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Das Treffen

Gereizt erschien Jan in der Empfangshalle des Hotels, um Kemal zu suchen, den er seit dem Beschuss mit seinem Turnschuh vermisste. Kemal hatte alles, was ihm für dieses Meeting fehlte: die Unterlagen, das Wissen und obendrein das notwendige diplomatische Geschick. Er selbst kannte weder Uhrzeit noch Ort des neuen Treffens. Eigentlich wusste er überhaupt nichts, außer, dass er es gestern vermasselt hatte, natürlich … was sonst. Das Einzige, das er noch immer hatte, war Geld. Seit seiner Erbschaft schwamm er darin, gemessen an dem Nichts, das er vorher hatte.

Im Foyer herrschte Betriebsamkeit. Drei Pärchen standen an, um ein- oder auszuchecken. Einer der Trolleys neben ihnen quietschte bei jeder Bewegung. Zwei Kinder liefen im Wettstreit um einen der niedrigen Tische, die zu einer Ruheinsel gehörten, bis sich ein älterer Herr darüber beschwerte. An der Rezeption telefonierte jemand in Englisch, wieder und wieder mit denselben Sätzen, da man am anderen Ende scheinbar nichts verstand. Hinter Jan tauchte aus dem Treppenhaus eine Gruppe junger Touristen auf, die lautstark über die Planung der nächsten Stunden diskutierten. Eine Fliege flog unablässig brummend gegen die Deckenbeleuchtung.

Jan machten all diese Geräusche wahnsinnig. Er hielt sich den Kopf, weil er glaubte, sein Gehirn platze ihm gleich aus den Ohren. Er hasste Lärm und konnte überhaupt nicht verstehen, warum sonst niemand von dem Quietschen, Kreischen, Reden und Brummen Notiz nahm. In seiner Anspannung verlor er für einen Moment fast das Gefühl dafür, wo in all dem Getöse und Gewühle er selbst stand. Schließlich machte er einem der Geräusche ein Ende. Mit langen Schritten sprang er auf den Trolley zu, riss ihn dem Besitzer aus der Hand und stellte ihn polternd mit der Längsseite auf dem Boden ab. Der Mann, dem der fahrbare Quietschkoffer gehörte, glotzte ihn mit geöffnetem Mund an, als wüsste er nicht, ob er vor Jan fliehen oder ihm eine reinhauen sollte. Auch die anderen im Foyer, einschließlich der Kinder, unterbrachen ihr Spektakel für die nächsten Minuten.

Jan drehte an einem der grässlichen, kleinen Räder.

»Quietscht!«, klärte er auf.

Er starrte jedem Einzelnen drohend in die Augen, bevor er zum Ausgang schritt. Vor der Tür empfingen ihn die ersten feinen Schneeflocken des beginnenden Winters. Sie tänzelten federleicht im seichten Wind und legten sich wie kalte Tupfen auf die Lider seiner geschlossenen Augen. Allmählich beruhigte sich das Chaos in seinem Kopf. Das Einzige, was er jetzt hörte, waren die Fahrgeräusche entfernter Autos, doch die Monotonie der laufenden Motoren störte ihn nicht. Es hatte nichts Alarmierendes, nichts Fremdes.

Jan wagte einen Blick in die Umgebung. Ihr Taxi stand wie geplant auf dem Hotelparkplatz. Für einen Augenblick überlegte er, ob er den mürrischen Fahrer aus seinem Hotelzimmer holen, zurück nach Hamburg reisen, und den ganzen Mist hier vergessen sollte. Dann keimte ein schockierender Gedanke in ihm auf. War Kemal etwa auf denselben Einfall gekommen? Wollte sein wichtigster – oder besser einziger – Vertrauter ihn hier zurückgelassen? Jan biss sich auf die Lippen. Verdient hätte er es auf jeden Fall. Er wusste, was er anderen Menschen antat.

In diesem Moment erschien Kemal hinter dem Taxi, beladen mit drei gefüllten Einkaufstaschen. Jan lächelte erleichtert. Er hatte einen Augenblick lang wirklich gedacht, der Mann hätte so viel Rückgrat, ihm einen Tritt in den Arsch zu verpassen.

Zuvorkommend eilte er Kemal entgegen und nahm ihm einen Teil der Last ab. Der blieb verwundert stehen. Hatte er da ein echtes Lächeln in diesem Gesicht entdeckt? Er meinte ein richtiges Lächeln, kein schäbiges Grinsen. An eine plötzliche Wesensänderung seines Chefs glaubte er nicht. Er musste etwas im Schilde führen.

