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Kapitel 4


Der Tag gefiel ihr. Es war genau diese Art von Stimmung, die sie mit ihrer Kamera einfangen wollte.

Das Wetter war kühl, neblig und wirkte geheimnisvoll. Charlotte Hagedorn trällerte, als sie, mit ihrem Rucksack auf den Schultern und in ihren dicken Wollmantel eingepackt, ihr Fahrrad über den Sandweg Richtung Staberhuk dirigierte. Sie kratzte sich mit einer Hand unter ihrer mit Delfinen bestickten Mütze. Die Künstlerin wusste aus Erfahrung, dass sie bei dem Wetter fast eine Stunde unterwegs sein würde, bis sie ihr Ziel erreichte. Sie kannte sich aus. Sie liebte es, auf der Insel Fotos zu machen, wenn keine Sonne schien. Sie inspizierte selbst Orte, die Insulaner nie vorher aufgesucht hatten. Unheimliche Orte, an denen Geheimnisvolles aufzuspüren war. Nicht umsonst nannte man sie die Miss Marple der Insel. Durch ihre manchmal etwas eigenwillige Art, Ereignissen nachzugehen, hatte sie den Kommissaren Dirk Westermann und Thomas Hartwig von der Mordkommission Oldenburg das eine oder andere Mal bei der Aufklärung einiger Mordfälle auf Fehmarn helfen können. Selbst wenn ihre Hilfe nicht immer erwünscht gewesen war.

Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war fast 9 Uhr, als sie die Spitze des Leuchtturms Staberhuk in weiter Ferne wahrnahm. Ihr Herz klopfte, und eine frische Röte überzog ihr Gesicht. Ob dies an der Vorfreude auf ihre Fotosafari im Nebel lag oder der fast 16 Kilometer langen Strecke geschuldet war? Wild entschlossen trat sie in die Pedale ihres roten Fahrrades und hatte nach weniger als zehn Minuten ihr Ziel erreicht.

Ein Leuchten trat in ihre Augen. Pfeifend fuhr sie den schmalen Sandweg entlang, bis sie nicht mehr weiter konnte. Die kleine Teerstraße, die den Radweg kreuzte, stoppte ihren Übereifer, und sie bremste quietschend den fast 20 Jahre alten Drahtesel aus. Sie sprang übermütig vom Rad und rückte ihren Rucksack zurecht. Der Blick nahm ihr wie immer den Atem.

Der 1903 massiv erbaute, jüngste Leuchtturm im Südosten der Insel, hatte es ihr von Anfang an angetan.

Der Turm thronte direkt an der Steilküste und lieferte nach wie vor eine strategisch wichtige Befeuerung der Seestraße. Charlotte Hagedorn kannte viele Geschichten um diesen Leuchtturm. Sie stellte ihr Fahrrad an einem wilden Rosenstrauch ab, der direkt am Hang gewachsen war und von dessen Blüten sie jedes Jahr wunderbar duftende Rosenmarmelade einkochte. Erleichtert kraxelte sie, das Ziel am Fuß der Steilküste im Auge, zwischen dem Buschwerk den Abhang hinunter, um für einen Moment an ihrem Geheimstrand auszuruhen. Sie wollte sich das Leuchtfeuer aus genau der Perspektive anschauen und Fotos schießen.

Charlotte strahlte, als sie den Turm hinaufblickte, der von den wenigen Sonnenstrahlen ausgeleuchtet wurde. Sie setzte sich auf einen der großen Findlinge und stellte das Objektiv ein. Dann richtete sie die Kamera auf das verschwommen wirkende Meer, das spiegelglatt und in Nebel getaucht vor ihr lag. Sie roch den Seetang, der sich zwischen den Steinen aufgehäuft hatte, und drückte ab.

Auf einmal hörte sie Gelächter und sprang auf. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen und sie fühlte sich gestört in diesem Moment der Stille.

