass Frau Allenstein Sie neulich nicht wecken wollte.”

Hilde trennte mit ihrer Kuchengabel demonstrativ ein Stück vom Bienenstich ab. „Gerne, aber erst will ich mit Ruth Kuchen und Brötchen essen.” Aus den Augenwinkeln sah Hilde, wie die Kommissarin sich trotzdem auf ihren Tisch zubewegte. Hilde tat so, als ob sie das Herannahen dieser Frau Allenstein nicht bemerkte.

„Ich glaube, es regnet nicht mehr, Ruth. Lass uns nach dem Kaffeetrinken noch mal kurz auf den Balkon gehen, ja?”

Ruth nickte. Dann biss sie in ein Mettbrötchen.

Kapitel 7

Barbara, 29. September

„Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und dein Stab trösten mich.“ Alle lauschten andächtig dem Pastor.

Barbara kam etwas später zur Andacht, als eigentlich geplant. Kollege Beilage hatte ihr noch die Ergebnisse der Spinddurchsuchung mitgeteilt. Zusammen mit den Belegen des Gold- und Schmuckverkaufes ergaben sie ein rundes Bild. Die Getötete war eine Diebin. Als Barbara sich umschaute, entdeckte sie Frau Sommerfeld und nickte ihr wortlos zu. Alle Trauergäste waren sehr chic angezogen und in Schwarz. Das gehörte sich noch so in dieser Generation, dachte Barbara. Hier im Andachtsraum waren nur wenige unter 75 Jahre alt, stellte sie fest.

Noch vor zwei Monaten war sie auf Wunsch der Eltern auf Bens Beerdigung gewesen. Sie hatte damals den entscheidenden Hinweis entdeckt und seinen Mörder zur Strecke gebracht. Es war eine herzergreifende Beerdigung, die sie nicht vergessen würde. Ben war erst zehn Jahre alt gewesen. Kinder sangen, es liefen Bilder von Ben und seinen Freunden auf einem Bildschirm, überall waren bunte Blumen, Spielzeug und Teddybären. Es war eine farbenfrohe Beerdigung gewesen, trotz all der erschütternden Trauer.

„Lasst uns nun singen das Lied Nr. 529 So nimm denn meine Hände zur Ehre Gottes und zum Andenken an die Verstorbene.“

Als die Andacht sich dem Ende zuneigte, näherte sich Barbara Frau Sommerfeld. „Haben Sie mal ein paar Minuten.“

„Natürlich. Wie kann ich helfen?“

„Sie waren ja bei der Spindleerung dabei. Mein Kollege hat mich heute informiert. Es wurden Uhren und zwei Goldketten gefunden. Konnten die zugeordnet werden?“

„Ja, leider. Fast alles ist bei uns im Haus geklaut worden. Teilweise war es sogar Eigentum der Kolleginnen oder aus den Wohnungen in der angrenzenden Wohngemeinschaft, da hat sie sich auch zu manchen Wohnungen Zugang erschlichen. Wir haben hier einige Schlüssel in Verwahrung, falls mal was passiert, wenn jemand in Urlaub ist. Jetzt werden wir das ganze System verändern müssen. Aber wer denkt denn auch an sowas?“

„Tja, Vorsicht …“

„Ist die Mutter der Porzellankiste. Ich weiß, Frau Kommissarin. Und wissen Sie was, ich hab auch noch in unserem Safe nachgeschaut. Da konnte sie nämlich auch dran. Sogar dort fehlen Wertgegenstände und ein Sparbuch. Es ist unfassbar. Auch hier gibt’s ab jetzt eine strenge Zugangskontrolle.“

„Wir haben in der Wohnung von Frau Wurzbach Pfandscheine gefunden. Anscheinend hat sie die Dinge versetzt. Vielleicht bekommen wir ja einiges wieder. Wir melden uns diesbezüglich.“

