Читать книгу: «TENTAKEL DES HIMMELS»

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Impressum

Deutsche Erstausgabe

Copyright Gesamtausgabe © 2022 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert

Lektorat: Manfred Enderle

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2022) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-655-9

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Tentakel des Himmels

Impressum

Prolog

Teil 1

Der Friedhof

Das Erbe

Taxi nach Düsseldorf

Die Zentrale der Kirche des Lichts

Anna

Teil 2

Lara

Im Hotel

Das Treffen

Annas Gewissen

Teil 3

Die Siedlung

Eine Patientin

Die Warnung

Teil 4

Der Padre

Annas Anteil

Ein Fest

In der Wohngruppe

Lea

Teil 5

Väterliche Umgarnung

Die Hacienda

Prügel

Teil 6

Die Lehre

Sorge

Gemeinschaft

Grauenvolle Entdeckung

Ein Komplize

Tage kamen und gingen

Lara und Jan

Die Weihe

Teil 7

Leas Ausweg

Angriff auf den Padre

Annas Flucht

David

Wolffs Geheimnis

Teil 8

Zweifel

Die Rückkehr der Rebellion

Ungleicher Kampf

Nicht nur gut und böse

Suche in Annas Haus

Der Kampf

Teil 9

Belastung

Ein Attentat

Erwachen

Das Füllen der Leere

Über die Autorin

Prolog

Im Grunde wusste er um die Aussichtslosigkeit seiner Flucht. Kai war nicht naiv genug, es zu leugnen. Der Gedanke an eine mögliche Rettung schuf eine dünnhäutige Verzweiflungsblase in seinem überlebenshungrigen Hirn – der Instinkt eines Primaten, eines Fluchttieres – das eigene Fleisch war zu retten, um jeden Preis. Trotz dieser Erkenntnis fuhr er weiter in die Dunkelheit hinein. Weil man es nicht wahrhaben will, weil man eben doch hofft, entgegen jeder Vernunft. Dabei hätte er es sich so einfach machen können: Stehenbleiben, aussteigen, auf der Straße die Arme ausbreiten, und sich erschießen lassen … oder was sie sonst mit ihm vorhatten. Dann wäre es schnell vorbei gewesen und er hätte seine Ruhe gehabt – endlose Ruhe. Aber nein, er fuhr immer weiter, mit dem Reisepass in der Innentasche seiner Jacke.

Dabei verdiente er nicht einmal die heißbegehrte Rettung, auch das wusste er. Gäbe es eine übernatürliche Gerechtigkeit, die nur annähernd an menschliche Vorstellungen heranreichte, würde sie ihn niemals so davonkommen lassen. Egal, wie bitter er seine Untaten jetzt bereute.

Ein weiteres Mal huschten Kais Augen auf das Abbild im Rückspiegel über ihm. Die Scheinwerfer eines nachfolgenden Wagens, die ihm eben noch Schweißausbrüche bereitet hatten, als wären sie die bösen Augen eines seelenfressenden Dämons, folgten ihm seit der letzten Kreuzung nicht mehr. Wenig erleichtert atmete er auf. Jetzt also noch nicht. Noch hatte er sein Leben.

Er überlegte, ob er Gott dafür danken müsste. Verächtlich schnaubte er vor sich hin. Gott? Ha! Mit einem Ruck legte er den nächsten Gang ein. Immer, wenn er an Gott dachte, sah er den sehr menschlichen Rücken eines großen, weiß gekleideten Mannes vor sich, der sich von einer Schar aufopferungsvoller Jünger anbeten ließ – diesen scheinheiligen Scheißkerl, von dem er sich hatte einwickeln lassen und für den er gelogen, betrogen und sogar gemordet hatte. Ja, er war ein Mörder – ein hinterhältiger Mörder. Einer, der andere verfolgt und ihnen das Leben genommen hatte. Einer, der jetzt selbst auf der Flucht war, vor noch skrupelloseren und grausameren Mördern, als er es war. Immerhin, in diesem abgründigen Sumpf aus Ausbeutung, Korruption und Gewalt gab es schlimmere Menschen als ihn. Das stimmte ihn versöhnlich, auch wenn ihm ein irdischer Richter das vermutlich nicht angerechnet hätte.