Unwirsch reckte sie ihren Kopf erneut. Die Neugier war größer als ein unheimlich anmutendes Foto. Sonst wäre sie nicht Charlotte Hagedorn. In dem Moment nahm sie eine Person auf dem vorgelagerten Portal des Leuchtturmgeländes wahr. Sie sammelte ihren Rucksack vom Boden, steckte die Kamera hinein und begab sich auf den Rückweg. »Warte«, grummelte sie und kraxelte den Weg zurück, den sie vor Kurzem erst heruntergeklettert war. Charlotte Hagedorn klopfte ihren Mantel ab, auf dem sich Sand und Äste verfangen hatten. »Na warte«, murmelte sie erneut und marschierte energisch auf den Eingangsbereich des Leuchtturms zu. Sie wusste, dass niemand sich auf dem Gelände aufhalten durfte, der keine ausdrückliche Berechtigung dazu hatte. Das Tor war verschlossen. Eigenartig, dachte sie und rüttelte daran, ohne dass es sich nur einen Zentimeter öffnen ließ. Wie war da jemand rein gekommen? Entschlossen rückte sie ihre Mütze zurecht, sah sich um, und kletterte mühelos über das Geländer. Eilig huschte sie am rot-gelben Leuchtturm vorbei, der sich wenige Meter hinter dem Tor emporstreckte, und verbarg sich hinter einer Hecke, die zur vorgelagerten Freifläche führte. Von dort schienen die Geräusche zu kommen. Zuerst vernahm sie leises Gekicher, dann wurde der Tonfall mit einem Mal ernst und angsterfüllt. Sie unterschied drei Stimmen. Charlotte lugte hinter dem Busch hervor und erfasste augenblicklich die Situation. Eines der Mädchen ruderte wild mit den Armen und drohte den Abhang hinunterzustürzen. Zwei andere standen regungslos vor der alten Bank. Charlotte setzte zum Sprung an.

Sie griff, ohne zu zögern, nach dem Arm des Mädchens und riss es von der bröckelnden Kante zurück. Beide fielen zu Boden. Tildas Beine hingen weit über dem Abhang und sie versuchte krampfhaft, sich mit ihren Fingern an der Hand der fremden Frau festzukrallen, um nicht wegzurutschen. Eine falsche Bewegung, sie würde den Halt verlieren und in die Tiefe stürzen. Mit der anderen grub sie sich immer wieder in den losen Sand, der keinen Halt gab. Charlotte hielt das Handgelenk des Mädchens so fest umschlungen, wie sie konnte. »Helft uns endlich!«, schrie sie wutentbrannt mit hochrotem Kopf den beiden anderen Mädchen zu. »Ich kann sie nicht mehr lange halten!«

*

Der Beifahrer stieg aus dem Führerhaus des Lkws.

Er hatte die Insel seiner Begierden erreicht. An Fehmarn hatte er viele Erinnerungen, die gerade in seinem Gedächtnis nach oben geschwemmt wurden.

Mit einem kurzen Gruß verabschiedete er sich von dem Fahrer. Es war Mittag, als er an der Ausfahrt Richtung Burg stand. Da er kaum Geld in der Tasche hatte, musste er sich zu Fuß auf den Weg zu seinem Ziel aufmachen. Er stöhnte. Der Fußmarsch würde ziemlich viel Zeit in Anspruch nehmen. Mit zwei Stunden rechnete er mindestens. Als er die Hauptstraße entlang stapfte, entdeckte er auf der rechten Seite eine Fastfood-Kette. Er schluckte und wollte sich einen Burger und ein Getränk leisten, weil sein Magen seit Stunden knurrte. 27 Euro 50 Cent waren nicht viel. Wo er schlafen konnte, wusste er. Das würde ihn nichts kosten. Er lächelte verhalten, kaufte drei Burger für je einen Euro und einen großen Becher Kaffee und machte sich wieder auf den Weg. Morgen würde die Welt ganz anders aussehen.

Burg ist echt tot zu dieser Zeit, überlegte er und wollte schon Richtung Sahrensdorf laufen, als ihm eine bessere Idee kam. Obwohl er ahnte, dass sich auf Fehmarn einiges verändert hatte, wusste er doch, dass im Hafen von Burgstaaken immer Boote im Wasser liegen blieben, die meist Anglern gehörten, die auch im Winter fischten, oder Seglern, die zu träge waren, ihre Schiffe einzuwintern. Er würde mit einem der Boote dorthin fahren, wo er sich verstecken konnte. Dieses Wissen entlockte ihm ein verächtliches Grinsen. Mit finsterer Entschlossenheit lief er den Staakensweg hinunter, um wenig später ins Hafengelände zu gelangen. Die Enttäuschung war allerdings groß, als er das fast leere Hafenbecken erblickte. Kaum ein seetüchtiges Wasserfahrzeug, das er für sich nutzen konnte. Drei einsame Segelboote, ein GFK Boot und ein Angelkutter. Otto, wer nannte sein Schiff Otto? Er strich mit der Hand über seinen Bart, betrat den Steg und begutachtete die offene Kunststoffschale, die am Ende des Bootsstegs lag. Vielleicht ein bisschen auffällig … aber es war ja bald dunkel. Alles gut, wenn genügend Sprit im Tank ist. Aber der Weg war nicht ohne, und wenn das Benzin ausging, hatte er im Dunkeln die Arschkarte gezogen. Er lief zurück zum Angelschiff mit dem merkwürdigen Namen. Der Aufwand, um in die abgeschlossene Kajüte zu gelangen, war für ihn ein Leichtes. Nur, wie kam er an den Strand? Dieses Boot konnte er nicht ans Land ziehen. Viel zu groß. Und zu dieser Jahreszeit vor Anker zu liegen und ins eiskalte Wasser zu müssen, um an den Strand zu kommen, war absolut keine gute Idee.