„Das wäre wirklich großartig. Noch hab’ ich niemandem hier im Haus etwas davon gesagt. Wenn das rauskommt … Erst ein Mord, dann Diebstahl. Wir werden keine Anmeldungen mehr bekommen und dichtmachen können. Entschuldigen Sie, aber wir sind nun mal auch ein Wirtschaftsunternehmen mit Arbeitnehmern.“

„Alles gut, Frau Sommerfeld. Ich verstehe ihre Sorgen absolut. Morgen werde ich mit den beiden Töchtern der Verstorbenen sprechen und ich hoffe auch, ich hab’ endlich mal Glück und treffe Frau Körner nicht schlafend an. Letztens war sie ja im Tiefschlaf, als ich sie sprechen wollte.“

„Ihr Kollege hatte gestern auch kein Glück. Sie war nicht gut beisammen. Heute ist sie aber wieder sehr klar. Sie sitzt dahinten. Nach der Andacht hat sie bestimmt etwas Zeit für Sie. Ich stelle Sie Ihnen gleich mal kurz vor, wenn es passt. Die beiden Töchter von Frau Wurzbach sind auch da. Soll ich Sie schon mal kurz bekannt machen?“

„Gerne, ich danke Ihnen.“

Frau Sommerfeld bahnte sich einen Weg durch die Menge. Barbara sah, wie sie sich in der ersten Reihe einer Frau mit einem flotten grauen Kurzhaarschnitt zuwandte. Sie zeigte dann in Barbaras Richtung und die ältere Dame winkte ihr freundlich zu. Barbara bemerkte, dass auf mit Blumen und Kerzen dekorierten Tischen schon Tabletts mit Gebäck und belegten Broten und Brötchen bereitstanden. Dann hörte sie, wie die Zeugin laut zur Heimleiterin sagte: „Gerne. Aber erst will ich mit Ruth Kuchen und Schnittchen essen.“

Barbara musste schmunzeln, ihre Oma war im Alter ähnlich geworden, wenn es um ihre Bedürfnisse ging. Frau Sommerfeld blickte ratlos zu Barbara. Diese winkte ab. Sie konnte die Dame auch beim Kuchenessen befragen.

Als die Trauergemeinde an den Tischen saß, setzte sich Barbara neben Frau Körner und gönnte sich eines von den Bienenstichstücken, das ihr angeboten wurde. Dann befragte sie Frau Körner. „Frau Körner, können Sie sich noch an den Tag erinnern, als Frau Wurzbach gestorben ist?“

„Leider kann ich Ihnen gar nichts sagen. Ich weiß nichts mehr. Ich hab’ nichts gesehen und nichts gehört. Manchmal da bin ich etwas abwesend.“

„Wie abwesend? Wie darf ich mir das vorstellen?“

Frau Körner schaute verlegen auf ihre Hände, beugte sich näher und antwortete: „Mir ist das selbst furchtbar peinlich, aber manchmal bin ich einfach abwesend. Zuerst wird mir schwindelig, und dann kriege ich diesen Blackout, wie man so schön sagt. Wohl Kreislaufprobleme und Alter. Ich weiß noch nicht mal, dass ich am Teich gewesen bin. Tut mir leid, ich war erst wieder klar, als ich mich in meinem Zimmer befand.“

„Sie haben also nichts gesehen? Nichts mitbekommen? Vielleicht ein Fahrzeug, einen Menschen, der in der Nähe war?“

Frau Körner rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Sie wirkte unglücklich. „Kalt war es, Frau Kommissarin, glaub’ ich. Und der Herr von der Forst war da. Aber der hat die Wurzbach ja gefunden, wie ich hörte. Nein, Frau Kommissarin. Ich hab nichts gesehen, aber auch gar nichts. Meistens kriege ich alles noch richtig mit, aber in diesem Fall kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen.“

Wie um das Gespräch zu beenden, wandte sich Frau Körner ihrer Freundin zu.