Während sie die Treppe zum Hoteleingang nahmen, fielen ihm Torbergs Schuhe auf. Diese verschlissenen, geizig am Leben erhaltenen Latschen, die Tag für Tag ohne Unterbrechung und Auslüftung dessen Füße schützten oder im besten Fall versteckten. Ob er sie jemals gegen ein vernünftiges Paar tauschen würde? Jedenfalls hatte er nagelneue Sneaker in entsprechender Größe besorgt. Sie waren Bestandteil einer neuen Garderobe, mit der er seinen Chef gesellschaftsfähig machen wollte. Womöglich eine Zumutung für diesen eingefleischten Modemuffel. Die ausgebeulte Jeans sollte eine gepflegte – und vor allem saubere – Edeljeans ersetzen. Während sich Kemals Blick etwas angewidert der Hose in ihrer ganzen Länge widmete, stockte er plötzlich, als er die Füße erreichte. Nackte Haut! Er hatte die Socken vergessen. Seit Torberg gestern überstürzt aus dem Haus seines Widersachers gebraust war, steckten seine Füße barfuß in ihren Möchtegernschuhen.

Beim Betreten der Empfangshalle wunderte sich Kemal, dass sämtliche Anwesenden sie misstrauisch bis ängstlich anstarrten. Ihre Augen verfolgten sie auf ihrem gesamten Weg durch das Foyer. Kemal war das unheimlich. Ihm drängte sich bald der Verdacht auf, Torberg könnte nicht unschuldig daran sein. Schließlich hatte Kemal ihn leichtsinnigerweise unbeaufsichtigt im Hotel zurückgelassen. Er quetschte sich mit der letzten Tüte in den fast belegten Hotelfahrstuhl, während sein Chef wie immer die Treppe nahm. Gefühlte Feindseligkeit drang Kemal entgegen. Es kam ihm vor, als plusterte sich die Menge absichtlich auf, um ihn derart mit dem Rücken an die Fahrstuhltür zu drücken. Wenig überraschend erreichte Torberg zuerst die obere Etage. Solange er ihn kannte, stieg dieser Mann Treppen nie anders hinauf, als dass er mindestens zwei Stufen auf einmal nahm.

Jan schloss mit seinem Chipschlüssel das Hotelzimmer auf und träumte von kühlen Hellen und kulinarischen Genüssen in Form ungesündester Knabbereien. Ein bisschen Gras würde er sich vermutlich selbst besorgen müssen. Das konnte er Kemal nicht zumuten. Der Mann war vermutlich der gesetzestreueste Bürger Deutschlands. Insgeheim plante er einen abendlichen Ausflug in die Düsseldorfer Innenstadt mit einem Abstecher bei den passenden Dealern. In Großstädten ein Leichtes, sie zu finden. Sofort durchwühlte er sämtliche Tüten aus Kemals Einkauf. Die darin enthaltenen Kleidungsstücke warf er achtlos beiseite.

»Ich hatte Sie doch gebeten, für heute alles Notwendige zu besorgen.«

»… und das habe ich!«

Jetzt kam Kemal in Schwung. Er sammelte alle Sachen wieder ein und legte sie glättend auf das zerwühlte Bett.

»Sehen Sie, eine schwarze Hose mit fliederfarbenem Hemd, ein anthrazitfarbener Sakko und hier …«, triumphierend hielt er ein Paar geschmackvolle Sneaker in die Höhe, »… die passenden Schuhe dazu! Größe 46 stimmt doch?«

Enttäuscht saß Jan auf der Bettkante und schluckte den angesammelten Speichel hinunter, der sich vor Erwartung gebildet hatte.

»Was soll das? Wo ist das Bier? Und außerdem passen Ihnen die Sachen sowieso nicht. Die sind Ihnen doch viel zu groß.«

»Natürlich sind sie zu groß für mich. Das ist ja auch nicht für mich!«

Jan runzelte die Stirn.

»Für wen sonst?«

Kemal war sich nicht sicher, ob Torberg nur so tat, als begreife er nicht und überließ es ihm selbst, die Antwort zu finden.

Jans Mund stand unkontrolliert offen, sein Blick traf fragend sein Gegenüber, aber der ließ nicht die geringsten Zweifel aufkommen. Und so tastete er langsam den Sakko ab, befühlte die Wollmischung, den Reverskragen, drehte ihn um, als hätte er nie Ähnliches gesehen.

»Wozu?«, fragte er verdutzt.

Wozu? Kemal schnappte sich die Hose und hielt sie ihm vor die Nase.