Die Tankanzeige meldete Reserve. Das hieß, er musste unausweichlich die abgelegene Landstraße verlassen, auf der er sich versteckter wähnte; von der er hoffte, dass sie ihn dort nicht suchen würden. So viele Umwege zum Flughafen konnten sie unmöglich einplanen. Im Display blinkte es bereits. Warten half nichts, er musste sich beeilen. Welche Tankstelle hatte um diese Uhrzeit und in dieser öden Gegend überhaupt geöffnet? Für einen Moment überlegte er, ob er den Wagen im angrenzenden Wald stehen lassen und in einer einsamen Pension des nächsten Kaffs unterschlüpfen sollte. Wahrscheinlich würden sie ihn so nah gar nicht vermuten. Von dort aus würde er Lara irgendwann wiedersehen können. Lara, die er zurücklassen musste, im Schoß der falschen Kirche. Die er nicht mitnehmen konnte auf seine Flucht, weil sie ihm niemals geglaubt hätte. Also hatte er ihr alles verschwiegen. Niemand gab ihm das Recht, ihr ideales Weltbild zu zerstören, indem er ihr die Wahrheit angetan hätte, über all die falschen Weisheiten und Versprechungen … und über sich. Ihr junges Leben war ohnehin schon verdorben. Er sollte sie in Ruhe lassen. Mochte sie glauben, was sie wollte. Manchmal war es besser, die Wahrheit nicht zu sagen.

Vor ihm tauchte wieder eine größere Kreuzung auf. Kai verwarf den Gedanken, in einem Dorf zu übernachten, und bog ab in Richtung Bundesstraße.

Er fuhr noch lange durch die Nacht, bis er die nächste Tankstelle ansteuerte – schwitzend, übermüdet und doch aufgekratzt – gerade rechtzeitig, bevor der Balken der Tankanzeige vollends am Anschlag kratzte. Ein paar Minuten blieb er direkt neben der Zapfsäule hinter dem Lenkrad sitzen und spähte aus sämtlichen Fenstern seines Wagens. Dann schüttelte er den Kopf über sich selbst. Jeder Idiot erkannte in ihm einen Flüchtigen. Auffälliger konnte er sich gar nicht benehmen.

Beklommen stieg er aus und sah sich um. Alles schien unauffällig. Eine der Lampen über ihm brummte, aus dem Kassenhaus drang leise Musik, und von irgendwo her erklang der Schrei eines Nachtvogels, was ihm so vorkam, wie das heimliche Signal eines Prärieindianers zum Angriff. Er nahm den Zapfhahn und tankte. In der übrigen Finsternis rund um das beleuchtete Dach der Tankstelle fühlte er sich wie eine fleischgewordene Zielscheibe. Verdammt, so konnten sie ihn problemlos von ein paar Metern Entfernung aus abknallen, ohne, dass er zuvor auch nur einen Schatten von ihnen wahrgenommen hätte. Niemand wusste das besser als er selbst. Unwillkürlich spannte er die Bauchdecke an, in der Erwartung, jederzeit von Kugeln zerrissen zu werden.

Das Benzin kroch quälend langsam durch den Schlauch. Klack! Kai riss den tropfenden Hahn aus der Tanköffnung, presste den Deckel auf das Loch, und lief ins Kassenhaus. Misstrauisch beäugte er den jungen Kassierer, während der auf die Tasten tippte. Sah er nicht aus wie jemand, den er kannte? Hatte er ihn schon einmal in einer der Kirchen des Lichts gesehen? Als er bezahlte, versuchte er, heimlich einen Blick auf den Hals des kräftigen jungen Mannes zu werfen. Was er suchte, war ein Amulett, ein Anhänger mit dem Symbol einer strahlenden Sonne. Zwar trug sein Gegenüber eine silberne Kette, aber was daran hing, versteckte sich wohlbehütet im Ausschnitt des dicken Pullovers. Der Junge hielt ihm das Restgeld hin und lächelte freundlich belanglos, wie es routinierte Verkäufer tun.