„Noch ein Stück Kuchen, Ruth? Also ich nehme noch eins.“

Die Gefragte grummelte irgendwas Unverständliches, nickte dabei und bekam von Hilde einen Streuselkuchen auf den Teller serviert.

Barbara wusste, hier würde sie nichts mehr erfahren. Sie stand auf, bedankte sich bei Frau Körner für das Gespräch und stellte sich vor die Tische.

„Liebe Gäste der Trauerfeier. Es tut mir leid, wenn ich Sie hier so stören muss. Wie Sie ja alle wissen, ist Frau Wurzbach keines natürlichen Todes gestorben. Wenn irgendjemand von Ihnen mir etwas sagen kann, irgendetwas gesehen hat, vielleicht nur eine Kleinigkeit, dann rufen Sie mich bitte an. Meine Telefonnummer hat Frau Sommerfeld. Die beiden Töchter der Verstorbenen sehe ich ja morgen um neun Uhr bei mir im Präsidium. Entschuldigen Sie alle bitte diese Störung, aber die Umstände lassen leider keine andere Vorgehensweise zu. Ich danke für Ihr Verständnis.“ Danach ging sie mit Frau Sommerfeld ins Büro.

„Vielleicht haben wir ja Glück und irgendwer hat etwas gesehen, Frau Kommissarin.“

Barbara seufzte. Viel Hoffnung machte sie sich nicht. Etliche der Bewohner, die sie gesehen hatte, sahen und hörten auch nicht mehr besonders gut. Beim Hinausgehen entdeckte sie im Flurbereich ein Plakat: „Ich leb´ jetzt auf dem Ostfriedhof“. Eine Lesung, die im Café Christgen stattfinden würde. Das hörte sich originell an. Sie fotografierte das Plakat mit ihrem Handy und fuhr dann ins Präsidium.

Kapitel 8

Hilde, 30. September

Jedes Mal freute sich Hilde schon in der U-Bahn auf die prachtvolle Kuchenvitrine des Café Möhler. Die geschwungene Theke kam ihr fast wie ein Lebewesen vor, das den Gast mit weit geöffneten Armen empfing. Der rechte Arm, gleich hinter der Eingangstür, präsentierte handgefertigte Pralinen. Wenn jemand Geburtstag hatte, ließ Hilde sich hier gern ein edles Sortiment zusammenstellen. Damit machte man nie etwas verkehrt.

In der Mittelvitrine gab es zunächst das Kleingebäck. Hundert Sorten Teilchen vom Feinsten. Die Entscheidung für eines der Prachtstücke fiel schwer. Also am besten gleich weiter zu den Torten. Jede von ihnen war Kunstwerk und Verführung zugleich. Filigrane Kreationen aus Sahne, Krokant, Vanillecreme, Marzipan, Mokka, Schokolade und kandierten Früchten. Hildes zwei Seiten fochten hier oft einen Kampf miteinander aus.

„Eine Sünde für die Hüften”, sagte ihre vernünftige Seite.

„Eine Schande, wenn du das nicht mal probierst”, sagte die leichtsinnige.

Hilde und Almut wählten meist ein Tortenstück vom linken Ende des Vitrinenarms. Er bot appetitlich bunte Obsttorten und Variationen verschiedener Käsekuchen dar.

Almut zupfte an Hildes Jacke.

„Komm, lass uns erst mal einen Platz suchen.”

Das Stöbern in den Buchläden und bei Karstadt hatte Almut angestrengt. Früher konnten Einkaufsbummel für die Freundin nicht lang genug sein. Nun war sie alt und krank. Da musste man Nachsicht haben. Hilde seufzte, warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Kuchen und folgte dann Almut über den weinrot gemusterten Teppich.

Die Rundsofas bei den Kaffeemaschinen waren alle belegt. So gingen sie weiter zum Kronleuchtersaal mit den curryfarbenen Polsterstühlen. Hier gab es noch einen freien Tisch vor dem Fester zum grünen Innenhof.