»Damit ich mich bei diesem neuen Treffen mit Ihnen sehen lassen kann, ohne mich fremdzuschämen. Dieser Herr Alonso kommt bestimmt nicht in abgetragener Lederjacke und verdreckter Hose. Haben Sie gesehen, wie elegant man sich dort gibt?«

»Eben, man gibt sich so. Mehr ist da auch nicht hinter. Die Etikette interessiert mich nicht. Ich kleide mich praktisch und mehr nicht. Und sehen Sie – empfangen haben die mich auch so.«

»Weil die etwas von Ihnen wollen. Sonst hätten die so was wie Sie gar nicht reingelassen.«

»Die Sachen, die ich gerade trage, sind mir die allerliebsten, insofern gestehe ich dem Treffen sogar ein Maximum an Wichtigkeit zu. Wenn ich das da anzöge, würde ich mich nicht kleiden, sondern verkleiden und das ist nicht meine Absicht. Wir haben November und nicht Karneval.«

Kemal verdrehte die Augen. Was hatte er auch anderes erwartet? Er versuchte sich in Überredungskunst.

»Ziehen Sie es wenigstens ein einziges Mal an. Ob Sie es schließlich tragen, entscheiden sowieso Sie allein … wenn nicht für Sie selbst, dann eben mir zuliebe.«

Jan verzog seinen Mund. Insgeheim reizte es ihn schon, sich einmal im Leben in solchen Klamotten im Spiegel zu betrachten. Nicht mal zur Beerdigung seines Vaters hatte er sich von seiner verschlissenen Jeans getrennt und ja, er gab zu – er hätte sie in der Zwischenzeit schon mal waschen können. Doch frische Wäsche roch so anders. Das mochte er nicht. Aber er mochte auch keine ungewaschene neue Kleidung, die womöglich schon jemand anderes anprobiert hatte. Er schüttelte sich bei dem Gedanken. Nun lag das da und Kemals Hundeblick bohrte sich in sein Gewissen.

»Ich weiß nicht.«

Kemal sah ihn immer noch bettelnd an.

Na ja, warum nicht? Anschließend konnte er den Mist ja wieder ausziehen und sich gründlich abduschen.

»Also wirklich nur Ihnen zuliebe.«

Kemal strahlte.

Jan war, als schlüpfe er mit den ungewohnten Kleidungsstücken in eine andere Identität, als probiere er ein fremdes Ich an.

Die Verwandlung übertraf Kemals kühnste Vorstellungen. Kleidungsstück um Kleidungsstück verwandelte sich Torberg von einem ungepflegten Fastpenner in einen unrasierten und ungekämmten Geschäftsmann. Perfekt! So sah er aus, sein Wunschvorgesetzter. Nicht zu elegant, und nicht zu schlampig. Begeistert schob er seinen kostümierten Chef vor den Schrankspiegel und verglich ihn mit einem Model aus einer Parfümwerbung.

»Nun übertreiben Sie aber!«

Dennoch geschmeichelt drehte und wendete sich Jan vor seinem Ebenbild, die Hände lässig in den Hosentaschen. Nicht ungern ließ er sich von Kemal bewundern.

»Doch wirklich, wenn Sie sich jetzt noch rasieren und einen Besuch bei einem Friseur wagen würden …«

Jan bekam Spaß an der Sache. Lachend tänzelte er um Kemal herum. Dann blieb er dicht vor ihm stehen, sodass er schon die intime Nähe seines Körpers spüren konnte, und hauchte: »Na, gefalle ich dir?«

Kemal prustete unkontrolliert heraus. Tröpfchen seines Speichels trafen ungewollt Jans Nase. Jan zuckte zurück und bekam augenblicklich Gänsehaut. Wieso war er seinem Mitarbeiter bloß so nahegekommen. Igitt! Mit dem Ärmel des Sakkos und zugekniffenen Augen wischte er den ekelhaften Sabber schnell weg.

»Hinreißend!«, sagte Kemal. »Also, wenn ich nicht versprochen wäre …«

Das nahm Jan zum Anlass, Kemal klarzumachen, dass dies nur eine Kostümprobe war.

»Ach so, Sie sind versprochen? Na dann hat sich das erledigt.«

Bei diesem Satz saß Jan bereits auf dem Bett und schlüpfte aus Sakko und Hose. Kemal sah ernüchtert zu, wie er sich aus den Sachen schälte und bekam Jans Unterhose zu Gesicht. Er spekulierte, wollte aber besser gar nicht wissen, ob Torbergs Retroshorts genauso lange keine Waschmaschine gesehen hatte, wie seine unsägliche Jeans. Instinktiv atmete er für einige Augenblicke nur durch den Mund. Am Ende fragte er doch.