Er entschied sich für die einfachere Lösung der offenen Version, die höchstens sieben Meter lang war und sich bis an den Strand bringen ließ. Diese kleine offene Nussschale war genau das, was er suchte. Es dämmerte. Der Wind hatte aufgefrischt. Prüfend sah er sich um. Kein Mensch weit und breit. Lächelnd stieg er in das Kunststoffboot und hoffte, dass der Motor ansprang. Er öffnet den Benzinhahn, zog den Choke, dann das Zugband mit hartem Ruck. Kurzes Brummen, nichts. Vorsichtig sah er sich erneut um. Noch einmal griff er den Knauf, zog ihn ruckartig heraus, und endlich fing der Motor an zu blubbern. Erleichtert hob er den Tampen vom Holzpflock und fuhr an. Er guckte sich noch einmal um und stellte fest, dass niemand ihn bei der Aktion beobachtet hatte. Als er die Hafeneinfahrt hinter sich gelassen hatte, steuerte er Richtung Staberhuk. Der Wind kam aus Ost und blies ihm eiskalt ins Gesicht. Jetzt konnte ihn nichts mehr aufhalten. Ein paar Dosen rollten auf dem Boden des Bootes von einem Ende zum anderen. Es störte ihn nicht. Der einsetzende Regen umgab ihn wie ein unsichtbarer Mantel.

*

Aus ihrer Schockstarre gerissen, warf Lotta sich auf den Boden, um ebenfalls nach Tildas Hand zu greifen. Sie hing nach wie vor wie ein Sack mit den Beinen über dem Abgrund. Charlotte versuchte mit eiserner Kraft, sie zu halten. Stina rutschte auf Knien zur Kante und zerrte am Hosenbund der Freundin. Mit gebündelter Kraft zogen sie die schlanke Frau von der Felskante. Schweißgebadet saßen sie wenig später alle erschöpft nebeneinander auf dem kalten Boden und starrten sich an. »Was hast du dir dabei gedacht, junge Dame«, schalt Charlotte Hagedorn das schwarz gekleidete Mädchen, dem sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war. Lotta und Stina schauten verschämt zu Boden. »Und was habt ihr im Sinn gehabt, hier herumzulungern? Ihr wisst wohl, dass das Privatgelände ist und Zutritt strengstens verboten?«

»Und Sie, wohnen Sie etwa hier?«

Charlotte erhob sich. »Nein, aber ich kenne mich hier aus. Dies ist Privatgrund, auf dem niemand, außer dem Besitzer des Hauses am Eingang und dem Pächter des Leuchtturmwärterhäuschens, etwas zu suchen hat. Da hier zurzeit keine Menschenseele urlaubt, gehe ich davon aus, dass ihr hier eingestiegen seid, oder sehe ich das falsch?«

»Sie wohnen doch auch nicht hier, oder irre ich mich?« Tilda, die ihre Selbstsicherheit wiedergefunden hatte, stellte sich auf die Beine.

»Nein, ich wohne hier nicht und wollte euch nur vor gewaltigem Ärger bewahren. Glaubt es mir. Wenn die Eigentümer kommen, gibt es richtig Ärger.«

»Und was machen Sie dann hier?«, wollte Stina wissen und stand ebenfalls auf. »Ich hatte vor, Nebelfotos zu schießen. Das Licht war perfekt, und dieser Ort hat etwas Geheimnisvolles.«

»Das ist ja interessant«, entgegnete Lotta. »Dann können Sie mir vielleicht ein paar Tipps geben. Sind Sie denn Fotografin? Ich möchte unbedingt eine Fotoreihe erstellen und bin auf der Suche nach den passenden Motiven.« Charlotte sah die attraktive Blondine an und neigte den Kopf. »Haben Sie denn eine anständige Kamera dabei?«

»Ja, meine Nikon und … ich denke schon.«

»Ja, dann könnte das was werden. Aber nicht mehr heute. Mir ist die Lust für den Moment vergangen. Ich brauch erst mal ein Likörchen.«

»Oh, dann kommen Sie doch mit uns. Wir haben jede Menge in der Hütte. Das beruhigt unseren Geist«, murmelte Tilda versöhnlich.