Bevor Hilde ihre Jacke an eines der hölzernen Garderobengitter hängte, legte sie schnell ihre Handtasche und die Karstadttüte auf den ergatterten Tisch. Nicht, dass ihnen jemand den Platz noch streitig machte. Dann plumpste Hilde mit einem Seufzer in ihren Armstuhl. Almut setzte sich gegenüber. Sie wischte kurz mit der Hand über die Glasplatte des Tisches, unter der man auf ein altmodisches Flechtwerk sah.

„Immer wieder schön hier.”

Ja, da hatte Almut recht. Die Möbel im zierlichen Chippendale Stil zeigten zwar schon Kratzer im Nussbaumlack, aber gerade das betonte den Charme vergangener Zeiten. Nichts gegen das Café Christgen mit seinem frischen Design. Hilde mochte klare Linien. Aber zur Abwechslung war antiquierter Plüsch auch recht nett.

„Passt gut, dass Ruth heute mit ihrer Anne im Zoo ist.”

„Tja, sie hat Glück mit ihrer Stieftochter. Mein Michael bequemt sich nur einmal im Monat aus Düsseldorf her.”

„Sei nicht ungerecht, Hilde. Die jungen Leute haben genug mit dem eigenen Leben zu tun. Ist mit meiner Silke nicht anders.”

Ja, ja, Almut wusste immer alles besser. Hilde kramte in der Einkaufstüte nach ihrer neuesten Eroberung.

„Gut, dass wir nicht lange nach dem Schal suchen mussten. Bei Karstadt findet man meistens das Passende.”

Mit einem Glücksgefühl im Bauch wand Hilde den Seidenschal um ihren Hals. Wundervoll weich und glatt war er. Und so leicht. Fühlte sich angenehm kühl an. Schmeichelte auf der Haut. Aber schöner noch als das Material waren für Hilde die Farben. Changierendes Hellgrün, Dunkelgrün und Türkis.

„Wieso musste es unbedingt Grün sein?”

Hilde kicherte.

„Na, weil mir der hübsche Schal dieser Kommissarin nicht aus dem Sinn ging.”

Almut nickte.

„Die sieht wirklich fesch damit aus.”

„Wie, und ich sehe nicht fesch aus damit?”

„Doch, klar. Steht dir gut. Aber die Jugend bringt so ein Accessoire natürlich nicht zurück.”

Hilde überlegte, ob sie jetzt böse sein sollte. Nett war Almuts Bemerkung ja nicht gerade, doch sie entschied sich für neutralen Boden.

„Richtig. Aber trotz meiner Jahre muss ich nicht unbedingt in Sack und Asche geh'n.”

Lächelnd tätschelte Almut Hildes Hand.

„Stimmt. Ein bisschen mehr Farbe tut uns Alten ganz gut.”

„Na also.”

Hildes Unterarme begannen zu kribbeln. Das taten sie in letzter Zeit immer, wenn Ärger im Anmarsch war. Unangenehmes Gefühl. So, als ob sie sich in Wut hinein steigern würde. Dadurch vielleicht sogar die Kontrolle verlöre. Eventuell nicht mehr die freundliche Dame wäre, die sie sein wollte. Peinlich, abstrus und beängstigend.

Ein junger Mann trat an ihren Tisch. „Haben die Damen schon gewählt?”

„Ja”, sagte Almut.

„Nein”, sagte Hilde, denn sie wollte eigentlich noch einmal in Ruhe an die Kuchentheke.

Der Kellner guckte irritiert. Almut lächelte ihn an.

„Also, ich nehme jedenfalls schon mal ein Kännchen Earl Grey Tee und ein Stück Käse-Mohn-Kuchen.”

Während der Kellner Almuts Bestellung auf seinen weißen Block kritzelte, schaute Hilde ihre Freundin böse an. Was dachte die sich eigentlich? Sollte Hilde jetzt alleine zur Theke gehen?