»Stimmt so!«, murmelte Kai und er eilte nach draußen, den Autoschlüssel einsatzbereit in der Hand.

Vor der Tür des Kassenhauses sah er sich um, obwohl er ja doch nichts in der Umgebung ausmachen konnte. Dann schritt er zügig auf sein Auto zu. So schnell wie möglich würde er wieder eine dieser verborgenen Landstraßen anfahren, auf denen er sich sicherer glaubte, obwohl es vermutlich nur ein trügerisches Gefühl war. Bevor er die Fahrertür erreichte, bemerkte er etwas vor ihm im Inneren seines Wagens – eine Bewegung, ein Schemen auf dem Beifahrersitz. War es wirklich so oder bildete er sich das bloß ein? Sein Herz führte einen zügellosen Tanz auf. Was nun? Allen Mut zusammennehmen und nachsehen? Oder lieber gleich flüchten? Obwohl er sich kalt fühlte, eisig geradezu, schwitzte seine Stirn heiße Tropfen. Sollten sie ihn tatsächlich jetzt schon aufgespürt haben? Nicht einmal vier Tage nach seiner Androhung, auszusteigen?

Er musste einen klaren Kopf bewahren.

Nachsehen, mach es so kurz wie möglich, keine Kurzschlussreaktion jetzt, beschloss er, auch wenn ihm mehr nach Flüchten zumute war.

Wieder war da dieser unsinnige Schimmer Hoffnung, der inmitten seines Hirnwassers schwappte und der ihn mit dem Glauben an eine Chance überflutete. Vielleicht umspülte er ihn deshalb, weil Kai meinte, dieses eine Mal etwas ethisch Wertvolles zu tun. Diese Verfolgung, das alles hier, hatte er sich selbst eingebrockt. Er hätte sich die ganze Angst ersparen können. Aber nein, er musste ja dem Gottkönig in einem Anfall unfassbarer moralischer Stärke dessen Abscheulichkeit um die Ohren schleudern. Nun musste er da durch. Er selbst hatte an diversen Rückholaktionen Abtrünniger, und somit Verrätern, teilgenommen. Dass manch einer von denen weder zurückkehrte, noch dort ankam, wohin er flüchten wollte, war mehr als einmal seinem eigenen fragwürdigen Verdienst geschuldet gewesen. Warum sollte er annehmen, dass es ihm anders ergehen könnte? Wie konnte er damals nur glauben, alles würde gut gehen, als der Padre ihn einfach so aus seiner Kirche spazieren ließ? Was hatte er sich nur dabei gedacht? Zögernd und mit Rauschen in den Ohren näherte er sich der Wagentür, in dem Wunsch, bloß ein Opfer seiner Angst zu sein. Doch drei Schritte vor dem Fahrzeug starrte ihn aus seinem eigenen Autofenster das Gesicht eines Mannes an, das er kannte, dessen aalglatte, nach hinten gegelten Haare im Licht der Tankstellenbeleuchtung verräterisch glänzten. Die rechte Hand Gottes! Wie gelähmt blieb Kai stehen, den Autoschlüssel in die Handfläche gekrallt. In diesem Moment spürte er eine Luftbewegung im Nacken, die ihm die Haare aufstellte. Kai riss den Kopf herum, sah die Faust des Kassierers auf sich zukommen und bückte sich instinktiv, um auszuweichen. Der Schlag verfehlte ihn. Er kämpfte mit seinem Gleichgewicht, hielt sich gerade noch, sodass er nicht fiel. Mit einem Schrei aus Angst und Schreck warf er sich gegen den Oberkörper seines Widersachers, mehr, um an ihm vorbeizurennen, als ihn umzuwerfen. Sie landeten beide auf dem Boden. Der Brustkorb des Jungen war hart und stieß in Kais Rippen, das Kinn traf ihn schmerzhaft am Jochbein. Kai stöhnte auf, kam auf die Knie und fasste sich ins Gesicht. Im Augenwinkel bekam er mit, wie der Mann aus dem Wagen stieg und langsam auf ihn zuschritt, während der andere sich vor ihm aufrichtete. Kai befahl seinen Beinen, aufzustehen. Taumelnd mühte er sich um Bewusstsein. Dann stieß er die beiden von sich, rannte los, kopflos, ohne nachzudenken. Weg von hier, nach vorn, ins Dunkle, immer weiter, bis in ein Maisfeld hinein, wo er über seine Füße stolperte und sich wieder aufraffte. Ganz so, wie es seine eigenen Opfer getan hatten, denen er gefolgt war. Ob ihm jemand hinterherlief, hörte er nicht. Zu laut pulsierte es in seinem Kopf. Vor ihm sah er nur die Dunkelheit und er spürte das Kratzen der Maisblätter auf seiner Haut, die er blind mit den Armen abzuwehren versuchte. Er rannte, griff orientierungslos in die Finsternis und fasste nach den umknickenden Halmen, als könnten sie ihm helfen.