»Haben Sie eigentlich so etwas wie Unterwäsche mit?«

Jan sah ihn verständnislos an.

»Was soll denn die Frage?«

»Nun ja, wenn ich an Ihre Jeans denke …«

Torberg stand auf, öffnete den Hotelschrank und seine Reisetasche. Zögernd kam Kemal näher, fast schon mit Herzklopfen, weil er befürchtete, die ekelhaftesten Sachen zu entdecken, die ihn noch Tage und Wochen verfolgen würden. Doch in der Tasche befand sich nur saubere Kleidung, darunter Berge von Retroshorts.

»Und wo ist Ihre Dreckwäsche?«

»Ich werfe sie weg. Zufrieden?«

Räuspernd trat Kemal ein paar Schritte zurück.

»Halten Sie mich für einen Penner?«, fragte Jan in deutlich verärgertem Tonfall.

Er nahm die Schuhe und pfefferte sie mit unnötig heftigem Schwung in eine Ecke des Zimmers.

»Das passt mir nicht. Schaffen Sie das raus.«

»Oh doch, es passt. Aber Sie wollen nicht passen, und zwar nirgendwo hin.«

»Nein, das will ich nicht. Ich werde nie angepasst an diese Scheißwelt sein. Und wissen Sie, warum? Weil einfach nirgends Platz für mich ist. Warum sollte ich mich zwanghaft irgendwo reinzwängen, wo man mich sowieso nicht haben will?«

Kemal erkannte die Sinnlosigkeit, ihn überreden zu wollen. Verbittert suchte er die Sachen zusammen und verstaute alles faltenlos in Torbergs Hotelschrank.

»Tragen Sie bitte wenigstens die neue Hose. Ihre Jeans steht vor Dreck. Das ist eine Zumutung. In einer der Einkaufstaschen liegen die Rechnungen. Das Taxi wartet um 14.30 Uhr.«

Desillusioniert verließ er das Zimmer.

In der Zentrale der Kirche des Lichts war inzwischen alles für das bevorstehende Treffen vorbereitet worden. Diesmal gab man sich mehr Mühe, in der Hoffnung, wenigstens zu einer fruchtbaren Zusammenkunft zu kommen, was auch immer daraus erwachsen sollte.

Anna spielte wieder die Dame, die sie nicht war, trug ein elegantes Kostüm und hohe, spitze Schuhe. Sie hatte für einen gedeckten Tisch gesorgt und schwitzte feuchte Hände. Alles wartete nur auf den Padre und Torberg.

»Ich bin gespannt, welche Überraschungen wir heute erleben.«

Anna fuhr herum. Wolff stand hinter ihr und zündete sich eine Zigarette an. Sie versuchte, den Rauch mit den Händen zu vertreiben. Misslaunig schob sie ihn an den Schultern zum geöffneten Fenster hin. Anna dachte sich nichts dabei, bis sie sah, dass Wolff genüsslich grinste. Reflexartig wollte sie ihre Finger von seinem Körper nehmen, doch er drehte sich um, fasste nach ihr und erwischte im letzten Moment ihre rechte Hand. Anzüglich und spöttisch grienend drückte er ihre Hand an seinen Bauch und schob sie immer weiter nach unten.

»Sie dürfen gern tiefer anfassen.«

Anna versuchte, ihren Arm aus seinem festen Griff zu zerren, aber er hielt sie fest.

»Nehmen Sie sofort die Hände von mir«, zischte sie. »Ich werde mich bei ihm beschweren.«

Wolff ließ los. Sein gehässiges Grinsen versiegte nur langsam.

Obwohl sie den Drang verspürte, hinauszurennen, um von ihm wegzukommen und ihre Hand gründlich zu waschen, blieb sie klopfenden Herzens trotzig vor ihm stehen. Er sollte nicht wissen, wie viel Angst sie vor ihm hatte. So viel, dass er ihr seit Langem sogar in Albträumen erschien.

Sie wollte ablenken und sah auf die Uhr. »Der Padre wird sicher pünktlich kommen, aber wie steht es mit Torberg?«

Anna dachte an die Socken, die sie auf ihren Aktenschrank geworfen hatte. Ob dieser Mann überhaupt so etwas wie Reisegepäck mit sich führte? Da sahen sie Alonsos Wagen wie eine Staatskarosse die Einfahrt passieren. Direkt dahinter fuhr ein Taxi auf den Hof. Wolff zerquetschte die Zigarette in einem Saftdeckel und zog das Fenster noch mehr auf, um den Rauch hinauszufächern.

Kurz bevor sie das Anwesen der Zentrale erreichten, fiel Jan sofort der Mercedes-Benz auf, der ihnen entgegenkam. Der Wagen bog vor ihnen ein und kam vor dem elektronischen Tor zum Halten.