Almut blinzelte ihr zu.

„Tu doch nicht so, Hilde. Du nimmst doch sowieso meist dasselbe.”

Das stimmte zwar, aber Hilde fühlte sich bevormundet. Ehe sie protestieren konnte, bestellte Almut für sie bereits Milchkaffee und Apfelstreusel mit Sahne.

Der junge Mann nickte freundlich und enteilte.

Hilde mochte Almut nicht anschauen, diese unverschämte Zicke. Deshalb wandte sie ihren Kopf dem Fenster zu. Der Blick zu den Grünpflanzen im Hof lenkte sie von ihrem Ärger ab. Zwar kribbelten die Unterarme erneut, aber der Druck, den sie kurz im Hals gespürt hatte, ließ bereits wieder nach.

„Bist du mir etwa böse, Hilde?”

Almut hörte sich kleinlaut an.

„Weiß nich.”

„Tut mir leid, ich habe nicht groß nachgedacht.”

Sollte sie aber als ehemalige Lehrerin.

Andererseits, mein Gott, warum regte sie eine solche Kleinigkeit eigentlich auf? Schließlich hatte Almut ihr ja den Lieblingskuchen bestellt. Aber Hilde hätte doch gerne Wahlfreiheit gehabt. Zumindest dem Anschein nach. Einfach noch mal gemeinsam die schönen Torten bewundern gehen. War das zu viel verlangt?

Das Kribbeln wurde stärker und der Druck im Hals nahm wieder zu.

Nein, diesen innerlichen Ärger mochte Hilde nicht. Sie wollte wie früher sein. Mehr Humor haben. Ab und zu laut lachen. Auch über sich selbst.

Mehrmals strich sie über ihre Unterarme. Das half ganz gut gegen diese komische Nervenattacke. Puh! Und einmal tief durchatmen.

Schade, dass sie ihr Lavendelwasser nicht benutzen durfte. Almut würde sonst wieder meckern, dass man so eine Duftwolke den anderen Gästen nicht zumuten könnte. Die wollten Kaffeearoma genießen und nicht den Geruch von Hildes selbst gemachtem Blütenspray. Alt-Weiber-Wasser nannte es Frau Schlaumeier abfällig. Dabei half der Lavendel besser als die blöden Tranquilizer. Die nahm Hilde schon seit Wochen nicht mehr. Sie wollte endlich ohne Drogen auskommen. Außerdem war es lästig, nur wegen des Rezepts ständig zur Psychopraxis zu rennen. Dann lieber weiter das Kribbeln in den Armen ertragen.

„So, da wären schon einmal die Getränke, meine Damen. Der Kuchen kommt auch gleich.”

Der warme Milchkaffee tat gut. Über den Rand ihrer halbkugelförmigen Tasse schaute Hilde zu Almut hinüber. Die zog gerade ihren Teebeutel aus der Kanne, spürte aber Hildes Blick und sah auf. Sie grinste.

„Alles wieder im Lot?”

Vorsichtig setzte Hilde ihre schwere Tasse ab. Statt zu antworten, kicherte sie.

„Da bin ich aber froh, dass du mir verzeihst, Hilde. Manchmal bin ich wirklich übergriffig. Tut mir leid.”

Hilde atmete tief durch. Sie war froh und erleichtert. Das Kribbeln und auch der Kloß im Hals waren weg.

„Mensch, Almut! Manchmal bin ich einfach überempfindlich. Das will ich gar nicht. Ist einfach nur blöd.”

„Nix blöd. In unserem Alter dürfen wir wieder zickig sein, findest du nicht?”

Sie mussten beide über sich lachen. Genauso, wie es sich Hilde gerade gewünscht hatte. Befreiendes Gefühl. Das Leben war wieder leicht.

„So, einmal den Käse-Mohn und einmal die Apfeltorte mit Sahne. Einen guten Appetit wünsche ich den Damen.”