»Wo seid ihr denn untergekommen?«, wollte die Fotografin wissen. »In der kleinen Holzhütte im Wald«, sagte Lotta und deutete hinter sich. Die Mädchen kletterten über den Zaun und verließen das Grundstück. Charlotte tat es ihnen gleich und quälte sich über das Geländer. Sie nickte zustimmend, als sie wieder festen Boden unter ihren Stiefeln hatte: »Das Angebot nehme ich gerne an. Ich muss nur mein Fahrrad holen.«

Sie eilte zurück zum Knick und holte ihr Vehikel. Gemeinsam spazierten sie Richtung Waldhütte.

»Oh, das ist ja gemütlich«, offenbarte Charlotte ihre Verwunderung, als sie eine halbe Stunde später in die Hütte eintrat. »Ich dachte immer, die steht längst leer.«

»Na ja, wir haben gebettelt, damit wir sie bekommen. Die Besitzer wollten sie über den Winter eigentlich gar nicht mehr vermieten, und wie ich die Besitzerin verstanden habe, im kommenden Sommer abreißen. Sieht ja nicht unbedingt nach Luxusresort aus. Aber wir haben es dringend gemacht und schwupp – hatten wir das Knusperhäuschen. Gerochen hat es hier drinnen auf jeden Fall, als wenn es ewig nicht mehr vermietet wurde. Voll modrig«, lachte Tilda und rümpfte die Nase.

»Wir mussten jedenfalls lange lüften, und der Geruch vom Holz im Ofen und der frischen Waldluft hat den Rest aus der Hütte verscheucht.«

»Es stank hier drinnen merkwürdig«, warf Stina ein und kräuselte die Nase.

»So nach Gruft. Eine Gruft an der Küste … Küstengruft. Wäre ein guter Titel für einen Thriller«, überlegte Tilda und zog eine Flasche aus ihrem Rucksack. »Schnaps?«

Charlotte lächelte wissend und nickte. »Warum lächeln Sie so eigentümlich?«, wollte Stina wissen. »Zum einen heißt es bei uns nicht einfach Schnaps, sondern Likörchen. Zumindest bei meinen Freundinnen und mir. Und zum anderen, wisst ihr um diesen Wald und das dazugehörige Gut? Hier gibt es jede Menge alte Schauergeschichten, die immer wieder gern erzählt werden.« Sie hielt inne. Tilda stellte ein kleines Glas vor Charlotte auf den Tisch und goss ihr von dem klaren Schnaps ein. »Oh, sehr interessant. Erzählen Sie.«

Die Künstlerin winkte ab und leerte ihr Glas. »Da gibt es die Geschichte der weißen Frau, die sich die Leute hier seit Jahrhunderten erzählen und die einem noch heute eine Gänsehaut über den Rücken laufen lässt. Sie handelt von einer jungen Frau, die im Kindsbett verstorben ist und noch heute als Geist ihr Kind auf dem Hof sucht. Immer wenn dort ein Kind geboren wurde, hat man alle Spiegel im Haus verhängt. Es hieß, man sollte nachts immer ein Licht im Haus brennen lassen, damit die weiße Frau das Kind nicht holt. Gesehen hat sie allerdings noch niemand. In den 50er Jahren ist dort sogar mal ein Kind im Teich vom Staberhof ertrunken. Aber ich denke, ihr sollt ein paar schöne Tage erleben und dürft euch die Laune nicht von Spukgeschichten vermiesen lassen.« Sie schüttelte ihre graue Mähne die, seit sie die Mütze vom Kopf genommen hatte, statisch aufgeladen um das Gesicht herum stand. »Wie – Spukgeschichten?«, fragte Tilda und klatschte begeistert in die Hände. »Dass dich das interessiert, hätte ich mir ja denken können«, griente Lotta. Charlotte Hagedorn betrachtete die schlanke, hoch gewachsene Studentin, deren Gesichtsfarbe selbst einer Geistererscheinung glich. »So, wie du daherkommst, könntest du die Rolle der Weißen Frau vom Staberhof sofort übernehmen.«

Die Künstlerin erhob sich. »Ein andermal. Ich muss wirklich los.« Sie klopfte sich auf die Oberschenkel. »Es wird dämmerig. Ist ziemlich früh dunkel und ich habe einen langen Heimweg. Wir sehen uns bestimmt noch einmal. Dann können wir darüber ausgiebig plaudern und dir kann ich einige Tipps für gute Fotos geben. Ich weiß ja jetzt, wo ihr untergekommen seid. Wie lange bleibt ihr?«

»Eine ganze Woche!«

»Na, dann ist jede Menge Zeit für Geistergeschichten!«

Kapitel 5


Der dunkelhaarige Marcel Andresen stand an den Tresen gelehnt, leerte sein Whiskyglas in einem Zug und stellte es zurück auf die Theke. Seine Freunde drängten sich angeheitert um die Bar und vernichteten eine Runde nach der anderen. Sie nannten es After-Work-Party, er wusste, dass sie sich hier mit Frauen für die Nacht verabredeten. Es war ein Spiel. Er steckte eine Hand in die Hosentasche seines teuren Designeranzugs und zog das Handy heraus. Ein kurzer Blick … keine Antwort. Seine Gesichtszüge verhärteten sich. Die Wangenknochen traten hart hervor und seine Haut wirkte bleich. Mit zusammengekniffenen Augen und stechendem Blick beobachtete er die Frauen, die zu laut lachten und um die Männertraube herumstanden, als hätten sie es mit Stars zu tun. Marcel sah sich als Tier in einem Wolfsrudel. Nur, dass er sich heute nicht am Fang der Beute beteiligen wollte.