Auf einmal war all das weg. Seine Beine trugen ihn nicht weiter und die Welt um ihn herum wurde noch schwärzer als zuvor. Sie hielten ihn von hinten fest. Die Flucht endete hier. Es wurde ihm sofort klar. Der Schimmer von Hoffnung in seinem Kopf verglimmte wie auf einem sich krümmenden Docht. Das war das Ende. Auf sein Gesicht legte sich etwas – ein kalter Film, den er mit dem eigenen Atem an Mund und Nase ansog und der auf seinen unbedeckten Augäpfeln kleben blieb. Kai zog nach Luft, wollte das Ding von seinem Kopf lösen, das sie ihm übergezogen hatten, aber sie hielten auch seine Hände fest. Mit aufgerissenem Mund lechzte er nach Sauerstoff, doch er behielt immer nur diese Folie im Mund, statt Luft zu bekommen. Sein Brustkorb schmerzte. Seltsam, jetzt dachte er an Lara – wie sehr er sie liebte und dass er sie vermisste und wie gern er sie in die Arme nehmen würde. Genau jetzt wusste er, warum er all das riskiert hatte: Nicht, weil er ein besserer Mensch geworden war – nein, weil er es nicht mehr ertragen konnte, sie zu belügen. Und nun tauchte sie im Geist vor ihm auf und lächelte ihn an, so nah, als könnte er sie berühren. War das ein Teil seines Lebens, das an ihm vorbeizog, wie es geschehen soll, bevor man stirbt? Aber er sah gar nicht sein gesamtes Leben vor sich, sondern nur Lara, wie sie ihn anlächelte mit ihrem verklärten Blick und jetzt wollte sie ihn küssen … doch dann gewann die Wirklichkeit. In den Ohren knisterte es bei jedem Atemversuch. Es war nicht einmal mehr Platz für ein Geräusch des Röchelns von ihm selbst. Gierig kämpfte seine zusammengefaltete Lunge um jeden Millimeter Ausdehnung. Es fühlte sich an, als wollten die Lungenflügel in ihrer Qual implodieren. Ihm wurde schwindelig … immer mehr … der Schmerz ließ nach, verschwand, und er merkte noch, wie er zu Boden sackte.