»Donnerwetter«, rief Kemal, »eine Stretch-Limo!«

»Ein Maybach«, ergänzte Jan.

»S600 Pullman Guard, 6,36 Metern lang und gepanzert«, vervollständigte ihr Taxifahrer voller Begeisterung.

»Gepanzert? Wozu braucht der ein gepanzertes Fahrzeug?«

Jan kletterte halb über seinen Rechtsberater, um das Luxusauto zu bestaunen.

»Vielleicht hat er sich ja Feinde gemacht«, mutmaßte er.

Kemal drückte seinen Chef energisch von sich weg, zurück in den Sitz, um nicht mit seiner Jeans in Berührung zu kommen.

»Das Teil kostet mindestens eine Million Euro.« Der Taxifahrer war geradezu ehrfürchtig.

»Ich vermute, Sie sinken gleich zu Boden, um es anzubeten. Sehen Sie lieber zu, dass Sie den nicht anrempeln.«

Jans Sicherheitshinweis entlockte dem Fahrer ein müdes Lächeln.

Aus der Limousine vor ihnen musste niemand extra aussteigen. Das Tor öffnete sich wie von Geisterhand von selbst. Langsam fuhren sie hinterher, über den Hof, bis vor das Gebäude.

Jan ließ den Taxifahrer in größerem Abstand halten und als er ausstieg, vergewisserte er sich, ob Kemal ihm folgte. Im Schlendergang näherte er sich dem Fahrzeug, aus dem von hinten ein hünenhafter Mann ausstieg – schon aus der Entfernung eine eindrucksvolle Erscheinung. Er schien unglaublich breit, nicht dick, aber doch mit deutlichem Ansatz. Selbstverständlich trug er Anzug, wie erwartet. Je näher Jan kam, desto stattlicher erschien er ihm. Jan war sicher, dass der Koloss sich mit Krafttraining in Form hielt. Er selbst war ja nicht klein, aber dieser Mann überragte ihn mindestens um einen halben Kopf – ein Riese, wahrhaftig. Mit ernstem und – anders, als Jan es von einem Spanier erwartet hätte – blassem Gesicht, schmalen Lippen, das dünne schwarzgraue Haar ab den Geheimratsecken streng nach hinten gekämmt, stand Alonso vor ihm wie ein Berg und sah ihn interessiert abschätzend an. Sein Blick schien ihm so durchdringend, als wollte er in den Pupillen seines Gegenübers die Gedanken lesen. Dieser Blick stieß Jan bis in die Eingeweide, wusste der Teufel warum. Kein Mensch, außer seinem eigenen Vater, hatte es je geschafft, ihn innerhalb eines Augenblicks derart zu verunsichern, dass ihm Angst- und Fluchthormone den Bauchraum durchwühlten. Aber Jans Augen verrieten Alonso sicher nichts. Er trotzte dem Berg von unten aus direkt ins Gesicht, stumm, aufsässig, sekundenlang, ohne auch nur eine Miene zu verziehen oder gar zu zwinkern, obwohl er mit dem Theater in seinem Inneren kämpfte.

Kemal sah dem Geschehen von Weitem zu. Es schien ihm ein erster Kampf, eine Art ernstes Spiel, bei dem der verlieren würde, der zuerst seine Augen senkte. Beide sprachen kein Wort. Dann ging Alonso dazu über, Torbergs Äußeres zu mustern. Von oben herab streiften seine Augen Torbergs Körper, der in seiner ungewaschenen Kleidung steckte, und sie blieben stutzend an dessen nackten Knöcheln haften. Nach einem Runzeln der Stirn hielt er ihm überraschend die Hand entgegen, so nah, dass er Jans Brustkorb soeben berührte.

»Sie sind Herr Torberg, nehme ich an.«

Auf seinem Gesicht lag nun ein Lächeln, das Jan noch mehr irritierte als der zuvor abschätzende Blick.

»So ist es.«

Jan hatte nicht vor, ihm die Hand zu reichen. Im Gegenteil, er hatte sie demonstrativ in die Hosentasche gesteckt. Doch der Guru ließ die Finger da, wo sie jetzt ruhten, genau auf seiner Magengrube. Er sah Jan ohne Wimpernschlag an, in sicherer Erwartung einer Erwiderung. Solchermaßen gedrängt, vor allem wegen des durchgehend freundlichen Blicks, tat Jan es letztlich doch. Der Handschlag des Riesen fühlte sich wie die erdrückende Umarmung eines Oktopus an.