Frankfurt war das ideale Pflaster für Startupper. Männer und Frauen, die über Geld und Macht verfügten. Sie nahmen sich, was sie wollten. Vorrangig die Wölfe unter ihnen.

Marcel stand als Zuschauer abseits der Horde. Er sah auf seine schwarze Uhr am Handgelenk. Ihn nervte dieser Abend gewaltig. Er wollte nach Hause, aber aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht aufraffen. Marcel wollte nicht in die Wohnung, in der ihn alles an Stina erinnerte. Auf einmal richtete er sich auf. Dass mir das nicht früher eingefallen ist, dachte er, stieß sich vom Tresen ab und verließ, ohne dass jemand es bemerkte, die Kneipe.

Der Unternehmer schlug den Kragen seines Mantels hoch und stiefelte in eleganten Lederschuhen durch den Regen zum Parkplatz. Er drückte auf den Schlüssel in seiner Hand und stieg in den schwarzen Porsche. Jetzt wusste er, was er zu tun hatte. Er würde zu Stinas Wohnung fahren und sie zur Rede stellen. Wie kann sie es wagen, meine Anrufe zu ignorieren, wütete er innerlich. Mit starrem Blick drückte er den Schlüssel in seiner Hand, stieg ein und zog die Tür so heftig zu, dass es knallte. Marcel startete den Motor und verließ mit durchdrehenden Reifen das Gelände.

Eine halbe Stunde später hielt er vor dem Haus, in dem seine Verlobte ihr Appartement hatte. Stina wohnte dort seit zwei Jahren und war nicht dazu zu bewegen, bei ihm einzuziehen. Sie wollte zuerst in Ruhe ihr Studium abschließen. Auf eigenen Beinen stehen, hatte sie gesagt. Marcel lächelte verächtlich, als er den Altbau hinauf sah. Es brannte kein Licht in ihrer Wohnung.

Auf der anderen Seite hatte ihre Weigerung ihm neue Möglichkeiten aufgezeigt. So konnte er, wann immer er Lust hatte, willige Frauen in sein Bett holen. Er liebte es, sie zu benutzen, hart mit ihnen umzugehen, und nicht selten verließen die unbedarften Mädchen weinend seine Wohnung. Ihm war es egal. Sie waren austauschbar. So konnte er Neigungen nachgehen, von denen niemand etwas ahnte, Stina schon gar nicht. Sie hatte damit nichts zu tun, und so sollte es bleiben. Sie war sein unschuldiger Engel, die Mutter seiner zukünftigen Kinder. Marcel presste die Zähne aufeinander und stieg aus dem Wagen.

»Scheiße. So kommst du mir nicht davon«, fluchte er und trat in den Hauseingang. Marcel klingelte mehrmals bei Stina, bis er sich sicher war, dass sie nicht zu Hause war. Dann kam ihm der Gedanke an die Nachbarin und er drückte auf deren Klingel. Der Türsummer brummte, und er eilte die wenigen Stufen hinauf. »Ach, Marcel, du bist es«, murmelte die sportliche Mittzwanzigerin nicht erfreut. Er sah, wie sie mit der Hand durch ihre kurzen dunklen Haare fuhr. Eilig zog sie ihr Höschen zurecht und hielt die Arme verschränkt vor ihre Brüste, über denen sie nur ein durchsichtiges Trägerhemd trug. Sie schien geradewegs aus dem Bett zu kommen. »Dass du dich hier überhaupt noch her traust!« Die Frau funkelte ihn böse an und wollte die Tür zuschlagen. Marcel stellte den Fuß dazwischen. »Wo ist sie? Ich muss sie sprechen. Ist sie hier?« Er sah sie durch verengte Augen an und wurde noch blasser. Die Frau, die halbnackt vor ihm stand, fühlte sich plötzlich unwohl. »Ich werde dir ganz sicher nicht erzählen, wo sie hingefahren sind.« Sie hielt inne und wurde sich augenblicklich ihrer Worte bewusst. Sie wurde rot und biss sich auf die Lippen. Marcel sah sie entgeistert an und schnaubte gefährlich. »Wer ist der Kerl? Rede!«, schrie er so laut, dass Speichel in ihre Richtung spritzte. Mit Wucht stieß er die Tür auf und drängte Hanna Westphal in den Flur ihrer Wohnung. Mit einem derartigen Angriff hatte sie nicht gerechnet. »He, was willst du? Ich weiß nicht, wo sie hin sind.«