Der Friedhof

Eine Mischung aus Moder und Unkrautvernichter drängte sich in Peter Torbergs Nase, wie jedes Mal, wenn er das alte gusseiserne Tor aufschob. Den Geruch verband er mit dem Tod, mit der Beerdigung seiner Frau, und dem Dahinsiechen am Ende ihres Lebens. Er hasste diesen Beigeschmack des Todes, darum ließ er auf ihrem Grab Lavendel anpflanzen. Zumindest in Sommerzeiten maskierte der Duft der Staude den Mief des Friedhofs.

Welke Buchenblätter übersäten jetzt den feinen Schotterweg unter seinen Halbschuhen. Vom Nebel gehauchte Wasserperlen auf Schaft und Vorderkappe ließen das glänzende Leder rau aussehen. Nach ein paar Metern vereinten sich die braunen Blätter auf dem Weg mit den Resten von Nadeln und Zweigen einer vor Tagen geschnittenen Eibenhecke. Dahinter verbargen sich volle Abfallcontainer und Gartengeräte. Durch eine Lücke der mannshohen Einhegung konnte man die Gerätschaften erkennen. Für einen Moment verlor dort die Friedhofsatmosphäre das Stille und Andersartige. Peter schritt langsam vorbei, die kalten Hände in den Taschen seines schwarzen Dufflecoats vergraben. Das Gefühl, belauert zu werden, beschlich ihn angesichts der Hecke. Ob sie ihm bis hierher gefolgt waren? Er zögerte kurz, dann kehrte er um und zwang sich, zwei Meter in die grüne Einfriedung einzutauchen, um sich zu vergewissern. Nichts, auch kein verdächtiges Geräusch. Offensichtlich teilte keine einzige lebendige Seele die Einsamkeit mit ihm und alle anderen hier waren stumm, taub und blind.

Er setzte seinen Weg fort, noch immer schwanger mit der unangenehmen Ahnung, versteckte Augen könnten ihn beobachten. Peter passierte einige Grabsteine ihm unbekannter Toter, deren Namen er ungewollt mit jedem seiner zahlreichen Besuche mehr verinnerlichte. Sicher auch deshalb, weil er sich gern mit dem Lesen der Inschriften ablenkte, bevor er die Grabstätte erreichte.

Da lag sie. Claudia Torberg, geboren 14. Dezember 1960, gestorben 26. Mai 2018. Die Lavendelblütenstängel zeigten sich inzwischen entblößt, ihr Duft war am Anfang des Herbstes mit den vertrockneten Hülsen verflogen. So biss der Gestank der Friedhofsmischung weiter in seine Geruchsgänge und hielt den Gedanken an den alles umgebenden Tod aufrecht. Unwillkürlich malten sich Bilder in seinem Kopf. Nicht nur von ihrem ausgemergelten Leib vor dem Ende und vom wachsblassen Anblick des aufgebahrten Leichnams. Peter quälte die Vorstellung der fortschreitenden Verwesung, die Claudias dünne Haut im Sarg mehr und mehr zersetzte.

Es war früh am Morgen und noch immer dämmerig. Die Luft stand wie ein bewegungsloser Schleier. Feuchte Kälte kroch von unten in seine Hosenbeine. Eine Krähe hüpfte von Claudias Grabstein auf das Nebengrab, als sie ihn kommen sah. Die Mahnung seiner Großmutter fiel ihm ein, die ihn als Kind hatte schaudern lassen. Springe nie über Grabsteine, sonst greifen die Toten mit ihren Händen nach dir! Die beneidenswerte Krähe dachte sicher weder an den Tod noch daran, dass Claudia sie in die Erde ziehen könnte.

Sie hatten gekämpft, gemeinsam, zwei Jahre lang. Und wie! Nichts ließen sie unversucht, jede noch so kleine Chance ergriffen sie. All das blieb fruchtlos.

Peter legte eine frische rote Rose auf den polierten Marmorstein und wischte mit einem Taschentuch und Speichel den Vogelmist der Krähe weg.