»Willkommen in meinem Haus«, sagte Alonso. »Ihr Auftreten gestern werte ich mal als Missverständnis … folgen Sie mir.«

Endlich ließ er Jan los, wandte sich ab und bewegte sich, einem Hünen gleich, begleitet von seinem Chauffeur sowie einem offensichtlichen Bodyguard, zum Eingang des Hauses. Dort hielt er persönlich die Tür auf.

Torberg blieb indes wie angekettet stehen, sodass Kemal ihm einen leichten Schubs von hinten gab.

»Na los, der Bär bittet zum Tanz!«

Mit einem Anflug von Schmunzeln beugte sich Jan zu Kemal und flüsterte ihm ins Ohr.

»Nun sehen Sie sich das an – ich soll mich elegant kleiden und der da trägt einen Zopf.«

Auch Kemal war aufgefallen, dass auf dem maßgeschneiderten Rückenteil des Mannes ein dünner geflochtener Zopf ruhte.

Jan und Kemal folgten der Einladung und während sie den Gastgeber passierten, fühlten sich beide wie kleine Jungen in ihrer Schulzeit. Natürlich ließ Jan sich nichts anmerken, aber Kemal glaubte nicht, dass er seine Unsicherheit verstecken konnte.

Bevor sich der Hausherr weiter mit ihnen beschäftigte, wandte er sich wie selbstverständlich dem Pförtner in der gläsernen Loge zu.

»Wie geht es Ihnen heute, Herr Leitz?« Auch ihm reichte er eine Hand und er drückte sie länger, als man es üblicherweise erwartet.

»Danke, sehr gut, mein Padre, sehr gut.«

»Das freut mich.«

Die Zuwendung zeigte Wirkung. Unterwürfig sprang der Mann aus seiner Loge und geleitete seinen Padre samt Gefolge zum Fahrstuhl, als könnten sie das nicht allein schaffen. Der Bodyguard und der Chauffeur blieben an der Tür stehen.

Im Aufzug wurde es allein aufgrund der einnehmenden Gestalt von Alonso verdammt eng. Der kleine Raum füllte sich mit prickelnder Stille. Alles war offen, nun konnte sonst was passieren. Kemal hätte diese Stille gern gebrochen. Doch blieben ihm die Worte im Leib stecken. Bereits jetzt wirkte Alonso bedrückend auf ihn. Was er von ihm wusste, war nicht viel. Aber das, was man sagte, reichte aus, sich zu fürchten und die Gefahr förmlich zu riechen.

Als sie Alonsos Büro betraten, warteten Wolff und Anna direkt an der Tür auf sie. Anna empfing sie mit routinierter Freundlichkeit.

Torberg folgte nur widerstrebend. Er hielt es nicht für nötig, Anna zu grüßen. Kemal holte das für ihn nach, wie üblich, die Form für seinen Vorgesetzten wahrend.

Anna starrte Torberg giftig nach. Alonso mochte ein Verbrecher sein, aber Benehmen hatte er schließlich. Es schien ihr zwar fraglich, ob das eine das andere entschärfte, doch im Moment wäre es ihr wichtig gewesen, wenigstens zur Kenntnis genommen zu werden. Aber Torberg sah durch sie hindurch, als existierte sie gar nicht. Er klebte an einem Fleck im Raum, schaute sich unschlüssig um, als überlegte er, ob er überhaupt bleiben sollte. Alle anderen saßen bereits und warteten nur auf ihn.

Anna nahm sich zusammen. Sie forderte ihn gezwungen freundlich auf, Platz zu nehmen, indem sie auf die bevorstehende Bewirtung hinwies.

Jan hatte sich inzwischen von dem ersten charismatisch aufgeladenen Eindruck erholt. Er schickte dem Padre ein zynisches Lächeln.

»Sie haben also die Taktik geändert. Heute versuchen Sie es nicht mit gönnerhafter Abfertigung, sondern mit aufgesetzter Höflichkeit.«

Damit ließ er sich rotznäsig auf den angebotenen Sessel fallen und blieb, mit einem Bein über die Lehne baumelnd, sitzen, wartend auf eine Reaktion.

Kemal fasste sich an die Stirn. Dieser Mann war dabei, ihn wahnsinnig zu machen. In dessen Begleitung war Blamage eine Regel.