Hm, wieder mal lecker, dieser frische Apfelgeschmack mit dem buttrig knusprigen Streusel. Dazu die geschlagene Sahne. Ein Kontrast von weich und knackig, von warm und kühl.

Auch Almut genoss ihren Tortenbissen, das sah man. Zufrieden schaute sie beim Kauen zum Fenster hinaus. Hilde folgte ihrem Blick. Tja, dort war einer ihrer Lieblingsplätze in wärmeren Zeiten. Lauschig war's unter den alten Douglasien, deren Stämme mit der rötlichen Borke dicht beieinander standen. War auch damals ihr Treffpunkt gewesen nach Hildes erstem Besuch beim Psychiater. Bevor Almut mit der Kuchengabel ein weiteres Stückchen von ihrer Torte trennte, schaute sie Hilde abschätzend an.

„Weißt du noch vor drei Jahren, als du so erschreckend dürr warst?”

Hilde klopfte auf ihr Bauchpolster.

„Habe ich auch gerade dran gedacht. An die angebliche Trauerdepri nach Kurts Tod. Zumindest zugenommen hab' ich seitdem wieder.”

Almut nippte an ihrem Tee. Dann beugte sie sich zu Hilde herüber und sagte mit gedämpfter Stimme:

„Eine wirkliche Therapie war das ja nicht, fand ich. Immer nur Medikamente. Komischer Seelenklempner.”

„Fang nicht wieder damit an. Es geht mir längst besser, wie du siehst. Dick und fett und wohl genährt.”

Almut lachte.

„Fishing for compliments, was? Du bist immer noch rank und schlank, liebe Hilde. Dein Bäuchlein fällt doch gar nicht auf. Bist halt nur etwas kräftig von deiner Morgengymnastik.”

„Also alles gut.”

Hoffentlich hörte Almut jetzt damit auf, die alten Geschichten hochzukochen. Inzwischen sagte sich Hilde ja selbst, dass sie damals dem Rat der kleinen Assistenzärztin hätte folgen sollen.

Sie tunkte ein Apfelstückchen in die Sahne und schob es in den Mund.

„Manchmal frage ich mich, ob du diese Flashbacks noch hast.”

Hilde hätte sich fast an ihrem Bissen verschluckt. Spann die jetzt total, die Almut? Verärgert sah sie sich im Raum um. Almut beruhigte sie.

„Keine Sorge, ich habe mit der Frage extra gewartet, bis der Nachbartisch frei wurde. Es hört niemand mit.”

Klar hatte sie diese Flashbacks noch. Die überrumpelten sie sogar öfter als früher. Aber das brauchte Almut nicht zu wissen.

„Da klopft ein altes Trauma bei Ihnen an”, hatte die Assistenzärztin im Labor bei der Blutabnahme gesagt. „Dafür gibt es heute eine wunderbare Therapie. Ganz ohne Medikamente. EMDR heißt sie. Wurde bei der posttraumatischen Behandlung von amerikanischen Soldaten nach dem Einsatz im Golfkrieg entdeckt.”

Zuerst fand Hilde den Eifer der jungen Frau niedlich. Später ging er ihr auf die Nerven.

„Aber Ihr Chef ist von Ihrer Idee nicht gerade begeistert, wenn ich ihn vorhin richtig verstanden habe. Eins nach dem anderen, meinte er. Zuerst die Trauer um meinen Mann verarbeiten und dann sehen, ob weitere Schritte überhaupt nötig sind.”

Die Ärztin kniff die Lippen zusammen.

„Mein Chef ist noch von der alten Schule”, sagte sie nach einer Weile. Das klang so zweideutig wie das Orakel von Delphi. Diplomatie zwischen den medizinischen Hoheitsgebieten. Die junge Frau hatte wahrscheinlich auf einer Fortbildung etwas Neues gelernt und wollte es nun neunmalklug ausprobieren.

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