»Mit wem ist sie weg? Wie heißt er?«, schrie er noch einmal. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das tue ich nicht! Wenn ich dir das erzähle, spricht sie nie wieder ein Wort mit mir.« Marcels Blick ließ sie erschrocken zusammenfahren. Schweißperlen traten auf seine Stirn. Er nahm den Arm hoch, legte seine Hand um ihren Hals und würgte sie. Hanna wollte schreien, aber ihre Stimme erstarb. »Wenn du mir nicht augenblicklich verrätst, was ich wissen will, mache ich dich kalt«, flüsterte er eisig und drückte fester zu. Die junge Frau keuchte, versuchte zu atmen und verzweifelt seine Hand von ihrem Hals zu befreien. Ihr Gesicht wurde tiefrot und ihre Augen quollen aus den Augenhöhlen hervor. »Rede!«

»Sie sind ans Meer … ans Meer, eine Insel auf Feh… Fehmarn … lass endlich los.« Marcel lockerte erstaunt den Griff. »Sie machen Urlaub in einer Hütte im Wald«, krächzte sie und versuchte mit letzter Kraft, seine Hand von ihrem Hals zu lösen. Ihr wurde schwindelig und sie hatte Angst, die Besinnung zu verlieren.

Marcel ließ los, holte aus und stieß sie gegen die Wand. »Wer ist sie? Rede!«, schrie er. Sie sackte zusammen. Am Boden kauernd, hielt sie mit der Hand ihren Hals und sog gierig Luft ein. Im Rachen brannte es, als hätte jemand ätzende Flüssigkeit hineingeschüttet. »Mit ihren Freundinnen. Nur mit Freundinnen«, röchelte sie. »Wenn du mich belogen hast, komme ich zurück und … töte dich«, sagte Marcel gefühllos, sah auf sie hinunter, stieß ihr seinen Schuh mehrfach brutal in die Seite und verschwand.

Sie lag mehrere Minuten am Boden und konnte sich nicht bewegen. Schmerzen und Panik erfassten ihren Körper. Die Verletzungen lähmten sie und sie hatte Angst aufzustehen. Sie wusste, dass sie ihre Nachbarin in Gefahr gebracht hatte. Sie musste Stina warnen. Der Typ ist zu allem fähig, dachte sie verzweifelt. Mit schmerzverzerrtem Gesicht quälte sie sich hoch, bis sie auf wackeligen Beinen stand. Sie hielt sich am Türrahmen fest, hangelte sich an der Wand entlang, bis sie in der Küche war. Immer wieder griff sie mit einer Hand an ihren Hals. Sie riss ein gelbes Post-it vom Kühlschrank. Ihr Handy lag auf dem Küchentisch. Sie schleppte sich hin und ließ sich ächzend auf einen Stuhl fallen. Schwer atmend griff sie nach dem Telefon und wählte mit zittrigen Fingern die Nummer, die Stina auf dem Zettel notiert hatte, bevor sie losgefahren war. »Für alle Fälle«, hatte sie gesagt. Hanna wartete. »Dieser Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar … dieser Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar …«

*

Charlotte huschte durchs Wohnzimmer und strich mit dem Finger über den Sockel der Vitrine. »Heiland Mailand. Ich glaube, ich muss mal wieder sauber machen, ist schon eine Weile her.« Sie betrachtete ihre Fingerkuppe und pustete den darauf liegenden Staub herunter. Katrin sah von ihrem Buch auf und blickte ihre Tante fragend an. »Na, dann hast du ja jetzt jede Menge Zeit. Im Januar sind keine Veranstaltungen, die du sprengen könntest, und auch sonst ist es mehr als ruhig auf der Insel, oder?«

»Was soll das heißen?«, sagte Charlotte und stopfte eine Haarsträhne zurück in ihren Zopf. »Ich sprenge schon mal gar nichts, und du könntest mir ja vielleicht beim Saubermachen behilflich sein. Was hältst du davon?«

»Ehrlich gesagt, nichts! Man sieht den Staub doch gar nicht. Es ist dunkel! Ich möchte sehr gern noch einen Moment weiterlesen und später nach Oldenburg fahren. Ich will mich mit Dirk treffen. Wir haben uns seit zwei Wochen nicht mehr gesehen. Ich habe wirklich Sehnsucht nach ihm«, flüsterte sie und schniefte. Charlotte sah Katrin an und erkannte Traurigkeit in ihren Augen. »Weinst du?«

»Nein, ich glaube, mich hat eine Erkältung erwischt. Ich muss mal wieder Ingwertee trinken.«

»Hast du von diesem Virus gehört? Nele hat mir davon erzählt, dass in einer Stadt in China Fälle von schwerer Lungenentzündung aufgetreten sind. Da sind sogar schon Menschen gestorben. Stell dir das mal hier vor«, sagte Charlotte und schüttelte den Kopf.