Anna überging das entstandene Schweigen und begann höchstpersönlich, den Kaffee einzuschenken. Sie bewirtete den Padre zuerst und sah ihn verstohlen an. Er ordnete mit seinen groben Fingern Unterlagen, als hätte er nichts gehört. Aber Anna wusste genau, dass er jedes Wort, jede Bewegung seines Gegners registrierte. Er war dabei, sich ein Bild von Torberg zu machen, um seine Persönlichkeit zu studieren, ihn zu scannen. Mit seiner Menschenkenntnis hatte er meist schon in wenigen Minuten heraus, wie sich ein Mensch manipulieren ließ und es gab nur eine Handvoll, für die er länger brauchte. Dieser hier würde ihm sicher Kopfzerbrechen bereiten.

Sie war zu Torbergs Tasse vorgedrungen und goss sehr, sehr vorsichtig ein – immer in der Erwartung, er könnte die Tasse einfach unter der Kanne wegziehen. Aber, womit man rechnete, das tat er sowieso nicht.

Zum ersten Mal schien er sie wirklich zu sehen.

»Schönen Dank!«, sagte er und sie wusste nicht, ob er es ironisch oder freundlich meinte.

Jan nahm einen kräftigen und geräuschvoll schlürfenden Schluck und starrte sie währenddessen ungehemmt an. Dabei fiel ihm auf, dass sie anscheinend als Einzige hier im Haus keinen dieser auffälligen Anhänger trug, die ihnen, einschließlich diesem Padre, um den Hals hingen. Es waren Anhänger mit dem Motiv einer strahlenden Sonne.

Während sich Torbergs Blicke auf Anna konzentrierten, saß Kemal bedrückt in seinem Sessel. Ihm gegenüber saß Alonso, dieser einflussreiche, mächtige Mann und ihm war klar, dass er zwischen den beiden zu vermitteln hatte. Leider kannte er Torberg schon zu gut und dessen augenblickliche Laune schien alles andere als einlenkend.

Endlich rührte sich Alonso.

»Herr Torberg, ich habe Ihnen noch gar nicht mein Beileid ausgesprochen.«

Das kam unerwartet. Jan zuckte und verschüttete fast den Kaffee. Er zwinkerte ein paar Mal, als ob er einen Tick unterdrücken wollte.

»Für wen jetzt? Für meinen Vater oder meine Mutter?«, fragte er, nachdem er sich gefasst hatte.

»Sie haben recht. Sie müssen einen doppelt so schweren Verlust ertragen. Das tut mir leid für Sie. Ich habe Ihren Vater als sehr integren Menschen kennengelernt.«

»Er hat sich umgebracht.«

»Das weiß ich. So sollte kein Leben enden. Ich hätte nie gedacht, dass Ihr Vater so etwas tun könnte. Er hat sich erschossen, nicht wahr?«

Mit leicht flatterhafter Hand setzte Jan die Kaffeetasse ab. In Gedanken tauchte sein alter Herr vor ihm auf, mit einer Pistole in der Hand, die er langsam an die Schläfe führte und dann aufsetzte. Rauch und Hirnmasse … er sah all das Blut vor sich, das die Beamten vor ihm verschwiegen hatten.

»Nun, Herr Torberg …«

Jan bemerkte, dass er in Gedanken versunken war und alle anderen ihn erwartungsvoll anstarrten.

»… trotz all Ihres Schmerzes, den Sie verspüren. Lassen Sie uns über Geschäftliches sprechen. Deshalb sind Sie doch hier?«

»Sicher …« Jan war noch nicht ganz im Jetzt angekommen. »Ich frage mich, warum mein Vater überhaupt eine Pistole hatte. Wo hatte er sie her? Hatte er sie nur für diesen Zweck angeschafft?«

Alonso runzelte die Stirn.

»Vielleicht sollten wir das Gespräch doch ein anderes Mal führen. Sie sind emotional zu sehr angeschlagen.«

»Was denken Sie darüber?«

»Worüber?«

»Sie sagen, es passte nicht zu meinem Vater. Dasselbe sage ich auch.«

»Nun, dann sind wir uns ja einig. Was wollen Sie denn von mir hören?«

Jan zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, dass es Mord sein könnte.«

»Mord? Wenn Sie das glauben, dann sollten Sie mit der Polizei darüber sprechen.«

»Das habe ich, aber es interessiert sie nicht.«

Der Padre fixierte ihn nachdenklich. Anscheinend fiel es ihm schwerer als gedacht, Jan richtig einzuschätzen.

»Also gut. Die Sachlage ist Ihnen bekannt. Da Sie aus rätselhaften Gründen nicht in der Lage sind, den von mir vorgeschlagenen neuen Geschäftsführer, Herrn Wolff, zu akzeptieren, biete ich Ihnen folgendes Geschäft an …«

Kemal, im Sessel neben Jan, ahnte, von welcher Art dieses Geschäft sein würde, und hoffte insgeheim, sein Chef würde schnell und komplikationslos einschlagen.