»Du wolltest dich Gott zuwenden und verlorst dich in den Fängen eines abgöttischen Tentakels«, flüsterte er. »Und ich machte alles mit. Warum nur haben wir die wenige Zeit nicht anders genutzt?«

Wie konnten sie beide sich nur derart verlieren. Ein Geistlicher und Wunderheiler – was für ein Schwachsinn. Doch damals schien es ihnen die letzte verheißungsvolle Hoffnung gegen Claudias Krebs zu sein. Der charismatische Vater, der Padre, wickelte sie in ein Gespinst aus falschen Versprechungen ein. Peter hatte immer gedacht, so etwas könnte ihm nicht passieren. Ein Mann wie er entschied nicht mit dem Bauch, sondern mit dem Kopf. Zuerst sah er zerknirscht dem Handauflegen des Gottgleichen zu. Sie wollte es unbedingt und sie glaubte daran. Sollte er ihr das verbieten? Als Claudia aber nach all dem Heilfasten und Beten unerklärlich auflebte, weinte er vor Freude und vergaß alle Vernunft. Sie ahnten ja nichts von dem umwerfenden Placeboeffekt, den allein der Glaube an Heilung bewirken konnte. Vielleicht wollten sie es auch einfach nicht wissen. Für diesen Humbug hatte er Geld gespendet, viel Geld. Das halbe Vermögen aus seinem Unternehmen verschenkte er. Dann ließ er sich auch noch überreden, in Gesellschaften dieser Kirche zu investieren … Er hätte es besser der gescheiterten Existenz seines Sohnes hinterherwerfen können, denn man hatte sie betrogen. All die verlogen hingeworfenen Hoffnungsschimmer stahlen ihnen nur Zeit. Der Onkologe sagte später, mit einer palliativen Chemotherapie hätte sie noch Jahre lebenswert verbringen können.

Nun war Claudia für immer fort, viel früher als nötig. Weil er sein Denkvermögen eingebüßt hatte. Wertvolle Zeit war ihnen verloren gegangen. Wochen auf Sylt vielleicht oder sogar auf Neuseeland. Sie hätten all die Dinge genießen können, die sie schon immer erleben wollten. Die eigene Blödheit hatte es verhindert, das war das Schlimmste.

Zu der Wut und der Scham gesellte sich der finanzielle Verlust. Nicht einmal einen Teil des Geldes gaben sie ihm zurück. Selbst seine hartnäckige Drohung, die Forderung über Gerichte klären zu lassen, ließ sie kalt. Ihr Einfluss reichte erschreckend weit. Bereits die dritte Anwaltskanzlei, die er fragte, hatte den Fall abgelehnt und auf andere verwiesen. Einzig die Androhung eines Interviews mit der überregionalen Zeitschrift Weltenecho brachte Unruhe in die Sektenführung. Seitdem bedrohten und verfolgten sie ihn, seit Wochen nun schon. Er sah sich um. Bestimmt lauerten sie auch hier. Gab es da nicht auch den alarmierenden Fall von Kai Holzmann, dem Geschäftsführer einer der Gesellschaften? Er war verschollen, gerade dann, nachdem er Peter gegenüber angedeutet hatte, die Sekte zu verlassen. Was für ein Sumpf aus Lügen und Sünden. Nicht Gott lenkte die Sekte, der Teufel war es.