»Das will ich mir gar nicht vorstellen. Außerdem ist das weit weg«, entgegnete ihre Nichte. »Ich will jetzt auch los.« Katrin legte ihr Buch aus der Hand.

»Hm, hast recht. Ist weit weg. Wuhan, ich weiß nicht mal, wo das ist. Dann hole ich mir mal mein Putzzeug, und du gehst kuscheln«. Ihre Nichte schüttelte den Kopf. »Anstatt sich beim Putzen zu verausgaben, solltest du dich lieber ausruhen. Du siehst irgendwie blass aus, Tantchen. Mach mal halblang.«

Charlotte Hagedorn fühlte sich tatsächlich seit Tagen schlapp. Sie empfand keinerlei Antrieb. Deshalb hatte sie sich aufs Fahrrad geschwungen, um an die frische Luft zu kommen, und war zum Leuchtturm Staberhuk gefahren. Die kühle Brise tat ihr gut und das Zusammentreffen mit den jungen Frauen hatte ihr wieder frischen Auftrieb gegeben. Das ist der Winterblues, dachte sie und machte sich auf den Weg, um ihren Putzeimer aus dem Schrank zu holen.

*

Am gleichen Abend hatte sich das Innere der Hütte in wohlige Atmosphäre verwandelt. Im Ofen knisterte ein behagliches Feuer, und die Stimmung war gelöst. »Wollen wir zusammen kochen? Ich habe einen Bärenhunger«, fragte Stina. »Na, das ist ja mal eine Ansage«, erwiderte Lotta und sprang vom Sofa. Sie hatte sich in eines ihrer mitgebrachten Bücher vertieft. »Jeder macht, was er am besten kann. Ich setze Wasser für Spaghetti auf.«

»Ja, und ich mache die Tomatensoße. Jemand etwas dagegen?« Tilda sah beide unbeeindruckt an. »Und ich sorge dann mal für die Getränke.«

»Nein, du kannst Zwiebeln und Speck würfeln und braten.«

»Jaja, damit meine Tränen fließen, wenn ich diese runden Titanen besiege«, sprach Tilda mit weinerlicher Stimme, hielt eine Zwiebel in ihren Händen und streckte sie zur Decke. »Aber sie werden mitnichten in Edelsteine verwandelt. Das werden die Götter nicht zulassen. Es werden keine Freudentränen sein.«

»Oh Mann, unsere Philosophin«, lachte Lotta. »Okay, dann brauche ich auf jeden Fall einen anständigen Küchenwein. Wer ist dabei?«, grunzte Tilda. Die Frauen nickten. Die Studentin zog eine Rotweinflasche aus ihrem Rucksack und öffnete sie. Sie setzte die Flasche an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck. Grinsend stellte sie sie auf den Tisch. »Aber sonst geht’s noch, oder?«, entgegnete Lotta und sah sie fragend an. »Wir sollen doch jetzt wohl nicht alle aus dieser Flasche trinken.«

»Mann, stellt euch nicht so an. Das haben wir früher immer so gehalten, und da hat es niemanden gestört. Und wir haben mehr als eine Pulle genauso leer gemacht.« Tilda zog weitere Zutaten aus der Einkaufstasche. Sie suchte nach einem Brett und fing an, Speck und Zwiebeln mit einem scharfen Küchenmesser zu zerhacken. »Sei nicht beleidigt. Ist alles gut. Und lass den Speck, der ist schon tot«, griente Lotta und griff nach der Rotweinflasche. Sie nahm einen tiefen Schluck, bis sie prustete, weil Tilda mit heraushängender Zunge die Lebensmittel bearbeitete. Sie hielt Stina die Flasche entgegen, die es ihr gleichtat. Und auf einmal gackerten alle drei, bis Lotta zusammenfuhr und ihren Blick abwandte. »Habt ihr das auch gesehen?«, wollte sie wissen und rieb sich die Hände. »Was?«, fragte Stina verunsichert. »Ne, ich dachte, ich hätte einen …« Sie schüttelte den Kopf und lenkte das Gespräch wieder auf das Essen.