Alonso schob Jan ein von Anna vorgefertigtes Schriftstück über den Tisch, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. Wie zu erwarten, würdigte der es mit keinem Blick. Er starrte Alonso regungslos an und Alonso blickte schmal, als erwartete er irgendeine trotzige Antwort.

»Sie sind kein Geschäftsmann. Das Geschäft, das ich Ihnen anbiete, wird dem sehr entgegenkommen.«

Noch immer blieb eine Antwort aus. Alonso schob ihm das Schriftstück näher hin.

»Ich zahle Sie aus – zu einem sehr wohlwollenden Betrag.«

Mit der Spitze seines goldenen S.T. Dupont Füllfederhalters deutete er auf die ausgeschriebene Summe. Kemal rutschte schnell zu Torberg hinüber und lugte auf den noch unwirksamen Vertrag. Was er las, übertraf seine Vorstellungen um einiges. Hektisch stieß er Jan an. Auch der hatte inzwischen die Augen auf das Blatt gesenkt.

»Das ist gut«, flüsterte Kemal, »durchaus angemessen – mehr als das!«

Doch seine Aufregung ging nicht auf seinen Chef über. Auch Jan wusste, dass es mehr als angemessen war. Er kannte die Summe seiner Beteiligung an dieser Firma. Ja, er hatte – was ihm hier sicher niemand zutraute – die Geschäftspapiere gesichtet, wenn auch flüchtig. Was Alonso ihm bot, überschritt den Wert seiner Beteiligung um das Doppelte. Gerade das machte ihn stutzig. Leute, wie dieser Padre verschenkten sicher nichts, selbst aus Bequemlichkeit nicht.

Er will mich loswerden, dachte er, und das so schnell wie möglich. Aber da hat er sich geschnitten.

Warum sollte er es nicht darauf ankommen lassen? Jan brauchte das Geld nicht. Es hätte ihn nicht einmal interessiert, bevor ihm diese unsägliche Erbschaft aufgedrängt wurde. Er begann ein schiefes Grinsen. Eins von der Sorte, seine Mitmenschen innerlich platzen zu lassen. Dann schüttelte er langsam den Kopf. Es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn er diesen Padre nicht aus der Ruhe bringen könnte.

Ernste Falten verdunkelten Alonsos Stirn, was Jan mit Befriedigung registrierte. Der Padre nahm etwas zu ruckartig den Vertrag an sich und unterschrieb im Voraus mit geschwungener, großer Schrift und blauer Tinte. Seine edelsteinbesetzte Breguet-Uhr blitzte kurz unter dem Ärmel hervor. Ein paar Blätter weiter unterschrieb er noch drei weitere Male.

»Überlegen Sie es sich nicht zu lange, junger Mann.«

Er wies auf Kemal. »Ihr Berater hat recht. Das ist ein unschlagbares Angebot. Ihnen bedeutet dieses Geschäft doch gar nichts. Bauen Sie sich mit dem Geld etwas auf, was Ihnen mehr liegt. Oder verschleudern Sie es, wenn Sie wollen.«

Kemal war ganz seiner Meinung. Wieder stieß er Jan an. Der grinste nur noch einseitig. Das Wort verschleudern stieß ihm unerträglich auf. Es erinnerte ihn an die Vorhaltungen seines Vaters, wenn es um Kunst und seine Unterstützung ging. Das hätte Alonso nicht sagen sollen.

»Behalten Sie den Wisch. Ich bleibe im Geschäft. Und wer weiß? Vielleicht werde ich Ihre Geschäftspraktiken mal überprüfen. Es interessiert mich, wie Sie Ihre Brötchen verdienen. Man hört da so einiges.«

Damit erhob er sich. Es tat ihm gut, für einen Moment auf seinen selbstgefälligen Widersacher hinunterzublicken.

»Man sieht sich«, warf er dem verdutzten Alonso hin.

Dann drehte er sich um und schritt zum Ausgang.

Jetzt rührte sich Wolff, der hinter Alonsos Sessel stand, und der den Schlagabtausch bisher stumm mitverfolgt hatte. Auf einen Wink des Padre nahm er die Verträge an sich. Er schob sein Kinn nach vorn, strich sich über das Haar, und folgte Jan Torberg zur Tür. Der sollte ihm nicht noch einmal sang- und klanglos entwischen. Mit seinem durchtrainierten Körper versperrte er den Ausgang und hielt Torberg die Papiere direkt unter die Nase. Zu seinem Leidwesen musste er zu Torberg nach oben sehen. Wolffs Stimme klang bedrohlich leise und unnatürlich ruhig.

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