Doch inzwischen war es ihm fast egal. Peters Motivation, das durchzustehen, versank wie bei jedem seiner Friedhofsbesuche in der Trauer um Claudia. Rache? Wozu? Seine Frau kam dadurch nicht zurück. Ihm blieb nur die Einsamkeit. Er hatte einen Sohn. Der vegetierte als obdachloser Künstler in Berlin. Jan wusste nicht einmal, woran seine Mutter verstorben war, geschweige denn, unter welchen Umständen. Er hatte nie danach gefragt. Jan und er lebten völlig verschiedene Leben. Ihn anrufen? Es widerstrebte Peter. Nicht nur falscher Stolz hielt ihn zurück. Was sollte Jan denken, wenn er von der Verstrickung in die falsche Kirche erfahren würde? Nach dem Tod von Jans Mutter sehnte Peter sich jeden Morgen und jeden Abend nach einem Lebenszeichen seines einzigen Kindes. Er hatte den Jungen vergrault, ihm zu wenig Liebe gezeigt. Wegen ihm war Jan nach Berlin gezogen, möglichst weit weg von Streit und Verständnislosigkeit. Gern wollte er wieder gutmachen, was er in frühen Jahren verpasst hatte. Peter hatte das Testament geändert. Jan sollte das, was noch übrig war, erben. Nicht als Pflichtteil, sondern alles, was in der Vorversion des Testamentes bereits der Sekte zugedacht war. Und ihn, Jan Torberg Junior, den rebellischsten und dickköpfigsten aller möglichen Söhne, würde der Padre mit noch so großer Scheinheiligkeit niemals beschwatzen können. Peter selbst resignierte inzwischen.

Der Nebel zog seinen milchigen Schleier dichter um ihn. Vom Nebengrab aus starrte ihn die Krähe an und schrie auf, als wollte sie ihn fragen, welchen unheiligen Gedanken er gerade nachhing. Ja, er hatte daran gedacht, die Wartezeit bis zur Vereinigung mit seiner Frau erheblich zu verkürzen und zahlreiche Mittel und Wege abgewogen, die es ihm leicht machen sollten. Zu Hause und im Büro seiner Firma dachte er unentwegt daran, die Lügner aus der Sekte mit allen Mitteln zu bestrafen. Doch dann stand er jedes Mal schwach und wie betäubt vor dem Grab seiner Frau und überlegte, aufzugeben und für immer zu verschwinden – dahin, wo Claudia auf ihn wartete.

Er strich mit dem Zeigefinger über die Rose.

»Ohne dich macht alles keinen Sinn.«

Peter hörte das leise Knirschen von Sohlen auf nassem Schotter hinter sich. Gleich darauf überzog Gänsehaut seinen Nacken, als lägen nur Millimeter zwischen ihm und dem Atem eines fremden Menschen. Man merkt, wenn sich jemand von hinten nähert. Jedenfalls dann, wenn man in gänzlicher Stille verharrt. Da waren sie also, die Schergen des Padre, die Schläger Gottes. Er war sich sicher, doch die Enge seines Geistes im Bann des Grabes hinderte ihn daran, sofort um sich zu schlagen. Erstaunt nahm Peter seine Trägheit wahr, panische Angst zu empfinden. Die musste er gewiss haben, denn warum sonst sollte sich jemand an einsamer Stelle an ihn heranschleichen. An Geister glaubte er nicht, auch, wenn er manches Mal insgeheim auf die Hände seiner Frau hoffte, die ihn zu ihr in die weiche Erde ziehen wollten.

Peter nahm das Rauschen von Kleidung neben sich wahr und spürte eine Hand auf seiner rechten Schulter. Nun begann sein Herz doch, kräftig zu klopfen. Aber er sah sich nicht um, weder nach hinten noch zur Seite. Er starrte ohne zu Zwinkern die Krähe an, die wieder auf Claudias Grab hüpfte. Eine Hand fasste nach seinen Fingern. Sie fühlte sich unecht an, künstlich – nicht so warm wie die Haut eines Menschen. Zwischen seinen Fingern wiederum fühlte er etwas schrecklich Kaltes. Man hob Peters Arm, das Kalte drückte gegen seine Schläfe, sein Zeigefinger krümmte sich, ohne dass er etwas dazu tat. Er ließ es geschehen.

Ich komme, dachte er.

Der Atem neben ihm ging fast lauter und schneller als sein eigener. Dann riss es ihm fast den Kopf weg.

399
477,84 ₽
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9783958356559
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