Die Frauen alberten herum, bis die Spaghetti in einer großen Emailleschüssel mit Tildas Speck-Zwiebel Gemetzel dampfend auf dem Tisch standen. Die zweite Flasche Wein wurde geköpft, und Stinas Liebeskummer schien für den Moment vergessen. »Nun sagt mal, wir haben es doch hier nett getroffen, oder?«, wollte Lotta wissen. »Ja, du hast recht. Diese Abgeschiedenheit lässt uns entschleunigen. Mir tut das nach den Gesprächen mit unserem Professor wirklich gut.«

»Ja, du bist doch bald fertig mit deinem Studium. Und hast du schon einen Praktikumsplatz?«, wollte Stina wissen. »Ich werde aller Wahrscheinlichkeit nach in den Journalismus gehen. Das interessiert mich am meisten. Da kann ich mich entfalten! Praktikum? Darum kümmere ich mich, wenn wir wieder zu Hause sind.«

»Was hast du da hinten eigentlich für ein Buch liegen?«, fragte Lotta und deutete auf die interessant anmutende Lektüre, die auf dem kleinen Tisch neben dem Sessel lag.

»Das ist von Kant Kritik der reinen Vernunft. Ich lese es gerade zum dritten Mal«, erklärte Tilda und sprach weiter, »das ist eines der weltweit meistbeachteten Werke der Philosophie.«

»Und worum geht es?«, wollte Stina wissen. »Kant widmet sich darin einer philosophischen Schlüsselfrage: Was kann ich wissen? Oder anders ausgedrückt: Kann es Urteile unabhängig von Erfahrung geben? Ist sehr aufschlussreich. Sollte jeder gelesen haben.«

»Aber im täglichen Leben hilft es mir nicht unbedingt«, murmelte Lotta. »Mein Fokus ist auf die Pflege und Betreuung kranker Menschen gerichtet und auf die tägliche Unterstützung der Ärzte. Der Wille, zu helfen und Leben zu retten, ist in meinen Augen reine Philosophie.«

»Was habe ich es als Sportstudentin doch leicht«, seufzte Stina und drehte eine Haarsträhne zwischen den Fingern. »Na ja, als leicht würde ich es nicht bezeichnen, den ganzen Tag Kindern Sportunterricht zu geben. Das erfordert absolute Disziplin. Ich möchte in der heutigen Zeit kein Lehrer sein. Du bekommst nicht unbedingt einen leichten Beruf«, entgegnete Lotta und ließ ihre Gabel sinken. »Na ja, die erste Hürde ist wohl, dass man Freude am Umgang mit Kindern und Jugendlichen haben sollte. Und das ist für mich schon ein riesiger Motivator. Ich liebe Kinder. Ich denke, ich habe genügend Durchsetzungskraft, Geduld und ein sicheres Auftreten. Das braucht man, wenn man auf Lehramt im Sport studiert. Und sportmotorische Vorkenntnisse habe ich auf jeden Fall durch meine eigenen Sportarten. Ich weiß, das ist für mich genau der richtige Beruf … meine Berufung, um es zum Abschluss auch philosophisch auszudrücken.«

»Ich kann nicht mehr.« Tilda folgte ihr und legte ihr Besteck aus der Hand. »Ich bin so satt, ich mag kein Blatt.

Und genau aus diesem Grund lasst uns endlich ankommen, alles Berufliche loslassen und … Party machen. Deshalb sind wir doch hier, oder?« Tilda zog die Schublade auf, nahm ihr Handy heraus, obwohl Lotta gerade Zweifel anmelden wollte, und legte es mitten auf den Esstisch. Sie hatte ihre Playlist angestellt, weil sie wusste, dass sie kein Netz in diesem Wald empfangen konnten, und erhöhte die Lautstärke. Übermütig schob sie den Stuhl beiseite und rief: »Los, Mädels, jetzt wird sich vom Alltag losgelöst. Kommt schon.« Sie zog Stina hoch und forderte Lotta mit eindeutiger Geste auf, sich ebenfalls zu erheben. Tilda zuckte und sprang im Rhythmus der Musik. Sie schüttelte ihre Haare und wirbelte wie im Rausch durch die Hütte. Stina lachte und fing an, im Takt durch den Raum zu tänzeln. Sie griff Lottas Hände, und am Ende sprangen die drei Frauen, wie Hexen ums Feuer, durch das Zimmer. Der Partymix, den sie heruntergeladen hatte, brachte die Freundinnen von ihren negativen Gedanken ab. Vor der Hütte war es dunkel. Ein Reh, das unweit der Holzhütte nach Nahrung suchte, verharrte still und beobachtete das Treiben in der Hütte mit aufgestellten Ohren und starrem Blick aus dem sicheren Versteck.

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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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422 стр. 37 иллюстраций
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9783839267608
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